Am Schmelz-punkt
Auf der Suche nach dem idealen Pršut. Erkundungen an der Kvarner Bucht, in Istrien und auf dem Karst.
Den ersten Pršut, der so gut war, dass es mir die Nackenhaare aufstellte, bekam ich in der Konoba Tu Tamo in der istrischen Gemeinde Mošcnice enice. Dorthin fuhr ich an einem verregneten Sonntag nach Einbruch der Dunkelheit, was einerseits eine ziemlich bescheuerte Idee war, weil Moš c enice im Allgemeinen und die Terrasse der Konoba Tu Tamo im Speziellen grandiose Aussichtspunkte auf die Kvarner Bucht sind, Vorzüge, die bei Regen im Allgemeinen und bei Dunkelheit im Speziellen weniger zur Geltung kommen.
Andererseits bekam ich als einziger Gast die ungeteilte Aufmerksamkeit des Gastgebers, was sich als äußerst positiv erwies. Auf die frische Goldbrasse,
die er als Hauptgericht servierte, könnte ich ohne Weiteres ein Loblied in drei Strophen singen, aber das ist hier nicht das Thema. Gefragt ist der Schinken, der eingespannt in eine dafür konstruierte Zwinge und zugedeckt mit Folie und einem Leinentuch im Gastzimmer stand. Davon säbelte mir der Gastgeber persönlich mit einem dünnen scharfen Messer einige Stücke ab.
Für einen mit der Hand geschnittenen Rohschinken waren die Scheiben dünn. Im Vergleich zu den italienischen Schinkenseiten, die mit der Maschine – es muss gar nicht immer die kleinwagengroße Berkel sein – aufgeschnitten werden, wirkten die Stücke rustikal.
Die Farbe des Schinkens war von tiefem Rot, durchzogen von den Marmoradern des Schweinefetts. Aber vor allem seine Konsistenz war verblüffend: Der Pršut hatte einen fabelhaften Schmelz, die Stücke wirkten, als könne man sie in den Mund stecken und auf der Zunge zergehen lassen, und ein bisschen habe ich das auch so in Erinnerung: Schinken betrachten, mit den Fingern in Stücke der richtigen Größe teilen, den Duft einatmen, die Augen schließen und das Fleisch in den Mund stecken, wo sich dann für die nächsten 20 Sekunden das Zentrum der Wahrnehmung befindet.
Salz. Sich verändernde Aromen. Ideen von Macchia und Lorbeer. Schmelz.
Natürlich fragte ich nach, wo dieser Schinken gemacht worden sei.
Antwort: In der Nähe.
Frage: Geht es genauer?
Aus einem Dorf in den Bergen.
Ob ich den Namen des Bauern erfahren dürfe und seine Adresse?
Weißt du, es gibt so wenig guten Schinken.
Ich holte mir also eine Abfuhr, weil der Konobist keine Lust darauf hatte, dass ein dahergelaufener Kontinentaleuropäer sein Fahrzeug mit einer Delikatesse des gesegneten Landes Istrien belädt und es auf diese Weise den Bewohnern des Landes entzieht. Ich durchblickte die Strategie: Pršut wird nur Stück für Stück herausgegeben, niemals als ganze Keule – jedenfalls wenn wir von der Qualität sprechen, die ich gerade beschrieben habe.
Pršut ist, wie man dem Namen unschwer entnehmen kann, ein enger Verwandter des ungleich bekannteren Prosciutto. Der Name bezeichnet grosso modo den luftgetrockneten Rohschinken, der auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien hergestellt wird. Es gibt Pršut aus Dalmatien, Dalmatinski pršut, Pršut aus Montenegro, Njeguški pršut, serbischen Pršut, Užiˇcki pršut, Pršut aus Istrien, Istarski pršut, und wenn man sich die Teilnehmerliste der Pršut-Messe in Tinjan, einem hoch gelegenen Dorf in Zentralistrien, anschaut, dann sieht man, dass praktisch jede Region in den Ländern an der Adria ihre eigenen luftgetrockneten Schinken produziert – die sie, fair enough, zwangsläufig für die besten halten.
Der Bedarf an Pršut ist hoch. So hoch, dass sich diverse Konsortien dazu entschlossen haben, ihre Schinken mit Herkunftsbezeichnungen zu versehen, die eine Kontrolle der Schweinezucht und -verarbeitung implizieren, dabei aber oft dieselben zweifelhaften Umwege gehen wie die Speckhersteller in Süd- oder Nordtirol. Meistens verlangt das Gütesiegel nicht mehr, als dass die Verarbeitung des Schweins in der jeweiligen Region erfolgt. Man kann also davon ausgehen, dass viele dalmatinische oder sonstige Rohschinken eine Vergangenheit in den riesigen Schweinefarmen Hollands oder Dänemarks haben, von wo sie genauso ihren Weg in die lokale Folklore angetreten haben wie die meisten Sorten Tiroler Speck.
Wenn der istrische Pršut, den ich gekostet habe, allerdings auf die traditionelle bäuerliche Art gemacht wird, dann hatten die Schweine, zu deren Schicksal der Istarski pršut wurde, „rote Füße“, wie es der Kulinarikschriftsteller und Koch Gerd Sievers in einer Reportage schreibt. Das Bild beschwört die Bewegungsfreiheit der Tiere in der freien Natur herauf. Wer Istrien kennt, hat auch die rote Erde nicht vergessen, aus der alles entspringt, Landwirtschaft, Viehzucht, Wein. Die Hitze und die unterschiedlichen Mikroklimata bringen einen hohen Anteil an mediterranen Kräutern und Hartlaubgewächsen hervor, vom Wilden Spargel bis zu Salbei- und Rosmarinarten, Lavendel, Thymian, Minze.
Die Schweine, die für den Pršut infrage kommen, sind im Idealfall Freigänger. Sie ernähren sich zusätzlich zu ihrem Futter von den aromatischen Gewächsen, ein Vorzug, den die pointiertesten Auskenner am Geschmack des Fleisches zu erkennen glauben (wie Sie ein paar Absätze weiter oben sicher schon bemerkt haben).
Ich halte eine andere Spezifikation für mindestens so wichtig. Für die Schinkenproduktion werden keine fetten Zuchtsauen verwendet, sondern eher athletische Tiere, die kleiner und schlanker sind. Auch das Alter der Schweine macht einen Unterschied. Zuchtschweine werden sechs Monate lang turbomäßig gemästet, bevor sie auf die Schlachtbank müssen, während Schinkenschweine 18 Monate Zeit bekommen, um einen für die Weiterverarbeitung idealen Muskelapparat ausbilden zu können.
Die Verwandlung von Schweinekeulen in Schinken beginnt unmittelbar nach der Schlachtung. Die Teile werden vom Rumpf gelöst und formatiert, anschließend sofort mit Meersalz eingesalzen und mit Pfeffer eingerieben. Besonderes Augenmerk legen die istrischen Schinkenmacher auf die Behandlung der offenen Schnittflächen. Anders als etwa die Produzenten in San Daniele bestreichen sie diese mit einer Mischung aus Schweineschmalz, Mehl und Gewürzen, deren Rezept in etwa so geheim gehalten wird wie das ihrer Dosage von französischen Champagnerhäusern.
Jetzt schlägt die Stunde der am meisten gepriesenen Zutat des istrischen Schinkens: die Bora. Das ist eine poetische Zutat.
Die Bora ist jener Wind, der nach Boreas heißt, dem Gott der Nordwinde, ein böiger Fallwind, der speziell zwischen Triest und der Adriaküste auftritt und oft heftige, manchmal sogar orkanartige Spitzen erreicht.
In diesem Wind, der durch die Dachböden der traditionellen Schinkenhersteller fegt, trocknen diese ihre frischen Schinken. Als gute Geschichtenerzähler geben sie auch gern Auskunft darüber, welche Geschmacksnuancen die Bora von den Bergen mitbringt, den Kalk, die Frische, den Saft. Tatsache ist, dass die Trocknung der traditionellen istrischen Schinken vorzugsweise im Herbst und Winter erfolgt, wenn die Bora am besten in Form ist.
Sobald der Schinken durchgetrocknet ist, wird er bei privaten Herstellern vorzugsweise in den Weinkeller gehängt, wo er neben den Fässern mit Vitovska und Malvazija seinen Reifeprozess durchläuft, der bis zu drei Jahre dauern kann. Natürlich schwingt auch da ein bisschen Folklore mit, und die meisten Herrschaften, die im Herbst mehr als ein Schwein schlachten, haben längst temperierte Reiferäume eingerichtet.
Ich machte mich auf den Weg über das istrische Festland. Fuhr über Vozilici und Gracišce nach Tinjan, das als Hauptstadt des istrischen Schinkens gilt. Dort ließ ich mir bei Antolovi´c und Radeti´c, professionellen Betrieben von einiger Größe, Stücke von Keulen säbeln, kostete, nickte, kaufte ein, nahm den Weg nach Norden und reiste über Motovun, den Ort, wohin zur Trüffelzeit eine hysterische Völkerwanderung ausbricht, weiter nach Grožnjan, das pittoreske Dörfchen, das sich mit seinen Galerien und Shops einen soliden Ruf als „Künstlerdorf“ erwirtschaftet hat.
In Grožnjan durfte ich in einem hübschen Geschenkladen den legendären Pršut von Edi Duniš aus Šterna kosten, der tatsächlich einen besonders glamourösen Auftritt hatte, Sonnenuntergang, Blick aufs Meer, ein Schluck Vitovska, ein Stück Brot, Salz, Schmelz, kulinarische Poesie. Von Charles Spence und dessen grandiosem Buch Gastrophysics haben wir ja gelernt, dass die äußeren Umstände die Wahrnehmung von Essen entscheidend beeinflussen, deshalb zögere ich mit der Wertung, dass es das vielleicht beste Stück Schinken war, das ich je verzehrt habe. Aber ich bin mir sicher, dass es zu den besseren gehört hat.
Über zwei Grenzen fuhr ich weiter in den italienischen Karst, die Gegend oberhalb von Triest. Bei Lojze Wieser hatte ich gelesen, wie hier der Pršut gemacht wird, es gelten ähnliche, aber im Detail etwas abweichende Regeln. So wird im Karst der Schinken so viele Tage eingesalzen, wie der Schinken in Kilogramm schwer ist – eine Zehn-Kilo-Keule zehn Tage lang, eine 21-Kilo-Keule drei Wochen. Anschließend wird der Schinken wie in San Daniele gepresst und in seine typische abgeflachte Form gebracht. Danach, so Wieser, wird er „mit Pfeffer massiert“, bevor er „auf den Tennenboden geht“, wo er – auch und gerade hier – dem Luftzug der Bora überantwortet wird. Auch dafür gibt es eine Gewichtsarithmetik. Für jedes Kilo Fleisch muss ein Monat vergehen, bis der Schinken den Meistern anvertraut wird, die ihn dann mit ruhiger Hand seiner Bestimmung zuführen.
Angekommen im Karst, versicherte ich mich der Unterstützung des Schriftstellers Veit Heinichen, der mich an Orte brachte, die ich ohne seine Mithilfe kaum je gefunden hätte. So kam ich zu einer grandiosen Mahlzeit bei Ivana in San Pelagio, wo wir einen hinreißenden Pršut im grauen Glanz eines Olivengartens verzehrten. Der Schinken war mit einer gewissen Lässigkeit geschnitten, soll heißen: Die Scheiben waren nicht unbedingt von der elegantesten Sorte, eher so heruntergesäbelt, als ob die Chefin eigentlich etwas anderes zu tun gehabt hätte. Dem Genuss tat das keinen Abbruch, und der Malvazija, den wir dazu tranken, schlichter Hauswein, wie Ivana ihn nannte, machte große Freude. Es wunderte mich daher nicht, als ich erfuhr, dass er von den Nachbarweingärten des Weinguts von Edi Kante stammt, einem Winzer, dessen Berühmtheit weit über den Karst hinausreicht.
Im Haus von Ivana hängen an einer Wand nebeneinander die Bilder von Kaiser Franz Joseph, Papst Johannes XXIII. und einem Offizier, den ich nicht identifizieren konnte. Die wechselhafte Geschichte der letzten hundertfünfzig Jahre ist hier auf den ersten Blick lebendiger als anderswo. Im Schinken und im Weißwein finden jedoch alle Menschen zusammen.
Den nächsten Versuch unternahm ich ein paar Dörfer weiter in Colludrozza,
wo mich Veit Heinichen in die Trattoria Gustin führte. Dort gab es nach dem fabelhaften Schinken eine nicht minder großartige Pasta mit Steinpilzen,
und ich bekam schließlich, lange nachdem die Rollläden des Wirtshauses hinuntergelassen waren und wir auf der Terrasse den Rest unseres Terrano verzehrten, den Veit in weiser Voraussicht im richtigen Format bestellt hatte, eine brauchbare Adresse: die Bajta Fattoria Carsica in Sales. Dort könne ich Schinken von frei laufenden Schweinen bekommen, und wenn ich schon dort sei, möge ich doch auch die Salami und die Mortadella in Augenschein nehmen.
Diesem Hinweis ging ich aufgeregt nach. Ich kam an einen Ort, der nicht unbedingt idyllisch war, aber an der kleinen Fleischtheke ernsthaft etwas zu bieten hatte. Das Fleisch stammte ausschließlich von Schweinen mit „roten Füßen“. Auch der Karst ist hier mit roter Erde bedeckt.
Es gab Salsicce. Es gab Salami. Es gab Mortadella. Ich nickte, bis die Chefin die richtigen Gewichte abgewogen und zur Seite gelegt hatte.
Dann die Königsdisziplin.
Zwar war der Pršut, den ich probieren durfte, im Reiferaum aufgehoben worden und mit der Maschine abgeschnitten. Dafür war das Stück, das ich kostete, hauchdünn, nur eine Ahnung von Konsistenz, dafür ein ganzes Bouquet an Geschmack, Wildheit, Eleganz, Salz, eine gewisse Süße – und natürlich Schmelz. Unglaublicher Schmelz.
Ich war am Ziel.
Ich ließ mir ein ehrenhaftes Stück einpacken und entschied heimlich bereits, dass ich es auch zu Hause nicht mit dem Schinkenmesser malträtieren würde. Denn für die Fertigkeit, mit dem Messer Teile abzuschneiden, die den Charakter des Pršut optimal zur Geltung bringen, braucht man etwa zehn Jahre Übung. Sagte die Chefin und lächelte mich mitleidig an.
So lange will ich meinen Pršut aber nicht mehr reifen lassen. —