Bestes Seafood im Südwesten

Lissabons Köche können nicht nur aus einer vergleichsweise erstaunlichen Fülle und Vielfalt an Meerestieren schöpfen, sondern auch aus einer traditionellen Küche, die eine der aufregendsten, wenngleich verkanntesten Europas ist.

Foto von Frederico Domingues
Text von Georges Desrues

Wer die Nummer eins unter Portugals Köchen ist, lässt sich in Lissabon unschwer erkennen. Zumindest was seine Präsenz im Stadtbild, aber auch seine Auftritte in den nationalen und internationalen Medien betrifft, kann wohl niemand José Avillez das Wasser reichen. Der umtriebige 43-Jährige ist hier geradezu allgegenwärtig. Neben seinem Flaggschiff Belcanto, einem von zwei Zweisternern in Lissabon und in der Liste der 50 Best an 42.  Stelle gereiht, betreibt er allein in der Hauptstadt noch ein Dutzend weitere Lokale und hat dort sogar einem ganzen Viertel, dem Bairro do Avillez, seinen Namen geliehen.

Mit markanten Gesichts­zügen, dunkelschwarzer Mähne und Bart sieht der Wirt und Koch ein wenig so aus, wie man sich einen dieser portugiesischen Seefahrer früherer Zeiten vorstellt, die in ihren Galeãos über die Weltmeere segelten; und ­dabei neue und rare Gewürze über den Erdball verbreiteten. Allen vo­ran die Chili, die sie hierzulande Piri Piri nennen, und die ausgehend von Südamerika auf portugiesischen Schiffen zuerst Indien und später die Welt eroberte. „Die Seefahrer haben die traditionelle portugiesische Küche bis heute geprägt“, sagt Avillez, „in erster Linie mit Zutaten, die anderswo in Europa ziemlich exotisch erscheinen würden.“ Darunter und allen voran der in der Tat in Europas Küchen völlig ungewohnte frische Koriander, den man hierzulande geradezu wie
Petersilie einsetzt und damit üppig Fisch und Meeresfrüchte wie Venusmuscheln bestreut. Oder der intensive Kreuzkümmel, der zwar aussieht wie Kümmel, aber ganz anders, nämlich stark aromatisch und nach Orient schmeckt und zum Würzen etwa von Kuttelgerichten dient.

Solche und etliche weitere Kräuter und Gewürze verarbeitet Avillez in seinem eleganten Belcanto, wo er eine fest in portugiesischen Traditionen verankerte und zugleich gehobene Küche bietet. Das Lokal eröffnete 2012 in der Lissaboner Oberstadt im Altstadtbezirk Chiado, in früheren Zeiten das Viertel der Künstler, Intellektuellen und Literaten. Man traf sich im prachtvollen ­Jugendstil-Interieur des nahen Café A Brasileira oder in der Livraria Bertrand, die als älteste Buchhandlung der Welt gilt. Aus Platzgründen über­siedelte das Belcanto im Jahr 2019 von seiner ursprünglichen Location an den nahe gelegenen, von Bäumen gesäumten Platz Largo de São Carlos. Man sitzt in alten Gemäuern unter sehr hohen Decken und über glänzenden Parkettböden. Sanfte Erdtöne und streng gebügelte, naturweiße Tischtücher erzeugen ein gediegen-bürgerliches Ambiente, zusätzlich unterstrichen von zahlreichen Elementen aus sogenanntem Wiener Geflecht, wie man es von Thonet-Stühlen kennt. Der Eleganz des Orts wird Avillez’ Küche durchaus gerecht. Alles hier ist von hoher Präzision, perfekt auf den Punkt gegart und sorgfältigst angerichtet. Ob es die gelegentlichen Blümchen zur Dekoration und die mitunter bizarren Teller (etwa in Form von Händen) tatsächlich braucht, muss jeder für sich entscheiden. Geschmacklich indessen gibt’s wenig zu diskutieren.

Überzeugend neu interpretiert werden portugiesische Klassiker, wie etwa der Bauch vom Spanferkel, der hier, knusprig und schmelzend zugleich, in einer Pfeffersauce mit Salat­herzen und Sarapatel daherkommt. Bei Letztgenanntem handelt es sich um ein Ragout aus Schweineinnereien, das ursprünglich in Portugal entstand, in der ehemaligen portugiesischen Kolonie Goa weiterentwickelt, dabei gehörig aufgewürzt und anschließend zurückimportiert wurde. Sensationell natürlich auch die ­Atlantikfische und -meeresfrüchte, wie etwa das Curry von Carabineros, einer besonders großen, knallroten lokalen Garnelenart; oder der Seehecht, den Avillez in Koriandersauce und mitsamt den Zungen serviert.

Überhaupt ist der Fischreichtum des Atlantiks eines der kulinarischen Highlights des Landes. In seiner ganzen Wucht erlebt man ihn in der Cervejaria Ramiro. Vor circa zehn ­Jahren, als Lissabon noch recht verschlafen und vom Massentourismus kaum entdeckt war, ließ sich der inzwischen verstorbene Hipster-Koch Anthony Bourdain hier filmen. Seitdem ist der Andrang auch von Touristen enorm. Davon abhalten lassen sollte man sich allerdings nicht. Lokal und Angebot sind ein regelrechtes Erlebnis: Taschenkrebse, Seespinnen, Berge von imposanten Langustinen und Garnelen, Töpfe voller Muscheln und Meeresschnecken. Und, in der Saison, die mythischen und bizarren Entenmuscheln. Das alles runtergespült mit unaufdringlichem, lokalem Sagres-Bier, immerhin ist man in einer Cervejaria, also in einer Braustube. Und zum Abschluss: ein Steak-Sandwich – warum plötzlich Steak, weiß zwar niemand, gehört sich hier aber so.

In einem komplett anderen Ambiente beschäftigt sich Henrique Sá Pessoa mit lokalem Meerestier. Sein Restaurant Salà ist neben dem Belcanto, von dem es keinen Steinwurf entfernt liegt, der zweite Zweisterner der Stadt. Sá Pessoa nimmt sich der in der portugiesischen Küche bereits vorhandenen asiatischen Elemente an und kombiniert sie neu. Wie etwa bei seinem Stockfisch in Korianderjus. Die traditionelle portugiesische Brotsuppe Açorda indessen tunt er mit eingelegten Algen auf. Ganz neu ist die Verbindung Portugal-Asien freilich nicht, wenn man bedenkt, dass das japanische Gericht Tempura einst von portugiesischen Missionaren auf die Insel gebracht worden ist; und sich sein Name vom lateinischen Begriff Tempora ableitet, der sich auf die katholische Fastenzeit bezieht.

Eine geradezu ideale Art, sich in Lissabon durch die lokale Meeresfrüchte-Küche zu kosten, bieten die sogenannten Petiscos, also die portugiesische Variante der spanischen Tapas, wie sie etwa auf der schattigen Terrasse der Tasca da Esquina serviert werden: sautierte Garnelen mit Chili und Rosmarin, Venusmuscheln mit Ingwer, Thunfischbauch mit Herzmuscheln oder, einer der lokalen Klassiker, Reis mit Oktopus. Richtig eintauchen in die Stockfisch-Kultur beziehungsweise den Stockfisch-Kult der Portugiesen kann man im selbstsicher benannten Laurentina, O Rei do Bacalhau („König des Stockfischs“). Das gutbürgerliche Lokal mit seinem sympathischen 80er-Jahre-Dekor und den Grünpflanzen serviert den ­eingesalzenen und getrockneten Kabeljau in unzähligen Formen, darunter vom Grill, gekocht, gratiniert oder in der Brotkruste. Bei Letztgenannter handelt es sich ­interessanterweise um eine Kruste aus Roggen, eines Getreides, das in südeuropäischen Ländern ansonsten kaum vorkommt. Man nimmt an, dass es einst die Germanen mitbrachten, als sie im 5. Jahrhundert auf die Iberische Halb­insel vordrangen. Worauf auch der Name Broa hinweist, der solches Roggenbrot bezeichnet und dem deutschen „Brot“ nicht unähnlich ist.

Etwas außerhalb des Zentrums, an ­einer Häuserecke im Stadtteil Belém („Bethlehem“), liegt das kleine, aber zurzeit stark angesagte Restaurant O Frade. Es besteht aus nicht viel mehr als einem Schanigarten und einer hufeisenförmigen Bar, hinter der gekocht wird. Die klassische Tasca, wie die Beisln hierzulande genannt werden, ist im Besitz einer Familie aus der Region Alentejo. Gekocht werden regionale Spezialitäten, behutsam aufgefrischt und neu interpretiert.

Darunter Petiscos wie Oktopus mit Paprika und Schweinefleisch, gedünsteter Ochsenschlepp oder Hauptspeisen wie Arroz de pato, ein Reisgericht mit Entenfleisch, das mit Scheiben scharfer Chouriço-Wurst belegt und im Rohr ­gebacken wird. Der Andrang ist groß, zahlreiche Gäste schießen Fotos, erstaunlich viele davon nicht von den Gerichten, sondern vom (zugegeben sehr fotogenen) Küchenchef Carlos Afonso.

Nur wenige Schritte vom O Frade entfernt findet sich eine touristische Hauptattraktion Lissabons. Das Kloster Mosteiro dos Jerónimos oder Hieronymuskloster gilt als typisches Beispiel der Manuelinik. Dabei handelt es sich um einen üppigen Architekturstil aus dem 16. Jahrhundert, der von den Reisen der Seefahrer inspiriert war sowie vom Reichtum, den sie Portugal bescherten. Finanziert wurde der Bau des Klosters mit der sogenannten Vintena da pimenta, einer Steuer, die das Herrscherhaus auf den Import von Pfeffer (Pimenta), Gewürznelken, Kreuzkümmel und Ähnlichem einhob; von all den Gewürzen also, die dank der Seefahrer nicht nur die portugiesische, sondern so gut wie alle Küchen der Welt bereichern. —

Adressen

José Avillez – Belcanto
Zweifellos eine der besten und elegantesten Küchen des Landes. Hervorragende Zutaten, perfekte Garpunkte, aufmerksamer Service und gediegener Rahmen beim wohl umtriebigsten Koch des Landes. joseavillez.pt

Alma
In einem ehemaligen Lagerhaus serviert ­Küchenchef Henrique Sá Pessoa eine sehr persönliche Küche, in die er sein umfang­reiches Wissen um die Traditionen der portugiesischen Küche gleichermaßen einfließen lässt wie seine Begeisterung für asiatische Zutaten und Kochstile. almalisboa.pt

Cervejaria Ramiro
Einfaches und stets stark frequentiertes ­Traditionslokal mit sensationellem Angebot an Meeresfrüchten. Trotz der imposanten Schlangenbildung vor dem Eingang sollte ein Besuch hier ein Fixpunkt jedes Lissabon-Besuchs sein. cervejariaramiro.com

O Frade
Kleines und äußerst sympathisches Bistronomie-Restaurant nahe dem spektakulären Hieronymuskloster, mit ungezwungener Küche, hauseigenen Weinen und gut aussehender ­Belegschaft. facebook.com/ofradebelem

Laurentina, O Rei do Bacalhau
Gutbürgerliches Traditionslokal im charmanten Dekor der 1980er-Jahre mit Stockfischgerichten in so zahlreichen unterschiedlichen Ausführungen, dass die Entscheidung schwerfällt. restaurantelaurentina.com

Tasca de Esquina
Freundliches und geselliges Ecklokal mit zahlreichen sorgsam zubereiteten Gerichten der portugiesischen Petiscos(Tapas)-Küche, von denen man am besten eine große Auswahl bestellt und mit den Tischnachbarn teilt. tascadaesquina.com

A Brasileira
Traditionscafé mit prächtiger und sehenswerter Jugendstileinrichtung. abrasileira.pt

Suba
Elegantes Restaurant mit gehobener, sehr ambitionierter Küche, vor allem aber mit atemberaubendem Ausblick und spektakulärer Dachterrasse. Das Ganze in einem historischen Stadtpalais, das 2019 als Boutique-Hotel eröffnete. verridesc.pt

Zunzum Gastrobar
Modernes, helles, freundliches Lokal, direkt am neu gebauten Kreuzschiff-Terminal gelegen. Die in ihrer Heimat zu den Stars der Branche zählende Küchenchefin Marlene Vieira bietet hier eine Küche mit starkem ­Fokus auf lokale Ingredienzen, die man auch in einem Shop erwerben kann. zunzum.pt/gastrobar

Pavilhão Chinês
Spektakuläre Cocktailbar mit mehr als ­üppigem Dekor und seriösen Old-School-Barkeepern in gebügelten Jacketts.
R. Dom Pedro V 89, 1250-093 Lissabon, T +351/21/342 47 29

Antigo Restaurante 1º de Maio
Rustikales, denkbar bodenständiges und gut besuchtes Gasthaus in zentraler Lage. Geboten werden Gerichte, die genauso traditionell portugiesisch sind wie sie exotisch anmuten. Darunter etwa das eindrucksvolle Carne de porco à alentejana, eine Kombination aus Schweinernem und Venusmuscheln mit Kreuzkümmel und frischem Koriander.
R. da Atalaia 8, 1200-086 Lissabon,T +351/21/342 68 40

Suba-Küchenchef Fábio Alves
Vielleicht der beste Ausblick der Stadt: Restaurant Suba, hoch über dem Fluss Tejo.
© Getty Images
Belcanto-Küchenchef José Avillez
Im Bairro do Avillez kann man portugiesische Delikatessen kaufen und vor Ort probieren.
Henrique Sà Pessoa
Marlene Vieira zählt zu den gefeierten Küchenchefs Lissabons und betreibt gleich mehrere Lokale in der Hauptstadt.