Bock auf Ziege

Geruchssymphonie und Formenzauber: französischer Ziegenkäse im Trend.

Bock auf Ziege

Text von Ingeborg Waldinger Fotos: Luzia Ellert
Ziegen gelten nicht eben als aristokratische Tiere. Die landläufige Geringschätzung dieser Spezies gründet wohl in der strengen Duftkomponente der Böcke. Auch Pan, der zotig-zügellose Wald- und Weidegott in Ziegengestalt, trägt nicht wirklich zur Hebung dieses Image bei. Dennoch liefern die behörnten Paarhufer wertvolle Rohstoffe: etwa für zartes Handschuhleder, edle Wolle – und für subtile Käsespezialitäten.
Ziegen wurden vermutlich noch vor dem Rind domestiziert. In trockenen Klimazonen schätzt man Ziegenmilch seit Jahrtausenden als eiweißreiche Nahrungsgrundlage. Frisch, warm, weiß: Milch ist ein besonderes Elixier. Sie nährt das Kleinkind, sie spendet Lebenskraft. Das schien selbst bei den antiken Göttern nicht anders. Ausgerechnet eine Ziege (sie trug den schönen Namen Amaltheia) war dazu auserkoren, den göttlichen Zeus zu säugen! Mutter Rhea trat diese Rolle ab, um Klein-Zeus das Leben zu retten. Denn dessen Erzeuger Kronos pflegte all seine Kinder zu verschlingen – aus purem Selbsterhaltungstrieb. Der Titan lag nicht so falsch. Amaltheias Powermilch tat ihre Wirkung – Zeus stürzte den Übervater.
Hienieden auf Erden waren es die Mesopotamier, die weitere Vorzüge der mythischen Flüssigkeit entdeckten. Vielleicht war ja Zufall im Spiel, als Ziegenmilch erstmals gerann. Hatte sie zu lange in der Sonne gestanden, oder zu nah am Feuer? Wie immer, ihre Metamorphose zu Käsebruch war dank Wärmeeinwirkung vollzogen. Das antike Griechenland verfeinerte die Käseproduktion und sicherte dem Ziegenkäse seinen Platz in der lokalen Küche. Die alten Römer näherten sich dem Thema wissenschaftlich. Sie kamen zu dem Schluss, Ziegenkäse sei besser verdaulich als Produkte aus Kuh- oder Schafmilch. Tatsächlich besitzt Ziegenmilch etwas weniger Milchzucker und Fett, dafür einen hohen Gehalt an kurzkettigen Fettsäuren. Das macht sie gut bekömmlich.
Über griechisch-römische Handels- und Kolonialrouten gelangte die Ziege schließlich nach Südfrankreich. Noch über eine andere Route hielt das Tier Einzug in Gallien. Im Schlepptau der Mauren drang es über Spanien bis in die französische Loire-Region vor. Die Araber wurden im Jahr 732 bei Tours und Poitiers besiegt und traten den Rückzug aus Frankreich an. Die Ziege aber blieb. Bis heute gilt die Region Poitou-Charentes – sie erstreckt sich südwestlich der Loire bis an den Atlantik – als eine Hochburg französischer Ziegenkäseproduktion. Europas größter Ziegenhalter ist zwar Griechenland mit fünf Millionen Tieren, gefolgt von Spanien und Italien. Frankreich bringt es mit über einer Million Ziegen aber immerhin auf Platz vier in diesem Ranking.
"Wie soll man ein Land regieren, das 325 Käse hat?" Der legendäre Ausspruch stammt von General de Gaulle. Gerade in Frankreich tragen kulinarische Traditionen erheblich zum Nationalstolz bei. Die von de Gaulle genannte Zahl an Käsesorten nimmt sich allerdings – gemessen an der heutigen Realität – recht bescheiden aus. Nach aktuellen Schätzungen produziert Frankreich an die tausend verschiedene "fromages", etwa hundert Sorten davon auf Basis von Ziegenmilch. Im Jahr 2003
belief sich die französische Ziegenkäseproduktion auf 85.000 Tonnen. Das Gros kam aus Molkereien, viele Varietäten werden aus Rohmilch hergestellt. Zwölf Ziegenkäse tragen das Siegel "AOC" (Appellation d’Origine Contrôlée). Es verbürgt die exakte geografische Herkunft und die kontrollierte Qualität des Produktes. Die Saison der Ziegenkäse beginnt im Frühjahr und dauert bis in den Herbst. Ob aus industrieller oder bäuerlicher Erzeugung: Ziegenkäse ist aus der französischen Küche nicht wegzudenken. Er wird roh gereicht oder heiß zubereitet ("chèvre chaud"). Er findet sich auf Tartes, Baguettes und Salaten, wird in Schinkenstreifen gerollt oder in Teig gebacken.
Auch Deutsche und Österreicher kommen zunehmend auf den Geschmack. Was Wunder, gibt es doch eine unglaubliche Vielfalt an Formen und Geschmacksnuancen zu entdecken. Denn französische Ziegenkäse – schlicht "chèvres" (Ziegen) genannt – werden in Gestalt von Ziegeln, Talern, Pyramiden, Rollen oder Zylindern angeboten. Und in origineller Knopfform. Jede Region, jeder Erzeuger grenzt das eigene Produkt schon rein äußerlich gegen die Konkurrenzware ab. "Branding" auf rustikal, mit durchaus überregionaler Wirkung. Allerdings: Große Laibe sucht man in dieser Käsekategorie vergeblich. Die feine Konsistenz der geronnenen Ziegenmilch eignet sich nicht zur Hartkäseproduktion, sie hält der nötigen Erhitzung auf über 50 °C nicht stand. Selbst halbfeste Schnittkäse ("tommes") finden sich eher selten. Vielmehr dominieren Weich- und Frischkäse, und zwar in auffallend zierlichen Maßen. Teils besteht ihre Oberfläche aus Edelpilzen, deren Farbspektrum je nach Reifegrad von Weiß bis Blaugrau reicht. Andere Sorten umgibt eine Schicht aus Pflanzenasche. Sie bindet die Feuchtigkeit an der Käseoberfläche und fördert die Rindenbildung.
Es gilt die Faustregel: je frischer der Käse, desto milder sein Geschmack. Reife Exemplare zeichnen sich durch eine pikante, mitunter herbe Würze und markanten Ziegencharakter aus. Käseverkostung als Mutprobe? Keineswegs. Die bläulich-aschgraue Färbung der Rinden ist kein Gift-Indikator, die symphonische Explosion der Aromen kein Hinweis auf Überschreitung des Ablaufdatums. Früher oder später tasten sich selbst vorsichtige Einsteiger in jene Sphären vor, wo das wahre "Chèvre"-Erlebnis beginnt.
Vom Burgund bis zu den Pyrenäen, von der Provence bis zum Atlantik erstrecken sich Frankreichs Ziegenkäseregionen. Fünf der insgesamt 12 AOC-Sorten stammen aus Gebieten entlang der Loire: Der zylinderförmige "Crottin de Chavignol" etwa ist nach einem Weiler bei Sancerre benannt. Dort stellt man Ziegenkäse seit dem 16. Jahrhundert her. Als "Crottin" bezeichnete man einst Öllämpchen aus gebranntem Ton, deren Form jener der Käse glich. Die Pyramidenform des "Pouligny Saint-Pierre" ist angeblich dem Kirchturm des Dorfes Pouligny nachempfunden. Dass mancher Franzose diesen Käse "Tour Eiffel" nennt, lässt sich nicht ganz nachvollziehen. Um die pyramidale Gestalt des "Valençay" wiederum rankt sich folgende Legende: Dieser Käse sei Napoleon schlicht zum falschen Zeitpunkt kredenzt worden und ging somit seiner Pyramidenspitze verlustig. Nach der dramatischen Niederlage in Ägypten habe Napoleon auf Schloss Valençay Station gemacht. Der dort präsentierte Käse erinnerte ihn fatal an die Pyramiden im Lande der Pharaonen, weshalb er die Delikatesse mittels Schwerthieb "köpfte". Geradezu niedlich nimmt sich da die Geschichte des Saint-Maure de Touraine aus. Seine von einem Strohhalm durchbohrte Rollenform soll die Zitze einer Ziege symbolisieren.
Von doch wieder politisch-historischem Bezug scheint indes der Name Chabi, oder "Chabichou du Poitou". Er soll eine Verballhornung des arabischen Wortes für Ziege, "Chebli", sein. Denn die Region Poitou-Charentes verdankt diesen Ziegenkäse dem erwähnten Mauren-Intermezzo im 8. Jahrhundert. Heute laden Ziegenkäsehersteller und Affineure entlang der "Route du Chabichou et des Fromages de Chèvre" zur Degustation ihrer Spezialitäten.
Nicht aus dem Arabischen, sondern aus dem Okzitanischen (der alten Sprache Südfrankreichs) leitet sich die Bezeichnung "Cabécou" – kleine Ziege – ab. Einst von Hausfrauen hergestellt, wird dieser Ziegenkäse heute in mehreren Varianten angeboten. Jene aus dem Périgord hat einen Durchmesser von 5 cm. Es geht noch kleiner: Das Burgund wartet mit einem hochpreisigen 20-Gramm-Winzling namens "Bouton de Culotte" (Hosenknopf) auf. Das sommers produzierte Fliegengewicht erlangt erst nach Monaten seine pikante Würze und wird im Winter verzehrt. Auch die Provence hat ihren besonderen "chèvre" entwickelt. Sie punktet mit dem herzhaften "Banon" – aus dem Dorf Banon am Rande des Lure-Gebirges. Ein Kastanienblatt umhüllt diesen Weichkäse und verleiht ihm dank Gerbsäure eine spezielle Geschmacksnuance. Der berühmte "Rocamadour" wiederum stammt aus dem gleichnamigen Dorf am Fuße der Pyrenäen, das manchem Jakobspilger ein Begriff sein dürfte. Mit Rocamadour-"Talern" zahlte man im 15. Jahrhundert gar Pacht und Steuern! Heute
unterliegt der Käse besonders rigorosen Regeln. Die Milch darf nur von den weißen "Saanen"-Ziegen oder von der dunklen "Alpine"-Rasse stammen; pro Hektar Weidefläche sind maximal zehn Tiere zugelassen.
Galliens glückliche Ziegen geben gute Milch. Doch erst die landesspezifische Tradition artisanaler Käseerzeugung und die meisterhafte Affinage verwandeln das Rohprodukt in delikate "chèvres."
Gastronomiepapst Brillat-Savarin meinte, ein Nachtisch ohne Käse gleiche einer Schönen, der ein Auge fehlt. Nun, ob reife "chèvres" dem Prädikat "schön" gerecht werden, lassen wir dahingestellt. Für ein kräftiges Maß "sinnlicher" Wildheit sorgen sie allemal.