Text von Christian Seiler · Illustration von Markus Roost Ich habe eine unangenehme Eigenschaft. Ich höre nicht gut zu. Wobei, so kann man das nicht sagen, denn eigentlich höre ich schon gut zu, nur erfasse ich eine Erzählung manchmal nicht in ihrer ganzen Tragweite.
Als mir Madame Wy bei einem hinreißenden Abendessen in Paris von ihrer Heimat Vietnam erzählte, nahm ich wohl wahr, dass sie von Fluten an Mopedfahrern sprach, die in Saigon und Hanoi durch die Straßen rauschen, aber dass es keinesfalls, wie der gesunde Menschenverstand empfehlen würde, aussichtslos sei, eine dieser Straßen zu Fuß zu überqueren.
Man müsse, sagte Madame Wy, einfach losgehen, dann teile sich die Front der Mopedfahrer wie von selbst. Bleibe man hingegen stehen, könne man warten bis zum jüngsten Tag. Nur eines, betonte sie, dürfe man auf gar keinen Fall riskieren: loszugehen und dann die Nerven zu verlieren und umzudrehen, um zurück ans rettende Ufer zu gelangen. Das, sagte Madame Wy, sei lebensgefährlich.
Ich hörte Madame Wy zu und ich hörte ihr nicht zu. Kann sein, dass es daran lag, dass ich ausprobiert hatte, ob Champagner auch zu asiatisch-französischem Essen passt (geht!), kann aber auch sein, dass mich die Erzählung der eleganten Dame, die einst auf einem Boot über das südchinesische Meer aus Vietnam geflohen war, um später in Paris Karriere als Immobilienmaklerin zu machen, ungefähr so berührte wie die Schilderung eines japanischen Kochs, der mir erklärt, wie er einen Fugu tranchiert: eigentlich interessant, aber irgendwie ohne Bedeutung, wenn man wie ich nicht vorhat, jemals im Leben einen Kugelfisch zu verspeisen, den man selbst zerlegt hat.
Ich fand das, was Madame Wy erzählte, also auf abstrakte Weise interessant. Aber als ich jetzt in Ho-Chi-Minh-City auf der Straße stand und gegenüber befand sich der Ben-Thanh-Markt, wo ich vorhatte, zu essen und zu trinken, betrachtete ich mit einer gewissen Faszination die nicht enden wollende Masse an Mopedfahrern und -fahrerinnen, oft zwei, drei, vier Personen auf einem Hobel, ganze Familien, winzige Knöpfe mit schwarzen Augen und riesigen, weißen Helmen, elegante Girls mit verspiegelten Sonnenbrillen und bunten Tüchern um die Schultern, korrekte Herren in dunkler Hose und weißem Hemd, alle in fortgeschrittenem Tempo, nebeneinander, hintereinander, durcheinander, jeder halbe Meter Straße war ein kostbarer Besitz.
Ich blickte an mir selbst hinunter. Ich war verschwitzt und müde, so müde, wie man nach einer fünfzehnstündigen Reise ist, und ich war, das konnte ich in den lächelnden, abschätzenden Blicken der anderen Menschen auf der Straße lesen, groß. Ein Riese, hihihi. Ich brauchte Platz. Um die Straße zu überqueren und den Ben-Thanh-Markt zu betreten, würde ich insgesamt etwa dreißig Quadratmeter Straße benötigen, auf der sich zu diesem Zeitpunkt keine flitzenden Mopeds befinden. Was hatte mir Madame Wy bloß gesagt? Wie lautet die Strategie, um heil durch dieses Chaos zu kommen?
Ich ahnte, dass es nicht allein das Vertrauen auf das Umschalten der Ampel sein würde. Hatte sie nicht
irgendetwas von Lebensgefahr gesagt?
Während ich am Straßenrand stand und grübelte, kamen zwei Frauen mit kleinen Kindern an der Hand, warfen kurz einen Blick auf mich – hihihi –, dann auf den Verkehr, der, seit ich hier stand, in unveränderter Intensität strömte, dann gingen sie einfach los, in komfortablem Tempo und ohne jeden Zweifel, dass diese Entscheidung keine Auswirkungen auf ihre körperliche und seelische Unversehrtheit haben würde.
Als ich meinen Mund wieder zumachte, waren sie längst auf der anderen Seite der Straße.
Also gut.
Ich ging los.
Schritt. Für. Schritt.
Über. Die. Straße.
Die Mopeds schossen links und rechts an mir vorbei, aber niemand hinter dem Lenker schien überrascht oder verärgert, eher, hihihi, amüsiert über den tapsigen Riesen. Ich tanzte schweißnass zwischen den Mopedschwärmen herum, die wie Formationen von Fischen oder Vögeln ständig ihre Position auf der Straße wechselten und trotzdem ein homogenes Ganzes blieben – sehr interessant vor allem, wenn von rechts ein neuer Schwarm auftauchte, der ohne Hektik den ersten Schwarm durchdrang und sich wieder auflöste.
Ich staunte nur noch. Keine Panik. Ich war Teil des Schwarms, und irgendwann war ich tatsächlich auf der anderen Straßenseite, das Tor zum Markt stand weit offen, und ich ging hinein.
Es war noch heißer als draußen. Von einzelnen Ständen wehte mir der angenehme Lufthauch eines Ventilators entgegen. Es roch nach Minze und verdorbenem Fisch. Ich dachte, jetzt wäre genau der richtige Zeitpunkt für eine Erfrischung.
Mir war egal, was. Ich wusste nur, die Temperatur musste stimmen, denn schon beim Verlassen des Flughafengebäudes war mir die heiße, schwüle Luft wie ein doofer Scherz ins Gesicht gefahren, und ich hatte keine Ahnung, ob ich lachen oder weinen sollte. Feuchte Hitze, 34 Grad bei annähernd 90 Prozent Luftfeuchtigkeit. Der Hammer.
Also lachte ich ein bisschen, wenigstens so lange, bis mir der vulkanisch ausbrechende Schweiß in die Mundwinkel rann, als hätte ich gerade einen Heulkrampf. Ich hätte genauso gut in Tränen ausbrechen können.
Tief im Inneren des Markts, wo ich gerade große Säcke mit getrockneten Garnelen und Fischen betrachtete, erreichte mich der Ruf der Getränkeverkäuferin. Die freundliche Frau sah, dass ich jetzt einen Fruchtsaft brauchte, und sie hielt mir eine Handgranate entgegen, die eine erfreuliche Kühle ausstrahlte und aus der ein Strohhalm ragte.
Ich nickte. Es war Zeit, etwas zu trinken, von dem ich nicht wusste, was es war (ein Motiv, das in den kommenden Wochen in Vietnam bestimmend sein würde, auch was feste Nahrung betraf).
Coconut, sagte die Händlerin. Coconut.
Echt? Bei mir zuhause kommt Kokosmilch ja aus dem Tetrapak und ich hatte, wie mir gerade auffiel, noch nie einen Gedanken daran verschwendet, wie sie da hineinkommt.
Aber dieses Getränk war herrlich. Es war frisch und leicht. Sein Geschmack war rund, kühl und keinesfalls so übertrieben, wie man das Aroma von Kokosnüssen im Sinn hat (Bounty!). Die grüne Kokosnuss war ihrer Schale entledigt worden, ihr Deckel wurde vor Gebrauch mit ein paar Schlägen eines Messers abgehoben, der Strohhalm eingeschoben.
Ich saß auf einem kleinen Plastikhocker in unmittelbarer Nähe eines Fischstands und genoss den Kokosnusssaft, – der in jedem Lokal zu haben ist und, wie mir später klar wurde, an jeder Straßenecke verkauft wird –, als hätte ich gerade eine geheimnisvolle Spezialität entdeckt, die demnächst die Welt erobern wird.
Ich nahm zwei. Die Verkäuferin richtete, hihihi, den Luftstrom des Ventilators auf mich.
Dann ließ ich mich ins Hotel bringen, wo ich in einer auf 16 Grad heruntergekühlten Empfangshalle eincheckte. Ich hatte viele neue Freunde gewonnen, hunderte Vietnamesen, die sich darüber freuten, dass der lange Europäer, der auf sie wirken musste wie Dirk Nowitzki auf mich, so lustige, nasse Flecken auf seinem Hemd hatte. Dann schlief ich, lang und traumlos.
Die Unterlage, auf der im Hotel Majestic die Kaffeetasse und der Frühstücksteller drapiert waren, bestand aus bunt bedrucktem Papier. Das Papier zeigte Bilder des Hotels, das 1925 im kolonialen Stil am Saigon River erbaut worden war: Das Majestic im Wandel der Zeit, 1925 ein schickes Art-déco-Gebäude, 1940 ein bisschen bunkermäßig umgebaut, 1975 zum ersten Mal ernsthaft verschandelt, in den Neunzigern wieder zaghaft zurückgebaut, heute ein Schatten des historischen Luxushotels, das es einmal war, und, wie der brauchbare kleine Reiseführer „Luxe“ ganz richtig anmerkt, „eigentlich sein müsste“.
Der nächste Umbau steht freilich bevor, und die Frühstücksunterlage zeigte mit bemerkenswerter Nonchalance, wohin die Reise gehen soll. Das Majestic, dieses Landmark-Gebäude in bevorzugter Zentrumslage, wird nicht zum Claridge’s von Saigon werden, zu einem High-End-Hotel, dem man die Geschichte glauben könnte, die es von den neuen Sheratons und Park Hyatts unterscheidet, die ihrerseits „Colonial Style“ behaupten, aber gar nicht haben können.Doch das Majestic geht einen anderen Weg. Es wird, so verspricht das Rendering auf dem Frühstücksblatt, im Jahr 2015 ein Hotelturm mit Glasfassade sein, sleek und neu und mit mindestens zwölf Extrastockwerken und ganz bestimmt mit einer optimierten Gewinn-Verlust-Rechnung. Scheiß auf koloniale Traditionen. Scheiß auf die ganze Graham Greene-Romantik, auf opiumrauchende Amerikaner und ominöse Militärberater. Dies ist jetzt, Blick nach vorn.
Im grünen Sumpfgebiet auf der anderen Seite des Saigon-Rivers wird ein neues Stadtzentrum gebaut, der Tunnel für die vierspurige Stadtautobahn ist bereits angelegt. Noch führt der Tunnel ins Nichts. Aber aus dem Nichts wächst die Zukunft.
Niemand nennt Saigon bei seinem offiziellen Namen „Ho-Chi-Minh-City“, wie die 8-Millionen-plus-Metropole seit dem Sieg der Vietkong über die von den Amerikanern unterstützten Südvietnamesen heißt. Alles vibriert vor Energie. Der „Bitexco Financial Tower“ mit seiner Darth Vader-Visage wurde nur ein paar Blocks vom Hotel Majestic entfernt im District 1 hochgezogen. Er ist mit seiner wegen den starken Winden praktisch unbenutzbaren Hubschrauberlandeplattform das höchste Gebäude der Stadt, aber nur einer von vielen Türmen, die gerade gebaut werden. Die Stadt wächst in alle Richtungen. Ob jetzt acht, neun oder schon zehn Millionen Menschen in Saigon leben, weiß niemand so genau. Die Menschen sind jung. Das Durchschnittsalter in Vietnam liegt bei etwas mehr als 28 Jahren. Das Durchschnittseinkommen hat sich in den letzten Jahren verdreifacht, wobei diese Steigerung vor allem den Menschen in den Städten zugute kommt.
Noch immer arbeiten weit mehr als die Hälfte der über neunzig Millionen Vietnamesen in der Landwirtschaft. Vietnam ist ein für den Weltmarkt wichtiger Erzeuger von Reis und Kaffee. Tropische Früchte, fast jede Art von Gemüse und eine beneidenswerte Vielfalt an Kräutern und Blüten ergänzen das unüberschaubare Angebot an Fisch, Meeresfrüchten und Nutztieren.
Die Versorgung des langgezogenen Landes ist nicht annähernd so entwickelt wie die Ökonomie in den Städten. Das Prinzip des Gesamteinkaufs im Supermarkt, wie er in Europa gang und gäbe ist, hat sich bis jetzt nicht durchgesetzt. Lebensmittel und Alltagsbedarf werden auf unzähligen Märkten, viele von ihnen in zentraler Lage, besorgt. Während jeder Vietnamese statistisch 1,2 Handys besitzt, ist der Besitz eines Kühlschranks keine Selbstverständlichkeit. Die Einkäufe für die täglichen Mahlzeiten werden am Markt erledigt, oft mehrmals täglich, da man sie schließlich zu Hause nicht aufheben kann. Gekocht wird nur mit frischen Produkten, von denen es auf den Märkten ein beeindruckendes Überangebot gibt.
Die Küche ist einfach. Viele traditionelle Gerichte können problemlos auf einer Flamme zubereitet werden. Es gibt zwar neuerdings ein paar amerikanische Fast-Food-Lokale in Saigon, aber die traditionelle vietnamesische Küche ist allgegenwärtig, buchstäblich an jeder Straßenecke.
Ein paar Plastikstühle ohne Lehne, die Flamme eines Gaskochers, die übereinander in Aluminium-pfannen aufbewahrten Zutaten für eine Suppe, die legendäre Pho, für einen Eintopf, für mit Gemüse und Fleisch gefüllte Rollen aus Reispapier – gegen Mittag finden sich Legionen uniformierter Büroangestellter in den Straßen vor den Büros ein, um sich bei den Street-Food-Ständen eine warme Mahlzeit zu besorgen, die vielleicht einen Euro kostet oder auch nur einen halben. Frisches Essen, minimalistisch präsentiert, aber oft von hoher Qualität: Einzelne Stände – oder sollte man besser sagen, bewirtschaftete Quadratmeterchen auf dem Trottoir, umtost vom niemals abebbendem Verkehr – erlangen über ihre Viertel hinaus Berühmtheit, weil die Frauen, die dort kochen, spezielle Gerichte aus Familientradition zubereiten, die nur sie beherrschen und Tag für Tag von Neuem für den Bauch dieser Stadt produzieren.
Die vietnamesische Küche zeigt sich umwerfend. Sie kommt aus einer anderen, industriefernen Zeit und ist in der vor Energie flirrenden Stadt die Konstante, auf die sich alle geeinigt haben. Die Stadt wächst. Sie lässt ihre Geschichte links liegen. Sie hält sich nicht mit Sentimentalitäten auf. Aber zu Mittag muss es eine Schale Reis mit gedämpftem Wasserspinat sein und mit reichlich Knoblauch oder eine frittierte Frühlingsrolle mit Krabbenfleisch oder die klare Suppe mit Reisnudeln, Schweinefleisch und Lotussamen oder die in ein Bananenblatt verpackte Schweinepastete.
Es gab diese und tausend andere Gerichte in großartigen Lokalen. Aber wichtiger: Es gab sie an jeder Ecke, und es gab sie für alle. Saigon wird sich vielleicht schneller verändern, als wir schauen können. Aber die Küche von Saigon wird bleiben, wie sie ist.
Mein zweiter Ausflug aus dem Majestic – die Taxifahrer sprachen es wie „Mah Je Stick“ aus – führte mich die seltsame Dong Khoi Street hinauf, wo neben allerhand ganz interessanten Antiquitäten- und Seidenschal-Läden auch vereinzelte internationale Brands ihre Geschäfte eröffnet haben – ich habe zum Beispiel noch nie einen so gut sortierten Laden mit Rimowa-Koffern gesehen wie in Saigon, und auch noch nie einen, in dem so keine Kunden waren. Aber dann erspähte ich die hohen Fenster der L’Usine, und ich hatte sofort das Gefühl, dass dieser Ort für mich eine besondere Bedeutung bekommen würde.
Ich musste ein bisschen suchen, bis ich den Eingang gefunden hatte, weil man sich dafür durch eine Galerie mit Kitschbildern wühlen musste, vor denen man instinktiv lieber die Flucht ergreifen würde. Dann, an einer Flotte geparkter Scooter und Motorroller vorbei, führt die Treppe in den ersten Stock, und dort öffnet sich L’Usine, ein wunderbarer Department-Store mit angeschlossenem Café in den hohen, schmucklosen Räumen einer ehemaligen Werkstatt. Im Shop kann man neben allerhand leichter Kleidung auch die herrlichen Zahnbürsten von Yumaki bekommen, die man sich sonst aus Japan schicken lassen muss, oder eine neue Lomo-Kamera. Im Café aber kann man vorsichtig die Schwingungen der Stadt aufnehmen, durchatmen, ein brauchbares Sandwich essen und einen Wassermelonensaft trinken, und dann wieder hinaus ins Getümmel, Fahrt aufnehmen.
In der L’Usine lernte ich Henry kennen, einen hier hängengebliebenen Amerikaner. Er habe, behauptete er, ein paar unvergessliche Abende mit Anthony Bourdain verbracht, als dieser für das „Food Network“ hier gewesen sei und sich in Land und Küche und – sagte Henry – Henry verliebt hatte. Jedenfalls habe er, Henry, nach den zehn Tagen mit Tony – er sagte allen Ernstes Tony zu Anthony Bourdain! – wirklich gewusst, zu welcher Zeit eine Flasche „Saigon Export“ am besten schmeckt: nämlich kurz bevor man im Com Nieu mit geschlossenen Augen die
fette Speisekarte öffnet und auf irgendeine Speise zeigt. Der, bei dessen Bestellung die Kellner die Augenbrauen höher ziehen, hat gewonnen.
Ich hörte Henry gern zu. In der L’Usine war es angenehm kühl, und ich fühlte mich seit meinem ersten Glas Wassermelonensaft wie ein Stammgast. Das Publikum war gemischt: Vietnamesen, Chinesen, Amis und ein paar Europäer, die in ihren Reiseführern herumstocherten. Ich brauchte keinen Reiseführer mehr. Ich hatte die Liste, die mir Henry auf einen Zettel gekritzelt hatte.
„For Beginners: Temple Club“, stand ganz oben.
Henry ist eine Pfeife, dachte ich. Aber er hatte recht.
In der Kühle des kontinentalen Clubs, Lederfauteuils, Sofas, Whiskygläser mit schweren Böden, nahm ich meine ersten frischen Spring Rolls. Sie kamen nicht aus der Fritteuse wie das meiste, was wir vom Chinesen ums Eck als Frühlingsrolle kennen, sondern waren frisch gewickelt: In ein befeuchtetes Reisteigblatt kamen Salat, Karotten, Gurken, Krabben oder Fleisch, dünne Reisnudeln (Vermicelli) und Sesamsamen. Dazu die Dips in der richtigen Schärfe und ein vietnamesisches 333-Bier, das machte Mut und vermittelte mir im Vergleich zu den Saigon Export-Trinkern einen Funken von Individualität. Dann probierte ich das gegrillte Rindfleisch im Betelblatt, das mir eine erste Ahnung der großartigen Frische und aromatischen Vielfalt vermittelte, auf die ich in den nächsten Wochen abfahren sollte wie Britney Spears auf Crack.
Ich fühlte mich ziemlich schnell bereit für „Tony’s favourite“, wie Henry vertraulich auf seinem Zettel vermerkt hatte: das Com Nieu Saigon.
Als ich ankam, nahm ein Kellner gerade einen Tontopf aus dem Ofen und zerschlug ihn mit einem Hammer. Das machte ziemlich viel Lärm, ich dachte, der Typ demonstriert für eine Lohnerhöhung, aber schon warf der Kellner den Inhalt des Topfes, einen knusprig gebratenen Reiskuchen, quer durchs Lokal, wo ihn ein anderer Kellner, der gerade noch damit beschäftigt war, einen Tisch abzuwischen, mit einem Teller auffing, dem Absender müde zuzwinkerte und sich anschickte, den Flugreis zu servieren: Der Flug, so der Bildtext, diente dazu, den Reis von möglichen Scherben zu befreien. Der Reiskuchen wurde jetzt mit einer Sauce aus Fischsauce, Limetten und Frühlingszwiebeln übergossen und in Teile geschnitten.
Musste ich natürlich haben.
Der Kuchen war knusprig und gut. Schlicht fantastisch aber waren die Resteln vom Reis, die in der Sauce schwammen und herausgelöffelt und -geschlürft werden mussten. Vielleicht kein schöner Anblick für die anderen, aber für mich ein kleines Fest.
Das Com Nieu Saigon war nicht schön anzusehen. Es hatte keinen Beratungsservice at all, zumal ich bei mehreren Besuchen keinen einzigen Mitarbeiter ausfindig machten konnte, der auch nur ein Wort Englisch sprach. Dennoch war es, trotz seiner tieffliegenden Reiskuchen-Ufos, alles andere als ein Ort überflüssiger Eventgastronomie. Ich bekam hier großartige, frische Bambussprossen, die mir erst vor Augen führten, wie beschissen solche aus der Dose schmecken, subalterne, gebratene Hühnerteile, die mit langen, julienne geschnittenen Ingwerstreifen fantastisch harmonierten, einen Teller knackigen Wasserspinat mit ordentlich Knoblauch und zum ersten Mal ein Gemüse, das ich seither liebe und mir in den Hinterzimmern merkwürdiger Asia-Shops klandestin besorge: bittere Gurke, oder, wie es in anderen Landesteilen heißt, Bittermelone, ein warziges Gurkengewächs, das mit seinen außerordentlichen, zartbitteren Aromen neue Geschmackswelten eröffnet.
Ich spreche jetzt von den ersten paar Seiten der voluminösen Karte. Zu den Spezialitäten mit den diversen Innereien (u. a. rohe Schweineniere) drang ich mangels Zeit, Courage und Saigon Export nicht durch. Das nächste Mal komme ich mit Tony hierher.
Ich blieb ein paar Tage in Saigon, schaute mir diverse Kriegsmuseen an, in denen die Schrecken des Vietnamkriegs oder, wie er hier heißt, des Amerikanischen Kriegs, nicht ganz untendenziös, aber nicht minder drastisch dargestellt werden. Ich stapfte durch den Zoo, wo ich – hihihi – deutlich mehr Aufmerksamkeit erregte als die Elefanten, und probierte ein paar Lokale aus, die von sich behaupteten, Modernität und zarte Fusion zwischen der vietnamischen und der Weltküche herzustellen. Uninteressant. Interessant war, was sich auf der Straße abspielte und in den Verlängerungen der Straßenküchen, wo ebenso selbstverständlich und puristisch gekocht wird wie an jeder Ecke dieser bemerkenswerten Stadt.
Die Suppenküche von PhoởHoa in der Rue Pasteur ist so ein Ort. Die Küche befand sich in einem Glasverschlag gleich neben dem offenen Eingang. Die Tische waren aus Metall, keine Stühle, nur kleine Hocker. Auf jedem Tisch lag ein großer Bund verschiedener Kräuter – Minze, asiatisches Basilikum, chinesischer Koriander –, Limetten, kleingeschnittener Chili, ein Korb mit frisch in Fett herausgebackenem Brot und in Bananenblätter eingepackte Schweinspastetchen. Daneben die Speisekarte, auf der es nur verschiedene Suppen gab – Pho mit Einlagen –, die zur Sicherheit auch mit einem Bild versehen waren, damit man nur darauf zeigen musste und sich mit dem Kellner verstand.
Pho mit Schweinefleisch, mit Huhn, mit Beef und vegetarisch. Ich nahm eine mit Huhn und eine vegetarische, sie schmeckten unterschiedlich, tiefgründig, die Nudeln waren, wie Nudeln sein müssen, der Chili roch warm und würzig und befeuerte die Suppen, die Limetten waren voller Kerne, aber von einem frischen, knackigen Geschmack, dazu ein 333-Bier und ein geschmeidiges Pastetchen, und die Rechnung machte ein bisschen mehr als zwei Euro aus. Ich notierte mir, für diese Suppenküche die Aufnahme ins Unesco-Weltkulturerbe zu beantragen. Was hiermit erledigt ist.
Auf der weiteren Reise, die mich zuerst ins Mekongdelta, später nach Hué, Danang, Hoi An und schließlich nach Hanoi und von dort nach Sapa bis unmittelbar an die chinesische Grenze führte, gewöhnte ich mir an, bereits zum Frühstück Pho zu essen: Es ist eine herrliche, kräftige und doch elegante Weise, den Tag zu beginnen, erfrischt, geweckt und auf beglückende Weise gesättigt zu werden.
Nur kurz das Wichtigste:
Im Mekongdelta lernte ich, vollreife Ananas mit Salz und dünn geschnittenen Chilischoten zu essen, eine Delikatesse, der man auch zu Hause nachschmecken kann.
In Hoi An machte ich mich mit den unglaublichen Sandwiches vertraut, die – Erbe der französischen Kolonialherrschaft – in der Nähe des Markts verkauft wurden (bitte notieren: Phuongs Bakery). Das Sandwich, ein frisch gebackenes Baguette, war einfach der Hammer: Salat, gegrilltes Schweinefleisch, gebackene Tomaten, ein Spiegelei, alles mit einer delikaten, scharfen Sauce angerichtet. Wer das Ding essen kann, ohne sich die Hose vollzukleckern, darf ein zweites bestellen.
In Hanoi schließlich gab ich mich dem Luxus des Hotel Metropole hin, einer sagenhaften Basisstation für Ausflüge in das wunderbare Gewühl der Altstadt der Hauptstadt. An der Bar, an der Graham Greene seinen Vietnam-Klassiker „Der stille Amerikaner“ geschrieben hat, ließ ich mir erklären, dass es bei Hitze und Feuchtigkeit kein besseres Getränk als Gin Tonic gibt – außer vielleicht Wasser, wie der Barkeeper auf Nachfrage zugab.
Bei Madame Hien, wohin mich die Concierge vermittelte, aß ich hervorragende Spring Rolls mit Mangos und herrlichen seidigen Tofu. Im Schwesterlokal, dem La Verticale von Didier Corlou, zeigte sich hingegen von Neuem, dass die Veredelung der vietnamesischen Küche in etwa so notwendig ist wie die Dekonstruktion von Mozzarella und Tomaten.
Aber der tägliche Höhepunkt blieb die Früstücks Pho, wie sie im Spices Garden, dem vietnamesischen Restaurant des Metropole serviert wurde, und wenn ich nach der Essenz dessen gefragt werde, was ich in dem anbetungswürdigen Feinschmeckerland Vietnam erlebt habe, kann ich nur diese drei Buchstaben in eine Reihenfolge bringen. Pho.
Je nach regionaler Sprachfärbung spricht man Pho wie Va oder Vau aus, was für den Geschmack jedoch ohne Bedeutung ist. Der Geschmack aber und die modulhafte Aufmunitionierung der Suppe zu einem warmen Frühstück, einem Imbiss oder einer Hauptmahlzeit, je nachdem, wann gerade ein bisschen Wärme und Beschleunigung benötigt wird, entspringt der selbstverständlichen Improvisationsfähigkeit der Vietnamesen: Was gerade zur Hand ist, wird mit frischer Ware kombiniert und auf klassische Weise für den Verzehr bereitgestellt. Und weil sowieso immer ein Topf mit Suppe auf dem Herd steht, macht man am Originalschauplatz auch keinen großen Unterschied zwischen der Phobo, die aus und mit Rindfleisch zubereitet wird und der Phoga, deren Grundlage das Suppenhuhn ist. Dazwischen ist jede Form der Kombinationssuppe erlaubt und möglich, Hauptsache sie schmeckt, hat die richtige Temperatur (heiß) und die nötigen Einlagen: Nudeln, Kräuter, Sojasprossen, etwas Fleisch und so viel Chilischote, dass die äußere Hitze ihre Entsprechung von innen bekommt (was übrigens im Süden Vietnams etwas mehr und im Norden deutlich weniger Schärfe bedeutet; das Brachiale, wie es auf texanischen Chilifestivals vorherrscht, ist den Vietnamesen fremd).
Susanna Bingemer und Hans Gerlach haben die Phobo in ihrem empfehlenswerten Buch „Vietnam. Küche & Kultur“ (Verlag Gräfe & Unzer) „ganz Vietnam in einer Schüssel“ genannt und darauf hingewiesen, dass in Indochina vor der Kolonialisierung durch die Franzosen nur mit Schwein, Huhn und Meeresfrüchten gekocht worden sei. Die Verwendung von Rindfleisch, von dem man für eine gelungene Pho eine ganze Menge benötigt, sei ein Erbe der Kolonialzeit. Der nicht minder wichtige Gebrauch von Reisnudeln und Ingwer weise hingegen auf die jahrhundertelange Anwesenheit der Chinesen in Vietnam hin.
Das Rezept
Hier das Rezept. Es macht ein bisschen Mühe, falls man zuerst ein paar unersetzliche Ingredienzien für die Suppe im Asiamarkt besorgen muss (vor allem die Fischsauce und die asiatischen Kräuter, allen voran Thaibasilikum und chinesischer Koriander). Aber ich kann garantieren, dass das Ergebnis für jede Mühe entschädigt.
Für 6–8 Personen:
Für die Suppe: 1 Zwiebel 100 g frischer Ingwer 1 kg Rinderknochen, 500 g Suppenfleisch 5 Anissterne, 5 Gewürznelken ½ Zimtstange 5 EL vietnamesische Fischsauce, Salz
Für die Einlage: 250 g schmale Reisbandnudeln (Banh pho) 150 g Rindsfilet im Ganzen
Zum Anrichten: 3 Frühlingszwiebeln 100 g Sojasprossen 1 Bund Thaibasilikum 1 Bund Koriander (chinesischer, wenn möglich) 2–3 Chilischoten 1 Limette
Zuerst die Suppe kochen.
Dafür die Zwiebel ungeschält halbieren und in einem großen Topf mit der Schnittfläche nach unten zehn Minuten rösten, bis die Zwiebelunterseite schwarz ist. Ingwer mit einem Fleischklopfer oder einem Messergriff leicht quetschen und in den Topf geben. Knochen und Rindfleisch zugeben, mit drei Liter Wasser aufgießen und zum Kochen bringen. Sobald die Suppe wallend kocht, Hitze reduzieren und zwei Stunden köcheln lassen.
Den aufsteigenden Schaum regelmäßig und sorgfältig abschöpfen.
Nach zwei Stunden das Siedfleisch aus der Suppe nehmen und zugedeckt abkühlen lassen. Das Rindsfilet in den Tiefkühler legen, um es später besser aufschneiden zu können. Anis, Nelken, Zimt, Fischsauce und Salz in die Suppe geben, noch eine Stunde köcheln lassen (das ist die Stunde, in welcher der raffinierte Geruch, der sich in der Küche breit macht, die Vorfreude steigert).
Nun die Banh pho in kaltes Wasser einweichen (etwa 30 Minuten). Zwiebeln, Sprossen und Kräuter waschen und putzen. Zwiebeln in dünne Ringe schneiden. Blätter von den Kräutern zupfen. Chilis in dünne Ringe schneiden (und anschließend besser nicht den Schlaf aus den Augen reiben). Limette vierteln, etwas Pfeffer mahlen (klingt easy, dauert aber sicher eine gute halbe Stunde).
Das abgekühlte Rindfleisch in dünne Scheiben schneiden (wenn vorhanden, mit der Schneidemaschine, sonst mit scharfer Klinge und ruhiger Hand). Das Filet aus dem Tiefkühler holen und ebenfalls in dünne Streifen schneiden.
Die Suppe durch ein Tuch in einen zweiten Topf gießen. Noch einmal aufkochen.
Nudeln nach Angabe weich kochen. Mit je ein paar Scheiben rohem und gekochtem Rindfleisch auf den Boden der Suppenschälchen geben. Mit sehr heißer Suppe übergießen und servieren.
Nun die Pho je nach Vorliebe mit Kräutern, Zwiebeln, Sprossen und Chili würzen – jedoch nie zu viel von den Aromaten in die Suppe geben, sonst kühlt sie zu schnell ab. Abgekühlte Pho gilt in Vietnam nicht nur als unpassend, sondern schlicht als „verdorben“.
Ich multipliziere die Mengen in dem Rezept (das den Angaben von Susanna Bingemer und Hans Gerlach folgt und selbstverständlich nach Lust und Laune variiert werden kann) mit zwei: Noch besser als zum Abendessen schmeckt die aufgewärmte Pho mit ein paar Nudeln und etwas Chili zum Frühstück – und sie macht wacher als jeder Kaffee. Man hat besser genug davon im Haus.