Beim Saumagen

Auf der Suche nach Berlins neuer Mitte.

Beim Saumagen

Text von Christian Seiler Illustration: Markus Roost

Spät am Abend gingen wir dann in die Paris Bar. In Berlin in die Paris Bar zu gehen, ist ungefähr so originell, wie in Wien die Loos Bar als Geheimtipp auszupacken, aber weil wir wieder einmal im Savoy abgestiegen waren, das drei Minuten von der Paris Bar entfernt ist, und weil die Bar im Savoy von Zigarrenrauchern in Beschlag genommen ist, sodass ich lieber bei strömendem Regen auf der Straße ein Bier aus der Dose trinke als in der Bar des Savoy ein Glas Champagner, gingen wir eben in die Paris Bar.
Der deutsche Dramatiker Heiner Müller schrieb in den Achtziger-Jahren über die Paris Bar: „Wer hier eintrete, lasse jede Hoffnung fahren, dass er herauskomme, ehe es Morgen sei.“ So weit wollte ich natürlich nicht gehen. Ich dachte an ein Glas Weißwein, vielleicht an ein Stück Käse. Ich dachte nicht an Prominenz und Schick, an Künstler und Schauspieler, die notfalls auf dem Tisch tanzen, wenn der Rest der Hütte zu voll ist, um die Beine ausstrecken und den Rumpf beugen zu können, und schon gar nicht dachte ich an die lange Geschichte der Paris Bar, die einmal der verlässlichste Treffpunkt ganz Westberlins gewesen war und vor einigen Jahren einen Karriereknick hinnehmen musste, als die Finanz mit Steuerforderungen in Millionenhöhe auftauchte.
Wobei: Diese Geschichte ist zu abgedreht, um sie nicht zu erzählen. Die Paris Bar liegt an der Kantstraße, einer etwas öden Verkehrsader durch Charlottenburg, die zum Bahnhof Zoo führt. Die Leuchtschrift der Bar hat schon immer etwas Glamour versprüht, aber weil in Berlin Glamour immer auch mit Abgerissenheit zu tun hat, fiel keinem Menschen der verstaubte Kastenwagen auf, der gegenüber dem Eingang der Bar geparkt stand. Der Kastenwagen stand tagsüber da und in der Nacht, wie das Auto eines Hippies, der sich rasch einmal für sechs Monate nach Indien verabschiedet hat, von der Sorte soll es in Berlin ja noch immer ein paar geben.
Aber der Wagen gehörte keinem Hippie, er war ein Dienstfahrzeug. In dem Wagen leisteten verschiedene Finanzbeamte Schichtdienst, indem sie von gegenüber penibel die Ankunft jedes einzelnen Gastes im Lokal vermerkten und während mehrerer Monate eine genaue Statistik darüber anfertigten, wie viele Menschen das Lokal betreten, wie viele Menschen das Lokal verlassen haben, wie viele Menschen also in der Zwischenzeit im Inneren des Lokals anwesend gewesen sein müssen. Dann verglichen sie ihre Beobachtungen mit der Steuererklärung der Paris Bar-Besitzer und kamen zum Schluss, dass die Gäste laut offizieller Abrechnungen dem Hungertod nah gewesen sein und bei Verlassen des Lokals an schwerer Dehydrierung leiden mussten.
Bald darauf kursierte die Nachricht, dass die Paris Bar wegen enormer Steuernachzahlungen pleite sei und geschlossen werde. Ich las in dieser Zeit einige rührende Nachrufe auf das Lokal, der böse Bild-Kolumnist Franz-Josef Wagner, der so eloquent ist wie Michael Jeannée gerne wäre, ließ die Grabmusik am lautesten scheppern: „Wenn eine Stammkneipe stirbt, dann stirbt ein Freund.“
Er hat eh Recht. Nur sperrte die Paris Bar nie zu.
Ich ging damals recht häufig an der wunderbaren Leuchtschrift vorbei, vielleicht sogar aus Voyeurismus, um den Pappendeckel am geschlossenen Rollladen persönlich zu sehen, auf dem „wegen Scheißsteuer geschlossen“ stehen würde oder so was. Aber da war kein Pappendeckel, und die Tür war auch nicht zu. „Wie zu Hause“, dachte ich mir damals, „angesagte Katastrophen finden nicht statt“.
Stimmt nicht ganz. Die beiden Gründer des Lokals standen zuletzt vor Gericht, für sie ist alles andere als nichts passiert. Aber das Lokal brummt wie eh und je, ein paar Herrschaften, die sich im Hintergrund halten, haben Geld zugeschossen, seither ist es ein Zusatzspielchen, darüber nachzudenken, ob die Paris Bar tatsächlich Jonathan Meese gehört oder Otto Sander oder doch den Russen.
Ich nahm ein Glas namenlosen Schaumweins und war merkwürdig berührt davon, wieder einmal hier zu sein. Die Bar, keine Bar, sondern eine Brasserie. Abgewohntheit in ihrer schönsten Spielart. Ganz schön viele Gäste, die ganz schön viel getrunken hatten. Noch immer hatten die Kellner einen französischen Akzent, was allein schon von vielen Gästen für arrogant gehalten wird. Außerdem sind sie arrogant, außer man weiß, wie man sie milde stimmt. Am besten bestellt man eine große Portion Blutwurst.
Ich hatte Borowski im Schlepptau, einen alten Westberliner, der persönlich dabei gewesen war, als John F. Kennedy seinen verlogenen Sinnspruch „Ich bin ein Berliner“ abgesetzt hatte und der heute noch Tränen der Rührung darüber vergießen kann. Er hatte sich noch viele Jahre nach dem Mauerfall geweigert, nach Mitte zu fahren – „in den Osten“, sagte Borowski abschätzig – , weil er allen Ernstes Angst hatte, er könnte dort irgendwelchen Stasi-Schergen in die Finger fallen.
„Wo“, pflegte Borowski zu fragen, wenn er ein, zwei Gläser Champagner getrunken hatte, also täglich ab elf Uhr Vormittag, „sind sie denn hin, die Stasi-Schweine? So groß ist der Knast doch gar nicht, dass alle hineinpassen. Die Nazis sind ja alle nach Südamerika und grillen Steaks. Aber die Stasis? Glaubst du, die kochen in Russland rote Rüben? Die sind hier. Gottseidank drüben im Osten. Aber mich kriegen die nicht.“
Da ich Borowski samt seinen Verschwörungstheorien mochte und mag, kam ich in den Genuss, herauszufinden, wo er sich damals am liebsten vor der Stasi verbarg. So lernte ich das „Capriccio“ im eleganten Grunewald kennen, den letzten Italiener Berlins, bei dem Harald Juhnke als jugendlich durchgehen würde, selbst in seinem gegenwärtigen Zustand. Da Borowski vom Wirten – „ee Dario”, „tu Borowski, alter Gauner“ – mit Handschlag begrüßt wurde, kam auch ich in den Genuss der Stammgastbehandlung, was bedeutet: jede Menge Pizzabrot bevor die Vorspeisen kommen. Borowski ist nämlich Kohlehydratvegetarier. Dafür kam ein herrlich kühler und erfrischender Rotwein, mit dem ich die gewaltigen Portionen an echten Vorspeisen hinunterspülte: eingelegte Tomaten, Oliven und jede Menge Pasta, bevor ich vor dem Hirschen mit Pflaumensauce kapitulierte.
Helmut Kohl wohnt in der Nähe, sein Bild hängt auf dem Weg zum Klo in Gesellschaft von zahlreichen anderen Prominenten, Angela Merkel ist die jüngste von ihnen. Hier ist Berlin, wie Berlin in den Siebziger-Jahren gewesen sein muss: ein Reservat von Geld und Freiheit, Rückzugsort einer Welt, die es rundherum längst nicht mehr gibt. Kein Nostalgist kann sich leisten, das „Capriccio“ in Grunewald nicht zu kennen.
Der Bruch in der Beziehung zwischen Dario und Borowski ereignete sich, als Borowski die Tochter des ungarischen Botschafters a. D. kennenlernte. Johanna war schön, klug und ehrgeizig, sie teilte mit Borowski die Liebe zum Champagner, und sie liebte den Osten.
So wurde ich Stammgast im „Borchardt“.
Das „Borchardt“ ist gar nicht so einfach ins Österreichische zu übersetzen. Zuerst einmal liegt es strategisch günstig, in Berlin Mitte, dem lebendigsten Viertel der sich herausputzenden deutschen Hauptstadt, eine Brasserie in den Räumen einer ehemaligen Textilwerkstatt. Ja, klar, im ehemaligen Osten. Johanna musste einiges an Überzeugungskraft aufbieten, um Borowski über den ehemaligen Checkpoint Charlie ins neue Zentrum Berlins zu lotsen.
Im „Borchardt“ gibt es warmes Essen. Darüber hinaus verströmt das „Borchardt“ eine eigenwillige Aura, wie sie in Wien höchstens an guten Tagen im „Fabios“ zu spüren ist, jedoch im Maßstab 1:10. Das „Borchardt“ ist tatsächlich vollgestopft mit tatsächlichen Prominenten, die Kanzlerin hängt nicht am Weg zum Klo, sondern sitzt mit ihrer Entourage in einer Loge und futtert ein Schnitzel, für das das „Borchardt“ berühmt sein will.
Darf ich aufzählen, wen ich sonst noch sah beim Mittagessen? Boris Becker und Frau, Rolf Eden, dessen Rolls Royce draußen vor der Tür in zweiter Spur parkte, Kai Diekmann, der Chefredakteur der Bild-Zeitung und sein Kolumnist Franz-Josef Wagner, dem noch immer die Tränen über den Abschied von der Paris Bar über die Wangen laufen, Roger Willemsen, Anne Will, Frank Schirrmacher, Sabine Christiansen und ein paar andere berühmte TV-Stars, die ich nicht beim Namen kannte.
Entsprechend schwierig ist es, hier einen Tisch zu bekommen. Aber wenn Borowski ein Handwerk wirklich gelernt hat, dann ist es jenes, jederzeit am richtigen Ort den richtigen Tisch zu bekommen – wenn man, tja, gern neben der deutschen Kanzlerin sitzt. Borowski will. Ich habe mich für ein Proseminar in Tischbesorgung bei ihm angemeldet.
In Folge musste ich miterleben, wie sich die Kanzlerin das Sardellenringerl, das als Dekorum des „besten Wiener Schnitzels der Welt“ serviert wird, bis zum Schluss aufhebte und dann als Krönung der Mahlzeit verzehrte.
Ich bestellte mir nur deshalb auch ein Schnitzel, um den Kellner darauf hinweisen zu können, dass man ein echtes Wiener Schnitzel ohne Sardelle serviert, und hätte sich nicht Borowski dazwischengeworfen, wäre es zwischen dem ignoranten Ober und mir zu einer handfesten Debatte gekommen, die Borowskis Stammplatzgarantie womöglich in Gefahr gebracht hätte. Aber Borowski pflückte mit Todesverachtung die Sardelle von meinem Teller – er ist normalerweise auch sardellenmäßig Vegetarier – und verschlang sie vor den Augen des Kellners, die triumphierend flackerten: „Das ist doch das beste am Schnitzel, Seiler …“
Muss man gelten lassen von jemandem, der sein Lebtag noch kein Schnitzel gegessen hat – allerdings nur von so jemandem. Das Schnitzel selbst war ein Schatten der Legende, die es umgibt.
Wolfram Siebeck sagte mir, dass er hier am liebsten Austern bestellt. „Austern können sie“, bemerkte er trocken.
Es war unausweichlich, dass mich Borowski tags darauf ins „Grill Royal“ schleppte. Das „Grill Royal“ ist das „Borchardt“ in jung und rock’n’rollig, und es liegt direkt an der Spree, was echt charmant ist. Angeblich ist Quentin Tarantino immer hier, wenn er in Berlin ist, er war wohl gerade nicht in Berlin. Mich nervte die laute Musik, und dass ein paar Typen, die bestimmt so prominent waren, dass sie einander mühelos erkannten, herumproleteten, als wären sie Pete Doherty und die Babyshambles. Vielleicht waren sie auch Pete Doherty und die Babyshambles nach einem Sprachkurs in Berlinerisch – „he Alter, den Wein kann doch kein Mensch saufen, bring einen kalten …“
Da schloss ich mich freilich an. Und über das ernsthaft blutige Steak vom argentinischen Beef kann ich nur das Beste berichten. Die Pommes frites verleibte sich Borowski ein, dessen Eigenart, Fast Food mit besserem Champagner zu verzehren, irgendwann Schule machen wird, jedenfalls im „Grill Royal“ – für hier ist diese Borowski-Diät wie geschaffen.
Gut, dass ich Borowski manchmal abschütteln konnte, dann streifte ich durch abgewohntere Ecken Berlins und genoss die Stadt in vollen Zügen. Trieb mich in Kreuzberg 61 herum, der etwas abgeschwächten Variante des wirklich harten Kreuzberg, eroberte mir augenblicklich tolle Italiener wie das „Vereinszimmer“ am Viktoriapark, wo du einen wirklich guten Kaffee bekommst und auf Heurigenbänken ganze Vormittage draußen auf den prachtvoll breiten Trottoirs herumhängen kannst. Wenn du willst, wirst du nie lang allein herumhängen, denn Berlin ist eine Stadt der unbeschränkten Tagesfreizeit. In Zürich zum Beispiel kriegst du um Punkt 14 Uhr die schönsten Tische am Wasser (bloß nützen sie dir nichts mehr, weil dann kein Essen mehr serviert wird), in Berlin gibt es wie selbstverständlich überall Frühstück bis sechs.
Berliner sind in Berlin so selten wie Wiener in Wien, du bist schnell ein bisschen zuhause, Teil der gewaltigen Fluktuation, die diese Stadt so schnell nach oben getragen hat und zwischendurch auch wieder in der Luft hängen lässt.
Zweimal um die Ecke vom „Vereinszimmer“ befindet sich übrigens das winzige Eisgeschäft Vanille & Marille, das Projekt eines ehemaligen Hotel-Patissiers, dem die Hochküche auf den Wecker ging und der die niedrige Miete des kleinen Seitenstraßengeschäfts zum Ausgangspunkt dafür nahm, den Stadtteil mit Eiscreme von einer Qualität zu versorgen, für die die Kollegen vom Wiener Schwedenplatz ihre Seele an den Teufel verkaufen würden. Nun gut, ich würde nicht ausschließen, dass in Kreuzberg so ein Deal tatsächlich besteht, die Berliner sind uns ja seit geraumer Zeit immer um eine Nasenspitze voraus …
Ich ließ mich von Locals natürlich auch durch die besseren Hütten der Stadt schleifen. Im „Vau“ gefiel mir der Hauptgang von der Taube so außerordentlich gut, dass ich mich wenige Tage später zu einer Verkostung deutscher Rieslinge ein zweites Mal im Souterrain einfand, das dauerte dann länger. Ich mochte die unprätentiöse Küche, die nichts anderes möchte als intensiven Geschmack zu erzeugen, und ich mochte die Geschäftigkeit des Lokals.
An meinen Besuch bei Tim Raue kann ich mich kaum erinnern, außer dass die Gerichte auf dem Teller sehr kunstfertig aussahen. Wonach sie schmeckten, weiß ich nicht mehr – ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, bei Lokalbesuchen keine Notizen mehr zu machen, denn ich finde, dass ein Gericht, das nicht im Gedächtnis bleibt, die Aufmerksamkeit nicht wert ist.
Das „Margaux“ war in jeder Hinsicht pastellfarben. Bei „Fischers Fritz“ isst du, umgeben von kolonialem Prunk, ganz ausgezeichnet, ich würde mir sehr wünschen, etwas so Delikates wie den rohen, geräucherten Aal mit Kren bald wieder zu bekommen.
Nachdem ich die Sternehütten durchprobiert hatte, war mir vor allem eines klar: Warum eine durchschnittliche Brasserie wie das „Borchardt“ so erfolgreich ist. Die Spitzenrestaurants Berlins sind Spitzenrestaurants alter Schule, die dir in erster Linie einmal das Gefühl vermitteln, dass du ein Geduldeter bist – mich überfiel, das „Vau“ vielleicht ausgenommen, überall dieses bleierne Gefühl, gemustert und abgesnobbt zu werden wie von einer atemberaubend schönen Verkäuferin in einem Prada-Laden, deren Blick für einen Augenblick zu lange an deinen ungeputzten Schuhen hängen bleibt.
Berlin ist eine weitgehend lockere Stadt, deren Größe und Bedeutung formelle Plätze hervorgebracht hat. Ich hatte jedoch nirgends das Gefühl, dass diese Plätze genuin wären oder auch nur stimmig. Gutes Essen, das begriff ich bald, muss in dieser Stadt anderswo gesucht werden – wenigstens, wenn du es in angenehmer Atmosphäre verzehren möchtest und keine tadelnden Blicke riskieren, wenn du einmal laut lachst, zum Beispiel über die Beschreibung eines Gerichts auf der Karte – wie sich das Licht in einem Salzkorn bricht, das auf einer Sabayon liegt, in der Erdmandeln nussig gestimmt sind. Kein Scherz.
Dann traf ich Stuart Pigott zu einer kleinen Vorlesung über Riesling – nicht deutschen Riesling, wohlgemerkt, deutschen Riesling wohl auch, aber nicht nur. Stuart schlug für das Treffen das – Achtung, Wortwitz – Weinstein am Prenzlauer Berg vor, und obwohl mir der Name des Lokals ähnlich schlüssig vorkam wie der des Friseursalons Haarscharf, wurde es ein denkwürdiges Treffen.
Stuart hatte eine Kühlbox dabei: Beute von gerade absolvierten Reisen. Darin fand sich zum Beispiel ein Riesling aus Amerika von der Oregon Riesling Alliance, eine Literflasche für vier Euro von Karsten Peter, etwas Wildes, Geheimnisvolles aus Australien, wir sprachen einen halben Abend lang, bis am Nebentisch – „Hallo, Stuart“, „Oh, Ernie!“ – Ernie Loosen auftauchte, selbst Legende des deutschen Rieslingweinbaus, und wenn es bis dahin lustig gewesen war, dann wurde es jetzt sehr lustig.
Stuart, der aus seiner Abscheu gegenüber Wine-Speak und überzogener Ehrfurcht vor ehrwürdigen Etiketten kein Hehl macht, willigte sofort in eine Expedition in die Tiefe der Weinkarte ein, und die Weinkarte des Weinstein ist, I tell you, ein weites Feld.
Der Abend endete morgens. Zuletzt probierten wir Dr. Loosen-Weine, an die sich nicht einmal mehr Dr. Loosen erinnern konnte – es war großartig, denn selbst die ältesten Rieslinge kamen frisch und aufrecht daher, frei vom öligen, tankstellenmäßigen Altersballast vieler minderwertiger Vergleichsweine, es war eine Machtdemonstration deutscher Wertarbeit.
Als ich mich von Stuart verabschiedete, vergaß ich nicht ihn zu fragen, wo er einen Freund in Berlin zum Essen denn hinschicken würde.
Er zögerte nicht eine Sekunde: „In die Kurpfalz-Weinstuben.“
Dort begegnete ich tags darauf dem nächsten deutschen Bundeskanzler.
Nein, natürlich war Helmut Kohl nicht persönlich anwesend. Aber es gab „Pfälzer Saumagen“, seine legendäre Leibspeise, und der Saumagen war eine Offenbarung, und dass es den Wein in Schoppengläsern gab, spielte gar keine Rolle, es war ein Hohelied des Deftigen und des Kraftgeschmacks, und zum ersten Mal teilte ich eine Leidenschaft mit Helmut Kohl. Die Portion war natürlich nicht zu bewältigen, aber da machte ich nicht mit. Am Ende des Abends bettelte ich um das Rezept, wurde abgesnobbt, bettelte weiter, erregte Mitleid, hier ist es:

Pfälzer Saumagen
750 g Schweine-Vorderschinken
750 g magerer Schweinebauch
750 g Kartoffeln
1 kg Bratwurstfülle (Brät – ich habe mir mit der Füllung
italienischer Salsicce beholfen, und das war eine
ausgezeichnete Entscheidung)
2–3 altbackene Semmeln
4–6 Eier, Salz, Pfeffer, Muskat, Majoran, 1 Saumagen

Zuerst geht es darum, dem Metzger den richtigen Magen abzutrotzen und ihn dazu zu zwingen, ihn wirklich gut zu reinigen. Der Magen muss sich wie ein großer, dünner Gummihandschuh ohne Finger anfühlen und darf keinen Eigengeruch mehr haben – der Metzger macht das schon, ansonsten ist eine lange Prozedur mit Einsalzen und Abschleimen erforderlich. Nicht unbedingt ein Spaß.
Den Vorderschinken, den Schweinebauch und die Kartoffeln in ca. 1 cm große Würfel schneiden.
Die Kartoffelwürfel kurz kochen, damit sie etwas weicher werden.
Mit der Brät, 2 bis 3 eingeweichten und ausgedrückten Semmeln und den 4 bis 6 Eiern gut vermischen.
Mit Salz, Pfeffer, Muskat und reichlich (wirklich reichlich) Majoran gut abschmecken. Nun die Masse nicht zu prall in den Magen füllen, denn sonst platzt er (ein Gefühl, das mein Magen beim Verlassen der „Kurpfalz-Weinstuben“ übrigens auch hatte).
Nun die drei Magenöffnungen zubinden oder zunähen. In siedendem Salzwasser ca. 3 Stunden ziehen lassen (das Wasser darf nie sprudelnd kochen!).
Abtropfen und am Tisch in Scheiben schneiden. Mit Sauerkraut und geröstetem Schwarzbrot servieren. Ideal, wenn es dazu ein paar Flaschen Kallstadter Saumagen vom Pfälzer Weingut Köhler-Ruprecht gibt, der Wein hat die richtige Kraft, um den Saumagen zu komplettieren und den Appetit herzustellen, der noch eine Scheibe einfordert und dann noch eine möglich macht.
So ist also Berlin, dachte ich mir, während ich quer durch Charlottenburg hinüber zur Kantstraße spazierte, um in der Paris Bar noch einen Fernet zu nehmen, denn ein Fernet ist nach einem Saumagen genau das Richtige, noch richtiger ist vielleicht nur ein zweiter Fernet, „du gehst auf die Suche nach der neuen Mitte von Berlin und landest in einem deutschen Wirtshaus, das so aussieht wie vor achtzig Jahren. Ist das nicht logisch? Ist das nicht beispielhaft?“
Es war beispielhaft. Noch beispielhafter war nur, dass die Geschichte auch ganz woanders hätte enden können, im Kaffeehaus zum Beispiel – Einstein? Einstein! – oder beim Österreicher – Ottenthal? Ottenthal!
Gerade als ich darüber nachzudenken begann, ob auch ein Inder oder ein Chinese als finale Berlin-Station gelten könnte, läutete mein Handy. Borowski.
„Was gibt’s?“
„Du musst sofort in die Paris Bar kommen.“
„Bin am Weg. Was ist los?“
„Ich habe Johanna verlassen.“
„Bist du verrückt? Warum?“
„Wir fuhren mit dem Taxi ins ,Borchardt’, und der Taxifahrer schaute mich schon im Rückspiegel so merkwürdig an. Dann begann er zu erzählen, dass er früher in Spandau Gefängniswärter war und immer mit Rudolf Hess Schach gespielt hat – verstehst du?“
„Was soll ich verstehen?“
„Mann, bist du auf den Kopf gefallen? Die Stasi ist hinter mir her. Ich bin sofort aus dem Taxi gesprungen und zu Fuß zurück in den Westen gelaufen. Johanna hat mich zehn Mal angerufen, aber ich will sie nie wieder sehen. Kannst du jetzt endlich kommen?“ Ich beendete das Gespräch und beschleunigte meinen Schritt.