Auf kleinem Fuß

Eine Erforschung Kyotos mit Kaiseki-Magie, Matcha-Zauber und dem einen oder anderen Clash of Cultures.

Text von Christian Seiler · Illustration von Markus Roost

Kyoto hat Schuhgröße 36. Das ist natürlich nur ­eine oberflächliche Schätzung, aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass meine Füße der Größe 46 sowohl vorne als auch hinten um ungefähr zwölf Zen­timeter über die Holzpantoffeln, die mir im Ryokan Genhouin vor die Tür gestellt wurden, hinausragten.

Ein Ryokan ist ein klassisches japanisches Gästehaus. Das Genhouin ist ein besonders klassisches japanisches Gästehaus. Es liegt am Rand der alten Kaiserstadt, gleich um die Ecke des berühmten „Wegs der Philosophen“, umgeben von einigen der bemerkenswertesten Tempeln und Schreinen Kyotos, wobei ich dazusagen muss, dass es in Kyoto etwa tausend bemerkenswerte Tempel und Schreine gibt.

Es bedarf einiger Erklärungen, warum ich mich in die Pantoffeln der Größe 36 gezwängt habe. Die wichtigste: Ich musste. Denn die Regeln des Aufenthalts im Ryokan sehen zum Beispiel vor, dass die Schuhe des Gastes draußen vor der Eingangstür ausgezogen werden, weil aus Gründen der spirituellen Hygiene nur die dafür vorgesehenen Holzpantoffeln namens Geta verwendet werden dürfen. Das betrifft die halböffentlichen Zonen des Ryokan, also alle Bereiche, die nicht mit Tatamimatten ausgelegt sind. Tatamiräume werden bloßfüßig oder, noch lieber, in Socken betreten, und zwar in den typisch japanischen Socken mit der abgezirkelten großen Zehe, sodass man problemlos in die flipflopartigen Bastschlapfen schlüpfen kann, die hier gern getragen werden. Sowohl Socken als auch Bastschlapfen kann man praktisch überall kaufen. Die größte verfügbare Größe ist 41. Wenn du den Verkäufer fragst, ob es die Socken auch in deiner Größe gibt, nickt er begeistert, betrachtet dich aufmerksam, verleiht seiner Begeisterung mit gutturalen Lauten – „Ooh, ooh!“ – Ausdruck und lässt dich blöd sterben, weil es natürlich keine Socken in deiner Größe gibt, nur ist der Verkäufer zu höflich, dir diese Information zuzumuten.

Jetzt besagt die Regel des Ryokan, dass du im Privatbereich keinesfalls Schuhe tragen darfst, im öffentlichen Bereich aber unbedingt Schuhe tragen musst. Eine weitere Ausnahme regelt die Benützung der Toiletten. Vor den Toiletten stehen neue Schlapfen, die ausschließlich auf der Toilette getragen werden dürfen. Keine Schuhe auf den Toiletten: schweres Foul. Noch schlimmer ist nur eines: Wenn du mit den Kloschlapfen zurück Richtung Zimmer stöckelst, weil du vergessen hast, sie wieder gegen die richtigen Schlapfen zu tauschen.

Stellt euch das Gesicht meiner Rezeptionistin ungefähr so vor, als hätte sie gerade gemerkt, dass ihr vergessen habt, euch irgendetwas anderes anzuziehen als Pantoffeln der Größe 36.

Ich halte mich so lange beim Wesen des Ryokan auf, weil der ­Umgang mit Förmlichkeiten für die Bewältigung der japanischen Gastfreundschaft von entscheidender Bedeutung ist. Allein die Vorstellung, ein Restaurant einfach zu betreten und sich umzuschauen, ob es vielleicht einen freien Tisch gibt, ist so absurd, wie mit den falschen Pantoffeln vom Klo zu kommen. Die maximale Freiheit für den Gast besteht darin, sich am Ende einer langen Schlange anzustellen, die sich vor jeder satisfaktionsfähigen Ramen-Bar bildet, und dort zu warten, bis man nach einer guten Stunde endlich an die Reihe kommt.

Die Bar war in etwa so fancy wie ihr Name: No Name Ramen Shop. Im Souterrain eines Bürohauses untergebracht, fiel helles ­Tageslicht auf die puristische Betonkonstruktion der Bar mit ihren stets besetzten acht Sitzplätzen und den im Vorraum situierten Bänken, wo die nächsten zehn Aspiranten auf einen Sitzplatz sich setzen durften. Dorthin drang man vor, nachdem man in der Schlange eine halbe, dreiviertel Stunde gewartete hatte. Hier befand sich auch der Automat, wo man seine Bestellung aufgab: Hühner- oder Schweinesuppe, extra Soba-Nudeln, das obligate weich gekochte Ei, eine extra ­Scheibe Schweinebauch. Das Geld dafür, 800 bis 1.200 Yen, also zehn, zwölf Euro, wirft man direkt in die Maschine ein. So kommen die Köche nicht in Verlegenheit, sich mit etwas so Schmutzigem wie Geld herumschlagen zu müssen. Stattdessen können sie sich darauf konzen­trieren, hinreißende Ramen in einer ebenso hinreißenden, dichten und heißen Hühnersuppe zu servieren.

Apropos Formalitäten: Diese Nudeln werden von den Locals mit beeindruckender Geschwindigkeit aus der Suppe gefischt und unter Absonderung lauter Schlürfgeräusche verzehrt. An einem mitteleuropäischen Mittagstisch der Fünfzigerjahre hätte es dafür wahrscheinlich eine links und eine rechts gesetzt, aber als ich mir das Vorgehen von einem Fachmann erläutern ließ, klang es plausibel: Die Nudeln sind nur während der ersten zwei, drei Minuten von der erwünschten festen, aber noch immer seidigen Konsistenz. Dann schmecken sie für feine japanische Gaumen verkocht, eine Einschätzung, die ich nach ein paar Portionen Ramen zu teilen begann. Es gilt also, die Nudeln so rasch wie möglich aus der Suppe zu befreien, was aber schwierig ist, weil sie extrem heiß sind. Die Nudeln müssen daher auf dem Weg von der Suppe in den Mund gekühlt werden, was nur durch den Fahrtwind schnellen Ansaugens möglich ist. Die dabei entstehenden Geräusche werden von der Gesellschaft billigend in Kauf genommen und gelten im weitesten Sinne als Billigung der dargebotenen Qualität.

Ich verliebte mich sehr schnell in Kyoto, besonders nachdem ich den Ryokan verlassen und gegen das wunderbar entspannte Hyatt ­Regency eingetauscht hatte, wo mir Mitsuko Washio ein schönes Eckzimmer zuwies. Nicht, dass mir das Gästehaus mit seinen hellhörigen Reispapierwänden und zwänglerischen Bekleidungsvorschriften nicht ­gefallen hätte. Vor allem der klassische japanische Garten mit seiner harmonischen Anlage, den gebürsteten Kieswegen und der pittoresken Pflanzenwelt, die auf spielerische Weise in Szene gesetzt wurde, versetzte mich fast in Hypnose. Aber der allgegenwärtige Duft nach Jahrgangs-Tatami und jahrzehntealtem Staub wies mich darauf hin, dass es für jeden von uns die geeignete Allergie gibt, und vertrieb mich. ­Außerdem war es zwischen der Rezeptionistin und mir nach dem Vorfall mit den Kloschlapfen eh nicht mehr so, wie es gewesen war.

In der wunderbaren Seventies-Halle des Hyatt ­Regency genoss ich den einen oder anderen Drink, der den Staub aus dem Ryokan wegspülte. Ich machte mich auf Erkundungen durch die schachbrettartig angeordnete Altstadt, spazierte den Kamo River entlang und begann zu spüren, dass Kyoto von bewaldeten Hügeln umgeben in einer Talsenke liegt, die nur nach Südwesten offen ist, Richtung Osaka, der großen ­Hafenstadt, deren Lichter man an klaren Tagen von Kyoto aus sehen kann.

Kleine traditionelle Häuser, maximal zwei Stockwerke hoch. Enge Straßen, die sich Fußgänger, Fahrradfahrer und Autofahrer mit ihren Miniaturvans ­teilen. Zahllose Menschen in Kimonos, die sich die Freiheit herausnehmen, in bunten Mänteln und dicksohligen Pantoffeln der Größe 36 durch die Stadt zu stöckeln. Zahllose interessante Handwerksbetriebe, in denen man Taschen, Papier und Schreibwaren von unbeschreiblich attraktiver Qualität besichtigen kann – idealerweise in dieser Reihenfolge, weil man so zuerst die Tasche einkauft und dann das Papier und die Schreibwaren.

Außerdem ist Kyoto ein kulinarisches Zentrum Japans. Vor allem die traditionelle Kaiseki-Küche ist tief verwurzelt, aber auch die vegetarische Tempelküche, wie man sie an ausgesuchten Orten in Perfektion bekommt. So lernte ich zum Beispiel die Freuden des Yuba, der Tofuhaut, kennen, nachdem ich an einem Sonntag gemeinsam mit hunderttausend anderen den berühmten goldenen Tempel Kinkaku-ji besucht hatte.

Der Tempelbesuch war trotz Überpopulation etwas Besonderes, weil sich die Massen geschickt auf dem großen Areal verteilten. Der Restaurantbesuch im vegetarischen Restaurant Ajiro war etwas Besonderes, weil ich in einem großen Lokal allein in einer Kammer saß. Zwar konnte ich aus anderen Kammern hören, dass es sie erstens gab und dass zweitens auch dort gut gelaunte Gäste anwesend waren. Aber ansonsten wurde ich mit dem Gemüse, das für mich vorbereitet war, alleine gelassen.

Ich hätte fast das Raclette-Eisen für den Tofu vergessen. Dabei handelt es sich um eine rechteckige Einrichtung mit Heizrippen, in die Sojamilch gegossen wird. Dann schaltet die Chefin – sie kommt mit so wenigen englischen Worten aus wie Bob Dylan mit Gitarrenakkorden – die Hitze ein, und nach einer gewissen Zeit bildet sich auf der Milch eine Haut, die in der japanischen Küche eine besondere Bedeutung hat: Yuba. Diese Haut darfst du dann mit einem kleinen Werkzeug abschöpfen und essen. Das gibt einen molligen, zarten Geschmack, der die nach­einander aufgetragenen Gemüsegerichte – es gibt alles, nur keine Zwiebelgewächse – fein konterkariert und schmückt. Weil ich in einer Klosterküche in der Nähe von Hongkong eine entsprechende Erfahrung gemacht hatte, aß ich alles auf. Nicht, weil ich so viel Hunger hatte, sondern aus Respekt vor der Köchin und dem Weltfrieden.

Als mich die Chefin das nächste Mal in meiner Einzelzelle besuchte, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen. Ich entnahm der willkürlichen, aber aufgeregten Komposition ihrer englischen Worte, dass sie mich für einen guten Esser hielt, um nicht zu sagen, für maßlos. So weit kann dich ein Übermaß an Höflichkeit bringen. Ich glaube, den Rest vom Tofu hatte die Chefin als Abendessen für ihre sechsköpfige ­Familie eingeplant.

Ein anderes vegetarisches Essen war gar nicht vegetarisch, sondern nur sehr abgelegen mitten im Wald. Ich hatte mir einen anderen Tempel angeschaut, den Nonomiya-Schrein, in dessen Garten ich mir regelrecht wünschte, ein Mönch zu sein, um hier, an diesem stillen Ort, den Wechsel der Jahres­zeiten zu verfolgen und meditierend zu begleiten. Ich scheiterte an der mangelnden Verfügbarkeit von Meditationskleidung der europäischen Größe XL.

Das Restaurant namens Shouraian konnte nur zu Fuß erreicht werden. Der Weg führte durch eine Allee aus überdimensionalem Bambus. Das hätte sehr majestätisch gewirkt, wären nicht unzählige japanische Teenies wie Pandabären durch den Forst gehüpft und ­hätten Selfies gemacht, eine Kulturtechnik, für die Pandabären einfach zu faul sind.

Von der Allee führte ein schmaler Pfad Richtung Fluss, und fast hätte ich die Abzweigung zu meinem Ziel verpasst, einem kühn in die Böschung gebauten Haus mitten im Wald, hoch über der Biegung des Flusses.

Auch hier bekam ich, nachdem ich folgsam beim Eingang die Schuhe abgegeben hatte, ein Einzelzimmer und eine Grundversorgung mit atemberaubend gutem grünen Tee und erstaunlichen Tofugerichten. Dann kam das Menü, das ich telefonisch vorbestellt hatte – soll heißen, die Concierge hatte es telefonisch vorbestellt, ich hatte nur Ja und Amen gesagt. So funktioniert die Buchung von Restauranttischen. Entweder du kümmerst dich lange im Voraus um eine Reservierung in einem der berühmten Kaiseki-Lokale, oder du übergibst die Sache der Concierge in deinem Hotel. Die dritte Möglichkeit ist natürlich die, die ich von meiner von mir bewunderten Kollegin Monica ­Glisenti gelernt habe: Du tauchst persönlich dort auf, wo du unbedingt essen möchtest, und weißt genau, ob du herrisch oder mitleiderregend auftreten musst.

So kam ich zu einem Essen im Toriyasa, dem einzigen Lokal Kyotos, wo nicht entweder an einer Bar oder im Chambre Séparée diniert wird. Es gab Suki­yaki, also Huhn in allen möglichen Spielarten, samt einer Hot-Pot-ähnlichen Suppe zum Schluss. Es war gut, aber noch besser war die Aussicht über das Flussbett mit seinen zahllosen Lichtern und Lampions, die ich von der Terrasse des Toriyasa aus betrachtete, eingehüllt in den feuchten, schwülen Kokon des japanischen Sommers, froh über den leisen Windhauch, der von den Hügeln herabschwebte und die Hitze ein bisschen erträglicher machte.

Ich besuchte die Sojasaucenfabrik Sawai Shoyu Honten in der Nähe des Kaiserpalasts. Dort ­werden Sojabohnen und Reis nach traditioneller Methode in großen Fässern fermentiert und vier verschiedene Saucen auf der Skala zwischen sehr salzig und frisch (weil mit etwas Yuzu verschnitten) hergestellt. Man lernt dort zum Beispiel, dass Kikkoman nicht der Höhepunkt der Sojasaucenentwicklung ist.

Nicht weit davon entfernt befindet sich das groß­artige Geschäft Honda Miso Honten, das ausschließlich Miso verkauft. Ich glaube, ich verbrachte einen halben Tag vor den Vitrinen, wo die verschiedenen frischen Pasten wie im Eisgeschäft ausgestellt werden. Seither haben sich ein paar neue Favoriten in meine Küche eingeschlichen, und weil es so großartig schmeckt, ­teile ich hier gleich einmal das Rezept:

Auberginen mit Miso
Den Ofen auf 200 Grad vorheizen. 2 Auberginen halbieren und ihr Inneres tief und rautenförmig einschneiden. Dann mischt man aus 2 EL heller Misopaste (Shiro Miso), 2 EL hellem Balsamico­essig, 2 EL Sojasauce und 1 EL Honig eine dicke Paste, mit der die Auberginen bestrichen werden – die Paste muss tief ins Fruchtfleisch eindringen, es lohnt sich, die ­Auberginen zu massieren wie ein Kobe-Beef, was den positiven Nebeneffekt hat, dass man sich immer wieder die Finger abschlecken muss. Anschließend werden die marinierten Teile mit der Schnittfläche nach oben in den Ofen verfrachtet und für 20 Minuten allein gelassen.
Danach nimmt man sie aus dem Ofen, bestreicht sie mit dem Rest der Paste, wenn man will, streut man auch ein paar Sesamsamen darüber, und stellt die Grillfunktion des Backofens ein. Dann schaut man zu, wie sich die Oberfläche zusehends verändert und tanzend karamellisiert, hat aber gleichzeitig im Blick, dass nichts verbrennt. Kann man mit dem sehr, sehr dünn geschnittenen Grün der Frühlingszwiebel servieren, mit etwas Chili oder, falls vorhanden, mit Bonitoflocken:
Die werden auf die heißen Auberginen gestreut, und wie sie tanzen!

Überhaupt fiel mir, je länger ich durch Kyoto streifte, immer mehr die Ausschließlichkeit auf, mit der hier Kulinarik gedacht, praktiziert und gelebt wird. Die japanische Kulinarik wird von Spezia­listen gemacht. Generalisten haben einen schweren Stand. Niemand ­würde in einer Sushibar ein Tonkatsu-Schnitzel bestellen oder in einem Ton­katsu-Restaurant irgendetwas anderes als ein paniertes Schweinsschnitzel. Ein Misogeschäft verkauft Miso und nicht auch noch Bonito­flocken dazu, weil das bestimmt jemand braucht, der Miso einkauft. Die Bonitoflocken gibt es beim Spezialisten für ­getrockneten Fisch, und er kann dir stundenlang auseinandersetzen, welches Dashi aus der Kombination welcher Misosorte und welcher Katsuobushi, Bonitoflocken, angerührt wird, wo das jeweilige Dashi geografisch hinressortiert und welche Speisen es am besten begleitet.

Das kann durchaus etwas Zwanghaftes haben, wie der Kollege Julien Walther auf seinem Blog Trois Etoiles beschreibt. Walther hatte sich Tische in den wichtigsten Kaiseki-Restaurants organisiert, allesamt Dreisterner, wobei das europäische Prinzip der Restaurantbewertungen für eine brauchbare Vermessung der japanischen Spartenbetriebe aus naheliegenden Gründen nur unzureichend geeignet ist. Ergebnis der Tour war jedenfalls, dass Walther an fünf aufeinanderfolgenden Tagen in wechselnden Einzelzellen oder, wenn er Glück hatte, an der Küchenbar saß und exakt dieselben Speisen wie am Tag davor und am Tag nachher serviert bekam. Angesichts der Tatsache, dass jedes dieser Menüs zwischen 300 und 400 Euro kostete, stieg er entnervt aus dem Reihenversuch aus, bevor er ihn vollständig er­ledigt hatte.

Ich aß mein Kaiseki-Menü bei Kikunoi. Den Tisch hatte ich Monate davor von Wien aus bestellt und selbstverständlich sofort bezahlt. Wobei sich „einen Tisch bestellen“ so einfach anhört, als müsse man nur den Reservierungscomputer anwerfen, und schon sitzt man am Tag seiner Wahl am Ort seiner Wahl.

So läuft das hier nicht. Ich musste ein Ansuchen mit mehreren Terminvorschlägen meiner Wahl abschicken, gemeinsam mit meinen Kreditkartendaten, und erfuhr Folgendes: Falls meinem Antrag Folge geleistet wird, kriege ich den Termin zugewiesen und das Geld wird sofort abgebucht. Wenn nicht, wird nur eine geringe Summe für die zwischengeschaltete Agentur fällig. Als dann die Nachricht kam, ja, ein Tisch bei Kikunoi ist für mich reserviert, „dear Mr Sailor“, kam gleich die nächste Anweisung in Form eines Verhaltenskatalogs. Ich hätte pünktlich zu sein. Bei Verspätung von mehr als 15 Minuten werde der Tisch neu vergeben. Keine Handyfotografie. Kein Handy auf dem Tisch. Keine Parfums, weil sie das aromatische Erlebnis verändern könnten.

Botschaft: Eine Kaiseki-Mahlzeit ist eine ernste ­Sache. Kaiseki bezeichnet ein mehrgängiges Menü aus vielen festgelegten Gerichten, die aus sorgfältig aus­gewählten Produkten hergestellt und in ästhetischer Vollkommenheit präsentiert werden. Kaiseki ist die kulinarische Königsdisziplin, eine Tradition, die weit zurückreicht und zenbuddhistische Ursprünge hat.

Als ich dem Chef des Schwarzen Kameel, Peter ­Friese, von dieser Reservierung erzählte, strahlte er vor Freude. So etwas gefiel ihm. Außerdem durchschaute er sofort die psychische Disposition des reisenden Restaurantbesuchers: „Du wirst es lieben. Weil, du wirst nicht das Gefühl haben, dass du schon bezahlt hast. Du wirst nur das Gefühl haben, dass du nicht zahlen musst!“

Er hatte eins zu eins recht. Genau so war es. Aber vorher wurde mir noch der schönste Teller meines ­Lebens serviert.

Der schönste Teller meines Lebens war kein Teller, sondern ein Eisblock. Ein Eisblock von der Größe ­eines großzügig bemessenen Schminkkoffers, aus dem die Köche des Kikunoi mit ihren handgeschmiedeten Messern eine Vertiefung herausgeschnitten hatten. In dieser Vertiefung lagen jetzt die kalten Soba-Nudeln, mariniert mit einer poetischen Sauce und ergänzt von perfekt leuchtenden, geschälten und blanchierten Garnelen, dem Kopf eines Shiitake-Pilzes, etwas Myoga, Ingwerblütenknospen, Gurkenscheiben und Tofu. Vollkommene Pracht.

Auch die anderen Gerichte, die in strenger Reihenfolge serviert wurden, waren atemberaubend schön. In Lampionblüten versteckte Sushi, auf Lotusblättern angerichtete Sashimi, die in einer Auberginenschale servierte Misosuppe, der puristische Aal, das überwältigend zarte Kobe-Beef, schließlich der traditionelle Reis, in den gebackener Fisch eingerührt war.

Eine Kellnerin, die lang in Amerika gelebt hatte, führte mich durch den Abend. Sie sprach entsprechend gut Englisch und hatte Humor, das war eine unerwartete ­Bereicherung angesichts der vielen Mahl­zeiten, die sich selbst erklären mussten.

Nur einmal fiel ihr das Gesicht herunter, nämlich als ich nach dem ersten 2-cl-Fläschchen Sake ein zweites bestellte.

„That’s …“, sagte sie zögernd, „unusual.“

War mir egal, ich wollte trotzdem noch ein Glas Sake.

„Very unusual“, antwortete die lustige Kellnerin und betrachtete mich in etwa so entsetzt, als wäre ich mit den Pantoffeln vom Klo gekommen. Aber nachdem ich diesen Schock schon einmal verdaut hatte, gelang es mir auch diesmal, und die Qualität des Sakes entschädigte mich für die erlittenen (und wohl auch zugefügten) Qualen.

Kyoto war gut zu mir. Ich erlebte im Restaurant ­Tenyu die Freuden einer kompletten Tempura-Mahlzeit, deren Höhepunkt ein aus Algenstreifen geformter Stern war, der mit dem besten Seeigel meines ­Lebens gefüllt und anschließend durch den Tempurateig gezogen und frittiert wurde. Als mir Tanja Grandits einmal erzählt hatte, sie habe in Japan nirgends lieber gegessen als in den besten Tempura-Lokalen, war mir noch nicht klar gewesen, wie unendlich zart der Backteig sein kann und in welch fulminante Wechselwirkung mit Gemüse, Fisch oder Krustentieren er tritt. Einmal mehr überzeugte mich die Idee der Spezialgastronomie, und nach wie vor ist mir nicht klar, ­warum es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Nachahmer bei uns gibt, die die Kunst, ein Wiener Schnitzel zu braten, um nur dieses auf der Hand liegende Beispiel zu nennen, auf die Spitze treiben.

Ich spazierte kreuz und quer durch die atemberaubend schöne Altstadt. Besuchte eine Ausstellung der großen Yayoi Kusama. Aß bei ­Hafuu ein schmelzendes Sirloin-Steak aus Kobe, probierte bei Ippodo Matcha-Tee, der so stark war, dass mein Herz bis zum Hals schlug, und erlebte schließlich meinen nächsten ultimativen Kyoto-Moment, als ich in einem Eisgeschäft in der Nähe des Königspalasts nicht weniger als neun ­verschiedene Matcha-Eissorten in der Vitrine sah.

„Was ist der Unterschied?“, wollte ich wissen.

„Intensität“, antwortete die Verkäu­ferin.

„Welches Eis empfehlen Sie?“

„Das dunkelste. Es schmeckt am intensivsten nach Grüntee.“

Ich nahm das dunkelste und bekam eine Kugel in einem hübschen schwarzen Becher.

Aber als ich gleich davon probieren wollte, zuckte die Verkäuferin zusammen.

„Warten Sie“, sagte sie und wies mir einen Stuhl im Foyer des Geschäfts an.

„Bitte im Sitzen essen.“

Ryokan Genhouin www.ryokan-kyoto.com

No Name Ramen Shop www.takakura-nijo.jp

Ajiro www.ajiro-s.co.jp

Shoraian www.shoraian.jp

Toriyasa
136 Nishiishigakidori 4jyo Kudaru Saitocho Shimogyo-ku,
Kyoto 600-8012, Kyoto Prefecture

Kikunoi www.kikunoi.jp

Tenyu
299 Shimo Hakusan-cho, Nakagyo-ku, Kyoto-shi,
Tel.: +81/75-212-7778

Hafuu www.hafuu.com

Ippodo www.ippodo-tea.co.jp