Zwischen Technik & Emotion

Seit fast zwei Jahrzehnten ist Benoît Gouez Chef de Cave von Moët & Chandon. Der Fokus liegt für ihn auf Brut Impérial – erst muss die Basis passen, der Grand Vintage Champagner ist dann die Kür.

Foto von Moët & Chandon
Text von Christina Fieber
Benoît Gouez

Sie ist so etwas wie das Urbild von Champagner – die dunkelgrüne Flasche mit ­goldener Banderole, schwarzer Schleife und ­rotem Siegel samt Kaiserkrone: der Brut ­Impérial von Moët & Chandon, dem wohl weltweit bekanntesten Champagnerhaus. Vor mehr als 150 Jahren als Hommage an Napoleon Bonaparte erschaffen, der ein Freund des Hauses war. Glaubt man den Erzählungen, feierte der Kaiser der Franzosen jede gewonnene Schlacht mit einigen Flaschen Moët, die er offenbar bei seinen Feldzügen stets im Gepäck hatte.

Der Brut Impérial als einer der ersten trockenen Champagner kam einer sensorischen Sensation gleich. Davor wurden die edlen Schaumweine traditionell zum Dessert getrunken und schmeckten dramatisch süß. Eine Dosage von 100 Gramm und mehr galt als die Norm. Heute hat der Brut Impérial gerade einmal sieben Gramm. Der Signature Champagner des Hauses gilt inzwischen als der Inbegriff von Schaumwein schlechthin. Bekannt selbst bei Nicht-Champagner-Liebhabern – wohl auch wegen der obligatorischen Champagner-Dusche nach Formel-1-Autorennen. Über Jahrzehnte versprühte der Sieger den schäumenden Inhalt einer Großflasche Moët Impérial vom Podest großzügig in die jubelnde Menge.

Ein Bild der Verschwendung, das Benoît Gouez, dem Kellermeister von Moët & Chandon, vermutlich heute noch Höllenqualen bereitet. Das Image des Brut Impérial als Sprudel ausschließlich für Sieger passt auch nicht in seine Vorstellung von dem Flaggschiff des Hauses. Impérial stehe für unkomplizierten Genuss, für den es keinen besonderen Anlass brauche – ein Champagner für jeden in jedem Moment. Seit fast einem Vierteljahrhundert ist Benoît Gouez im Haus, 2005 wurde er Chef de Cave – mit gerade einmal 35 Jahren. Eine ungewöhnliche Karriere, wie er selbst befindet, sei er doch so ganz und gar nicht prädestiniert dafür gewesen, Kellermeister einer renommierten Champagner-Maison zu werden. Er kommt weder aus einer Winzerfamilie noch aus der Champagne und auch aus keiner anderen Weinanbauregion. Der gebürtige Bretone wuchs in der Normandie auf, wo gerade einmal Äpfel zu Alkohol vergoren werden. Nach der Schule begann er eine Agronomie-Ausbildung in Montpellier.

„Die Welt des Weins interessierte mich bis zu diesem Zeitpunkt nicht sonderlich“, erzählt er freimütig, „ich war ein reiner Wissenschafter“, erst im Laufe des Studiums habe er entdeckt, dass das Spezialgebiet der Universität Montpellier Weinbau und Önologie sei – er fing Feuer und sattelte um. Eine Reihe Zufälle und glückliche Umstände haben ihn dann nach Jahren in Kalifornien, Australien und Neuseeland zurück nach Frankreich, nach Épernay zu Moët gebracht. Entgegen seiner Pläne freilich: „In zwei Weinregionen wollte ich nie als Önologe arbeiten“, erinnert er sich, in Bordeaux, weil dort, so dachte er, eine Art geschlossene Gesellschaft herrsche, und in der Champagne. Allein die Vorstellung, für ein Haus Jahr für Jahr den gleichen Schaumwein produzieren zu müssen, langweilte ihn damals. „Was für ein Irrtum!“, sagt er und lacht.

Heute sei die Champagne für ihn eine der spannendsten Weinregionen. Die Kombination aus technischem Können, Wissen und Sensitivität, die es brauche, um guten Champagner zu kreieren, fasziniert ihn bis heute. Die außergewöhnliche Karriere von Benoît Gouez entspricht ganz seinem Naturell. Er ist ein unkonventioneller Charakter, jemand, der die Dinge gerne beim Namen nennt und nicht lang ­herumredet. Vorgekaute Marketing-Narrative sind seine Sache nicht. Gerade deswegen vermittelt er so etwas wie Authentizität. Ein Mann von Welt mit perfektem Englisch, wenngleich mit französischem Akzent – was selbst spröden weintechnischen Ausführungen einen Schuss Charme verleiht. Auch optisch besitzt er Statur: groß gewachsen, kräftig, mit markanter Nase, schmalen Augen und neugierigem Blick, grau meliertem, gewelltem Haar und einem lässig nachlässigen Dreitagebart. Die Ähnlichkeit mit Richard Gere ist nicht zu übersehen.

Ganz offensichtlich genießt er es, mit fein dosierten provokanten ­Äußerungen, die wohl nicht im Protokoll stehen, zu überraschen. ­Einem Fachmagazin gesteht er schon mal, dass er kein Freund von Verkostungsnotizen sei, glaube er doch nicht, dass man das Momentum und die Emotion eines Weins in Worte übersetzen könne. Auch auf die gern gestellte Frage, wie er denn mit der fast 300 Jahre alten Geschichte von Moët & Chandon umgehe, antwortet er knackig: „Ich bin kein Traditionalist!“ Tradition sei ein Begriff, der häufig missbräuchlich verwendet werde, erläutert er dann noch. „Nur das zu tun, was immer getan wurde, ist nicht Tradition, sondern Folklore.“

Alles ändere sich ständig, so auch das geschichtsträchtige Champagnerhaus. Nicht zuletzt durch die Klimaerwärmung sei man gezwungen zu reagieren, und das mache man auch im Haus: früher lesen, nachhaltig wirtschaften, neuerdings zumindest in den eigenen Weingärten keine Herbizide mehr verwenden. Aus dem pragmatischen Grund, das besondere Terroir der bekannten Schaumweinregion zu erhalten: „Was die Champagne so einzigartig macht, sind nicht unsere Rebsorten oder die Art, wie wir pressen oder fermentieren, auch nicht die Assemblage oder die lange Reifung auf der Hefe“, sagt er, „es sind der Boden und das Klima, die es so nirgendwo anders gibt!“

Seine Rolle dabei sieht er als Wächter und Guide. Wohl ­keine Petitesse bei einem Imperium wie Moët & Chandon. Ein Reich der Superlative: rund 4.000 Hektar Rebflächen, ­davon etwa 1.180 Hektar in eigenem Besitz, der Rest gehört Vertragswinzern, die wahlweise Trauben, Most oder fertigen Wein liefern, aus Hunderten verschiedenen Dörfern, sprich Crus, die in der Champagne gleichgesetzt werden; eine Auswahl aus fast allen Premier- und Grand-Cru-klassifizierten Lagen, die um die 3.800 Erntehelfer erfordern; der ultramoderne Keller Mont Aigu, eine Fabrikhalle mit einem Heer an Stahltanks, in der 400.000 Hektoliter verarbeitet werden können. Auch der historische Lagerkeller ist 28 Kilometer lang, ein unterirdisches Labyrinth mit unzähligen Flaschen vergangener Jahrgänge – eine Stadt unter der Stadt. Über die jährliche Flaschenproduktion hingegen schweigt man im Konzern diskret, Schätzungen von ­Experten liegen bei 30 Millionen aufwärts.

Den gigantischen Dimensionen zum Trotz, die es ermöglichen, Brut Impérial rund um den Globus zu verteilen, hat das Flaggschiff von Moët & Chandon nicht den Charakter eines industriell produzierten Schaumweins. 24 Monate liegt er auf der Hefe, bevor er degorgiert wird. Er hat Frische, Frucht, aber auch Struktur. Für Benoît Gouez liegt der Unterschied zwischen Industrie und Handwerk nicht in der Größe, sondern in der Einstellung. „Unsere primäre Aufgabe ist, Brut Impérial in konstanter Qualität zu produzieren“, erklärt er, „dann erst denken wir an den Jahrgangschampagner.“ Grand Vintage sei die Ausnahme, die nur in entsprechenden Jahren produziert werde, Impérial die Regel. Um die Ausnahme zu begreifen, müsse man erst die Regel verstehen: „Brut Impérial gleicht einer präzisen Konstruktion, ist rational, Grand Vintage ist Emotion.“

Die größte Herausforderung sei, aus ständig variierenden Umständen und Ingredienzen eine gleich bleibende Stilistik zu schaffen. Der Geschmack des Brut Impérial soll immer der gleiche bleiben. „Dafür gibt es jedoch kein Rezept, keine Formel, die wir in einem Safe horten“, weiß Benoît Gouez, „auch wenn das viele glauben.“ Jedes Jahr bringt aufgrund des jeweiligen Wetters eine andere Charakteristik von Grundweinen hervor. Um den wiedererkennbaren Stil eines Hauses überhaupt hinzukriegen, braucht es die Assemblage. Das Cuvéetieren der drei wichtigsten Rebsorten der Champagne, Pinot noir, Chardonnay und Pinot Meunier, aber auch die Cuvée von Lagen und Jahrgängen. Die Assemblage gilt als die Kunst der großen Maisons, das historische Credo der Champagne.

Dreht sich bei guten Weingütern in jeder anderen Weinbauregion alles um die individuelle Stilistik spezifischer Terroirs, strebt man in der Champagne quasi nach hauseigener Uniformität. Nur die zunehmende Zahl kleiner Winzerchampagner, die inzwischen selbst abfüllen und ihre Schaumweine als Einzellagen herausbringen, scheren von dieser Idee aus. Wesentlicher Faktor für die konstante Stilistik des jeweiligen Hauses sind aber auch die Reserveweine. In guten Jahrgängen werden Grundweine zurückgelegt, um in da­rauffolgenden Jahren darauf zurückgreifen zu können – vor allem in nicht so guten Jahren. Moët hat besonders viele Grundweine unterschiedlichster Lagen zur Verfügung. In einer Flasche Brut Impérial finden sich bis zu 80 verschiedene Crus. Die Zusammenstellung von aktuellem Jahrgang und Reserveweinen verschiedener Crus gleicht einer Komposition, die aus Noten Musik macht. Der Kellermeister ist ihr Komponist und Dirigent.

Jahrgangschampagner hingegen sei Freestyle, so Gouez. Bei Moët unterliege er nur einer einzigen Regel: Alle drei Rebsorten der Champagne müssen dabei sein. Eine Spielwiese für den Kellermeister, der auch Wert darauf legt, dass der Vintage nicht bloß eine Zusammenfassung des Jahrgangs, sondern seine persönliche Interpretation davon ist. Grand Vintage 2015 wurde heuer degorgiert und kam kürzlich auf den Markt. Die Cuvée aus 44 Prozent Pinot noir, 32 Prozent Chardonnay und 24 Prozent Meunier lag im Keller sechs Jahre auf der Hefe und noch mindestens sechs Monate nach dem Degorgieren. Mit nur fünf Gramm Dosage fällt er in die Kategorie Extra Brut. Auch das sei der Klimaerwärmung geschuldet, die Trauben reiften nicht nur früher, sondern auch besser aus. Bei der Zucker-/Altwein-Zugabe könne also gespart werden. Eine „grüne Lese“, wie in der Champagne seit jeher üblich, existiert de facto nicht mehr.

Mag sein, dass deswegen das Ergebnis trotz extremer Hitze und Trockenheit vergleichsweise finessenreich ausfällt, ausgeprägte reife Noten zwar, dennoch Frische und Saftigkeit. Der Grand Vintage weiß zeigt aber auch vielschichtige Aromen, irgendwo zwischen Pfirsich und Brioche. Packender noch ist die rosa Version: Grand Vintage Rosé 2015 ist von ähnlicher Machart, wobei der Anteil an Pinot noir ein wenig höher ausfällt. Das ist nicht nur ein rosarotes Partygetränk, sondern durchaus ernsthafter Wein: deutliche Gerbstoffstruktur, dunkle Waldbeeren in dezenter Erscheinung, dafür feine würzige Aromen. Eine extratrockene Überraschung. Benoît Gouez beherrscht offenbar nicht nur die Regel, sondern auch die Ausnahme. Fragt man ihn, was einen guten Kellermeister ausmacht, überlegt er nicht lange: „Die Kombination aus Wissen, Erfahrung, Technik und Intuition, Emotion und Kreativität.“

Für Vintage-Champagner brauche es lediglich Gespür und Kreativität, kokettiert er. Beim Non Vintage gehe es hingegen darum, nach rationalen Maßstäben ein konstantes Produkt hervorzubringen, die unzähligen Grundweine zu verkosten, einzuschätzen und möglichst präzise abzuspeichern, um sie dann perfekt zu kombinieren. Eine Fähigkeit, die man erst nach Jahren beherrsche. Als er damals 1998 zu Moët kam, habe er noch auf die falschen Pferde gesetzt, bevorzugte die offenen, ausdrucksstarken Grundweine: „Ein Anfängerfehler“, gesteht er, „Grundweine für Champagner müssen noch verschlossen sein, aber Potenzial zeigen.“ Die wichtigste Fähigkeit eines Kellermeisters in der Champagne sei jedoch, das Wesen dieses Schaumweins zu verstehen. Champagner gehöre nicht nur zur DNA der Franzosen, die Art, wie er Menschen zusammenführt, ihnen Freude schenkt, sei Teil der Kultur weltweit. —

Etwa 3.800 Helfer braucht es für die Ernte der Grundweine in den Weingärten von Moët & Chandon.
Der historische Lagerkeller liegt unter der Stadt Épernay – ein 28 Kilometer langes ­Labyrinth, voll gefüllt mit den besten Jahrgängen.
Moët & Chandon Grand Vintage 2015