Auf eine Pizza fliegen

Nach Neapel, Stadt der Eleganz, der Camorra und der besten Pizza auf dem Erdenrund.

Auf eine Pizza fliegen

Text von Alexander Rabl Fotos: Corbis
Nach der Landung am späten Mittag treibt uns die Gier in ein Lokal an der Hauptstraße am alten Hafen. Die Pizza soll bei Antonio wirklich gut sein. Man nimmt zum Einstieg rohe Scampi mit Rucola, dann auch Spaghetti mit einer ausgezeichneten Tomatensauce, doch die Margherita erweist sich als durchschnittlich. Teig okay, Belag okay. Haben wir zu viel erwartet? Ein leicht flaues Gefühl beschleicht die Mägen. Zwei Schnäpse noch, dann tiefer Schlaf im Grand Hotel Vesuvio, das sich hervorragend eignet als Grand Hotel und sonst aber nichts. Hier wäre jetzt der Platz, sich einmal endgültig zu entschuldigen. Sagen wir also, liebe Königin Pizza Margherita – sie ist benannt nach der Königin Margherita, einer berühmten Förderin der Pizza mit Tomaten und Mozzarella (der eigentlich fior di latte war), sagen wir also: Liebe Königin, es tut uns so leid, dass wir uns dir und deiner Verwandtschaft gegenüber allerhand herausgenommen haben. Wir entschuldigen uns also für die Pizzastände, für die Auflage mit Fabriksemmentaler, für den Pizzaboten mit seinen labbrigen Kartons. Wir entschuldigen uns, dass wir dich als billiges Fastfood missbraucht haben. Wir bitten um Verzeihung dafür, dass wir es dir gegenüber, weil du eben so preiswert bist, vollkommen an Respekt fehlen ließen. Wir entschuldigen uns mithin auch für das, was unlängst im deutschen Fernsehen zu sehen war. Ein Typ, der mit einer Art Blechgrill zu Privatkunden geht und in dieser Mischung aus Toaster und Trabi die vorgefertigten Pizzas aufbäckt. Alles das tut uns wirklich leid. Das musst du uns glauben, Königin.
Mit der Pizza sind wir alle aufgewachsen und glauben jetzt, dass wir uns auskennen. Dieser Glaube kann ein Handicap sein. Zum Beispiel die Diskussion über die Dicke und Textur des Pizzateiges. (Das Modewort Textur – es findet überall Platz, jetzt auch bei der Besprechung einer banalen Pizza.) Die, die mit der Pizza aufgewachsen sind, sagen, dass der Teig außen fast hart und knusprig sein muss, während im Inneren des Erdenrundes die Pizza nicht dicker zu sein hat als wenige Millimeter. Der neapolitanische Pizzaiolo lacht über sie. Er bäckt die Pizza so, dass sie fest, aber niemals knusprig hart wird, dafür wirft der Teig am äußeren Ende Brandblasen, fast verkohlt, weil es eben im Ofen so brandheiß ist. Man kann sich vorstellen, wie die Pizza schreit, weil es so brennt, wenn sie in den Ofen geschoben wird. Wenn man sich so was vorstellen will.
Der Pizzaiolo ist ein stolzer Träger der neapolitanischen Kultur. Im "Brandi", der berühmten Pizzeria im Chiaraviertel, in der Bill Clinton einstens seine Pizza aß, zelebriert der Mann am Pizzaofen seine Kunst mit der Grazie eines Menschen, der um seine Bedeutung bestens Bescheid weiß. Wie Untertassen fliegen die Teige durch die Luft, Saucenangießen und Käsedrüberstreuen sind Handgriffe, die man schon millionenmal durchgeführt hat. Mit dem Pizzaiolo nimmt es in Neapel an Wichtigkeit höchstens noch der Schneider auf. Der Schneider sorgt für den eleganten Auftritt der Herren am Wochenende, wenn es heißt facciamo bella figura. Und er sorgt dafür, dass man den hartnäckigsten Pizzafans ihre Sünden nicht allzu unvornehm anmerkt.
Ich flaniere mittags durchs Camorraviertel. Die Spaccanapoli führt pfeilgerade von der so genannten besseren Gegend rund um die Piazza del Plebiscito mitten in die verbotene Stadt. Also flaniere ich auch nicht, sondern setze vorsichtig einen Fuß vor den anderen und das nicht nur, weil ich am Kopfsteinpflaster ausrutschen und sterben könnte. Du beobachtest sie. Sie beobachten dich. Niemand tut dir etwas. Noch tut dir niemand etwas, sagst du dir. Diebstähle gibt es in Neapel so viele oder wenige wie in allen anderen Hauptstädten. Sagen die Reiseführer und du dir vor. Eine Gemüsefrau räumt ihre Jurassic-Park-Artischocken ins Haus. Jungs werfen Knallkörper. Nach dir? Wer nicht im Hauseingang steht und dich anschaut oder dir Knallerbsen nachwirft, versammelt sich vor dem kleinen Eingang zu "Da Michele". Nummernausgabe. Man wartet gerne. Man hat Zeit. Bei "Da Michele" kostet die Margherita 3,50 Euro. Es ist wahrscheinlich die beste Pizza der Stadt. Daneben gibt es noch die Marinara (also die Cousine mit Tomaten und Knoblauch statt fior di latte). Mehr gibt es nicht. Mehr muss es auch nicht geben.
Da Michele hält seine Gäste nicht mit einer Weinkarte auf. Es gibt Bier (herrlich), Wasser und Limo. Die Margherita gibt es mit einer Extraportion Mozzarella und normal. Ich empfehle die Extraportion. Die erste Hälfte der Pizza verschlinge ich, auch aus Freude, den Knallerbsenjungs entkommen zu sein, doch dann wird mir auf einmal klar: Du isst gerade die beste Pizza deines Lebens, oder wenigstens die zweitbeste, und das wäre egal, doch diese beste Pizza ist nicht nur die beste Pizza, sondern einfach ein Naturereignis. (So rar wie der Ausbruch des Vesuvs, nur tut es weniger weh.) Perfekt die kohlrabenschwarzen Krusten auf dem Teig mit dem deutlichen Aroma der Holzkohle, drinnen ein Tomatenereignis aus den besten, süßesten Tomaten der Welt, die fast roh in ihrem Saft baden. Die zweite Hälfte esse ich also mit Andacht. Zu viel Zeit zum Andächtigsein bleibt einem aber nicht. Wir teilen den Tisch mit einer teuflisch attraktiven Immobilienmaklerin aus Mexiko und ihren zwei neapolitanischen Gespielen. Man wechselt ein paar Worte. Dann ist die Pizza zusammengegessen und die nächsten Gäste starren schon hungrig auf unsere Plätze. Mehr als maximal 30 davon hat die Hütte übrigens nicht.
Man begibt sich später noch ins "Ciro a Mergellina". Ein Ristorante alten Stils mit bemerkenswerter Innenarchitektur. Alberto, ein Freund und großer Kenner des Südens, meinte, da müsse man unbedingt hin. Die Erwähnung seines Namens bringt die extrem rührige Kellnermannschaft (Durchschnittsalter 60, weiße Haare, weiße Jacken, große Eleganz) endgültig auf unsere Seite. Etwas VIP-Behandlung kann nie schaden, wenn man als Eingereister isst inmitten von bestens disponierten Tischgesellschaften von Familien, Pärchen und Männerrunden, die sich’s laut und fröhlich wohl sein lassen. Die Margherita trieft vor Tomatenjus, Aroma und dem Fett des fior di latte. Hoher Knusperfaktor, vorschriftsmäßig applizierte Brandblasen. Ich gebe ihr den erstenkommafünften Platz in der All-Time-Pizza-Parade. Knapp hinter Michele also. Der Mann am Pizzaofen weiß, was Neapel an ihm hat. Die Freude am ewig gleichen Handwerk, man sieht sie, man spürt sie und man schmeckt sie auch.
Der Wein schmeckt auch.
Nachschlag: So wie es nicht immer Kaviar sein muss, muss es auch nicht immer Pizza sein. Man ernährt sich am Meer vorzugsweise von Fisch. Während im "Ciro" der große Reigen der italienischen Meeresfrüchteküche aufgeführt wird und sie mir wahnsinnig frische und gute fritti misti bringen und an den Nebentischen Riesenfische filetieren und ich schon beim Reingehen den Fischen im Aquarium in ihre Augen glotzte, ist doch das Mekka des Fischfressers in einer kleinen Seitengasse unweit des alten Hafens, die man abends besser nicht zu Fuß durchqueren sollte. (Sagte zumindest der Concierge im Grand Hotel Vesuvio. Er muss es wissen.) Das "Da Dora" nimmt pro Belegung nur einen Touristen auf. An den wenigen Tischen wird geschmaust, geschmatzt und geschlürft. Man wird hier keinen Branzino essen, weil es seinesgleichen nur selten in den Golf von Neapel führt. Man wird nach dem Besten des Tages fragen und hören "Local Fish". Local Fish heißt auf kampanisch irgendwie und ist erstens selten der teuerste und fast immer der beste. Der köstliche Fiano di Avellino wird an diesem Abend besonders ordentlich bestellt werden, weil der Fisch ja schließlich schwimmen will, Sie wissen schon, und weil die Sänger im Vorraum vielleicht auf ein Glas eingeladen werden wollen. Auf den Inseln, noch näher am Meer, isst man kaum so gut wie im "Da Dora". Obwohl Capri ja auch ein paar Lokale haben soll. Doch hier hört die Geschichte auf.

Adressen

Brandi
Salita Sant’Anna di Palazzo 2
Tel.: +39/081/41 69 28
www.brandi.it

Da Michele
Via Cesare Sersale 1/3
(Via P. Colletta)
Tel.: +39/081/553 92 04
www.damichele.net

Ciro a Mergellina
Via Mergellina 21
Tel.: +39/081/68 17 80
www.ciroamergellina.it

Grand Hotel Vesuvio
Via Partenope 45
Tel.: +39/081/764 00 44
www.vesuvio.it

Da Dora
Via F. Palasciano 28
Tel.: +39/081/68 05 19