Das Versprechen von Arles

Die Stadt ist römischen Ursprungs, besitzt südfranzösischen Charakter und internationales Flair. Begehung einer kulturellen Metropole, in der sich eine schöne Zukunft der Gastronomie erahnen lässt.

Foto von / Illustration von Markus Roost
Text von Christian Seiler

Es gibt Restaurants, die man nicht einfach durch eine Tür oder ein Tor betritt. Bei manchen Lokalitäten beginnt das Erlebnis schon lange, bevor uns der Oberkellner begrüßt und an unseren Tisch führt. Wer zum Beispiel das Privileg hatte, einen Tisch in Magnus Nilssons Restaurant Fäviken reservieren zu dürfen, der weiß, dass bereits der Flug von Stockholm nach Östersund und die anschließende einstündige Taxifahrt ins Abseits der schwedischen Provinz Järpen auf das Gesamterlebnis einwirkte. Manche Berichterstatter schwelgten dann schon in der Gewissheit, sich „nahe dem Polarkreis“ aufzuhalten (auch wenn der doch noch ein paar Hundert Kilometer entfernt war), das Essen war nur noch das Pünktchen auf dem i.

Ich erzähle das, weil ich eben so ein Erlebnis hatte, am anderen Ende Europas. Als ich einen Tisch im Restaurant La Chassagnette in Arles gebucht hatte, wusste ich noch nicht, dass ich das hübsche Städtchen im Süden Frankreichs verlassen musste, um nach einer zwanzigminütigen Fahrt durch wundersame Landschaften der Camargue an einem Ort anzukommen, wo auf den ersten Blick alles, nur kein Restaurant zu sehen war. Ein Schild verriet zwar, dass es hier etwas zu essen gäbe, aber weder ein Haus war zu sehen, noch irgendwer, der mich dorthin führen würde.

In Empfang nahmen mich stattdessen lange Reihen vorbildlich gepflanzten Gemüses, Rabatten von Feigenbäumen und Blumen, Stauden von Artischocken, prachtvoll blühendes Allium, ein Gewächshaus, in dem Bananen und Südfrüchte gediehen, Beete mit Roten Rüben und Melonen, eine Arche Noah der Schmuck- und Nutzpflanzen. Irgendwann sah ich den Brunnen in dem symmetrisch angelegten Küchengarten, und von dort führte der Weg unter schweren Blätterbögen unverkennbar ins Lokal. Feigen, Wein, wilder Wein, blühende Winden.

Ich hatte noch keinen Bissen gegessen, aber meine Stimmung war bereits im Höhenflug, als hätte ich zum Andante aus Schuberts Zweiter Symphonie ein Glas besten Champagners getrunken. Es passte ins Bild, dass das Essen an schweren, grob gezimmerten Holztischen serviert wurde, ohne Tischwäsche, und meine Vorfreude steigerte sich in eine Art gezähmte Euphorie, als die ersten Snacks aus der Küche kamen, die so pur waren, wie ich mir das schon immer gewünscht habe. Neben einer kleinen Käsetartelette lag eine rund zugeschnittene Rübe, rosa wie ein Wiener Punschkrapferl, und wartete darauf, geknackt zu werden. Die Küche hatte ihr die Ehre erwiesen, sie nicht etwa zuzubereiten, sondern sie nur zu inszenieren, auf einem riesigen Feigenblatt. Außerdem befand sich noch ein winziges Tomätchen auf dem Snackteller, und ich wusste, dass ein Wunsch, den ich seit Jahren mit mir herumtrage, erhört worden war.

Dieser Wunsch zielt darauf ab, dass Gastronomen, die über die besten Lebensmittel verfügen, diese auch ihren Kunden zur Verfügung stellen, nach dem Motto: Wenn ich dir eine Olive gebe, dann ist das die Olive der Oliven. Schon einmal, im italienischen Dreisterner Piazza Duomo in Alba, hatte ich dieses Erweckungserlebnis gehabt, als zur Vorspeise zwei Oliven ankamen. Es waren aber, welche Enttäuschung, gar keine Oliven, sondern kunstvoll mit kleinen Fingern und Pinzetten zubereitete Olivenimitationen, deren Geschmack ich schon längst wieder vergessen habe. Den der Tomate im La Chassagnette werde ich hingegen nicht so schnell vergessen, und dafür bin ich ewig dankbar.

Ich aß an diesem Abend ein wirklich spannendes Menü, dessen Hauptdarsteller die Gemüsesorten aus dem eigenen Garten waren (Rüben, Kirschen, Kohlrabi, Bohnen, erste Melonen, abgesehen von ein paar rohen Scampi, herausragenden Rotbarben und einem Streifen klassisch zubereiteter Taubenbrust, eine Delikatesse). Die Küche unter Küchenchef Armand Arnal folgt damit einem Wunsch der Schweizer Philanthropin Maja Hoffmann, die in Arles nicht nur das ex­travagante Kunstmuseum Luma ins Leben gerufen hat, sondern auch eine Reihe erstklassiger Hotels und Restaurants betreibt. Arnal bringt auf den Tisch, was die Erde rund ums Restaurant freigibt (manchmal, wie etwa bei der Bohnenroulade, hätte ich mir allerdings ein bisschen mehr kulinarische Fantasie gewünscht).

Als ich später, es war schon dunkel, mein letztes Dessert verzehrt hatte – eine hauchdünne Crêpe mit eingelegten Kirschen und Kirscheis –, sehnte ich mich schon nach dem nächsten Besuch im Herbst, wenn der Garten die Großzügigkeit selbst ist. Als ich zurück in die Stadt fuhr, um mein Quartier im Hotel Le Cloître zu beziehen, einem großzügig umgebauten Häuserkomplex in der Nähe des Klosters von Arles, zweifelte ich ein bisschen an mir. War ich doch an diesem Tag erst ein paar Hundert Kilometer aus der Schweiz hierhergefahren, hatte mich noch nicht einmal ein bisschen orientiert, wo ich war, wo ich sein wollte, wo ich sein würde, und hatte mir schon den kulinarischen Höhepunkt der Tage, die ich hier verbringen wollte, aus dem Regal gepickt.

Schön blöd, dachte ich ein bisschen unwillig. Je mehr du wissen solltest, desto weniger weißt du. Aber ich hatte in Zürich auf der Straße Jakob Zeller getroffen, der derzeit im Klösterle in Lech seiner Arbeit nachgeht – formidabel, wie ich finde –, und mir erzählte, dass ich in Arles unbedingt das La Chassagnette aufsuchen müsse, wo er selbst in seinen Lehr- und Wanderjahren am Herd gestanden sei. Also nichts wie ran ans Handy, den nächstmöglichen Tisch reservieren, und der war eben heute gewesen. Die Gier und die Angst, etwas Entscheidendes zu verpassen, sind zwar gute Motivatoren, aber keine guten Dramaturgen.

Das Taxi spuckte mich auf der Place de la République aus. Ich ging zu Fuß die schmale Gasse zum Hotel hinauf. Ein Glück, dass die zum Hotel gehörige Épicerie noch offen hatte, dort bestellte ich mir ein Glas kühlen Burgunders und betrachtete die Krone des frugalen Blauglockenbaums, der sich hier mitten im dicht verbauten Stadtgebiet einen Platz gesucht hatte. Von Zeit zu Zeit, wenn der warme Wind einen Stoß schickte, schwebte eines der elefantösen Blätter zu Boden, und ich verfolgte seinen Kurs, leicht betrunken, satt und jetzt doch ein bisschen glücklich, hier zu sein und nirgendwo anders. Der freundliche Nachtportier des Cloître entdeckte mich, als er vor dem Eingang eine Zigarette rauchen wollte, und wir fingen ein Gespräch an. Er erzählte mir, dass er es um diese Tageszeit in Arles am schönsten finde, dieser alten römischen Stadt, die vor mehr als 2.000 Jahren unter dem Namen Arelate – Stadt im Sumpf – von der römischen Besatzungsmacht zu einer römischen Siedlung mit allen Schikanen ausgebaut worden war, Forum, Amphitheater, riesige Arena.

„Wieso?“, fragte ich ahnungslos. „Warte auf morgen Vormittag, dann wirst du es sehen.“ Ich wartete also auf den morgigen Vormittag, und dann sah ich schon die Gruppen von Amerikanern durch die Gasse strömen, die Fotoapparate im Anschlag und mehr oder weniger im Gleichschritt der Reiseführerin folgend, die ihnen bei der Gruppenein­teilung auf dem Flusskreuzfahrtschiff zugeteilt worden war. Arles ist nämlich nicht nur ein Zen­trum vielfältiger Kulturaktivitäten, ­von den Rencontres de la Photographie, die seit 1970 in jedem Sommer die Kunst der visuellen Komposition feiern, über die Ausstellungen in der Fondation Vincent van Gogh bis zum von Frank Gehry geplanten spektakulären Museumsturm Luma Arles, sondern auch Landeplatz der Flusskreuzfahrtschiffe der Firma Viking, die auf der Rhône stromabwärts fahren und Arles als Höhepunkt ihrer Landgänge ausgemacht haben. Mir ist das Prinzip des kollektiven Reisens sowieso ein Rätsel, auch das Prinzip der Kreuzfahrt will mir nicht einleuchten. Aber in den engen Gassen von Arles ist die kollektive Rudelbildung tatsächlich eine handfeste ­Belästigung. Zum Glück – für mich, nicht für die Gastronomie von Arles – ziehen die Gruppen nur am Vormittag durch die Stadt, dann müssen sie zurück aufs Schiff, um dort zu essen und ihren Mittagsschlaf zu halten.

Intimität, Lässigkeit und Brillanz: Arles bietet eigentlich alles, was wir suchen.

Als sich die Szenerie also geklärt hatte, ging ich die Rue de Cloître bergauf und stand schon ein paar Schritte später vor den Resten des ­römischen Amphitheaters. Ich kaufte mir eine Eintrittskarte, kletterte bis auf die oberen Ränge hinauf, wo seinerzeit das gemeine Volk den Darbietungen der Sänger und Schauspieler lauschen durfte, während die Schönen und Mächtigen in den untersten Reihen dem Geschehen folgten. Da­ran hat sich, wenn ich an den Sitzplan der Wiener Staatsoper oder der Salzburger Festspiele denke, bis heute nichts geändert.

Unmittelbar neben dem Amphitheater steht die Arena, ein Abbild des Kolosseums in Rom, und ich brachte mich im monumentalen Inneren, wo im Sommer Konzerte und Stierkämpfe stattfinden, in Sicherheit vor der sengenden Sonne. Das Streulicht in den Tausende Jahre alten Gängen war atemberaubend schön. Ich begriff augenblicklich, warum Vincent van Gogh hier so gern gemalt hat. Durch ein Wirrwarr von engen, blumengeschmückten Gassen fand ich zur Place du Forum, wo ich mich vor dem schönen Hotel Nord-Pinus in den Schanigarten setzte und mir innerhalb von 30 Sekunden angewöhnte, einen Pastis zu trinken und das Geschehen auf dem Platz zu beobachten.

Zum Beispiel sah ich einen von grobschlächtigen Sammlern umschwärmten japanischen Künstler mit extravaganter Montur und einem kleinen Hund, dessen Pfoten, wie ich vermute, noch nie die Erde berührt haben. Ich sah einen wunderschönen Mann, der in einem engen, weißen Kleid über den Platz schwebte, um sich an der Eisdiele eine Portion Pistazieneis zu holen. Ich hörte – wider Willen, aber ohne Chance auf Entkommen – einer Britin mit wirksam gestrafftem Gesicht zu, wie sie einer anonymen Adressatin am Telefon das Drama ihrer gerade über die Bühne gegangenen Scheidung beschwor. Ich sah zahl­losen Asiaten dabei zu, wie sie sich vor dem Café Van Gogh in Stellung brachten und für das obligate Beleg­foto Vincent von Don McLean zwitscherten.

Und ich strafte mich selbst Lügen. Denn ich kam wider Erwarten in den Genuss außergewöhnlich guter Mahlzeiten, die sich hinter dem Hochamt in der Chassagnette keineswegs verstecken mussten. Waren die À-la- carte-Abendessen im Le Galoubet und dem L’Arlatan noch wirklich gute, wenn auch nicht herausragende Beispiele für die südfranzösische Sommerküche – Auberginenküchlein, gefüllte Zucchini, Pulpo mit Couscous, Muscheln à la plancha, getrockneter Thunfisch –, so erlebte ich gleich in zwei Lokalen spektakuläre Überraschungen.

Am ersten Abend hatte ich auf Empfehlung einer gut informierten Vertrauensperson durch ein singendes, swingendes Arles in ein Lokal namens Inari gefunden. Der Gesang und der Rhythmus kamen daher, dass an einem Sommertag im Jahr in ganz Arles, dieser Kleinstadt mit gut 50.000 Einwohnern und einer nicht genau definierten Menge an Touristen, an allen großen und vielen
kleinen Plätzen Musik gemacht wird – vom Ray-Charles-Imitator bis zum Elektro-DJ. Ich hatte das Glück, dass der Typ an der DJ-Kanzel, der die Place Voltaire beschallte, an deren Ecke das Inari liegt, einen schlechten Geschmack hatte und lauter Achtzigerjahremusik spielte, die mir ausnehmend gut gefiel: Prince, Depeche Mode usw.

Aber spätestens, als der erste Gang serviert wurde, galt meine volle Aufmerksamkeit dem Teller vor mir, nicht dem Sound im Hintergrund – und nur noch ein bisschen dem Typen, der in einer Wohnung schräg gegenüber eine überdimensionale afghanische Flagge an der Wand hängen hatte und davor eigenartige Gymnastikübungen absolvierte. Chefin in der winzigen Inari-Küche ist Céline Pham, eine Fran­zösin vietnamesischer Herkunft, die ihr Handwerk an der berühmten Ferrandi School gelernt und in Pariser Etablissements (Saturne, Chez Aline, Septime) verfeinert hat. Angeboten wird ausschließlich ein fünfgängiges Menü, das ­unter dem großen Begriff „Cuisine de marché“, Marktküche, läuft, aber eindeutig mehr hält, als der etwas inflationäre Titel verspricht.

Hier wird Fine-Dining-Qualität in Zugänglichkeit verwandelt.

Das Essen begann mit einer in Würfel geschnittenen roh marinierten Meeräsche mit Frischkäse, Korianderöl, Senfkörnern, einem scharfen asiatischen Salat und darübergestreuten Reisflocken. Das Gericht schaffte es, die Vorzüge seiner einzelnen Bestandteile nahezu perfekt zu kombinieren, Texturen herauszuarbeiten und zu ergänzen und den tiefen Geschmack des Fischs mit der Schärfe des Salats und dem Crunch der Reisflocken zu kombinieren. Der zweite Gang hatte einen ähnlichen Look – das Grün der Blätter dominierte, der Geschmack befand sich unscheinbar darunter versteckt –, aber die Fährte war falsch. Es war eine Kombination aus wildem Spargel, Spinatcreme, Feta, Shiitakepilzen, Rotem Basilikum, Roten und Gelben Rüben und, als markante Finalisierung, einem Pulver von der Nori-Alge, das dem Teller einen entsprechenden Kick verlieh und ihn mindestens in den Rang eines Fine-Dining-Gerichts hob.

Draußen begann es, warm zu regnen, und ich war begeistert. Hörte mit dem Fuß klopfend unter meiner ­Markise zu, wie der DJ Funky Town spielte und war endgültig von den Socken, als aus der Küche der Seeteufel mit Krustentierfond, Zucchini-spaghetti, Zitronen-Tagetes und, Achtung, einem Sanddornsaft kam, ein fulminantes Spiel mit Umami und Säure, Prädikat: Champions League. Den Fleischgang – ein sous-vide gegartes Stück Onglet mit Räucheraal, Amarantblättern, Kartoffelpüree und scharfen Kirschen – mochte ich, hätte ihn aber durchaus gegen eine zweite Lieferung Seeteufel getauscht. Das Dessert hingegen – ein Fiancé mit ­Basilikumeis, Erdbeeren, Kirschenhälften, Shiso-Blättern und einer scharfen Meringue – hätte ich niemals wieder hergegeben.

Jetzt das Beste: Der Spaß kostete genau 55 Euro (weshalb ich mir auch einen ganz hübschen Burgunder von der Weinkarte pflückte, die klarerweise zu 90 Prozent mit Naturweinen bestückt ist, aber ein paar Fluchtwege offen lässt). Nach dem Essen sparte ich nicht mit Lob für die großartige Leistung der jungen Köchin. Aber die sagte nur: „Geh doch morgen ins Chardon. Dort kochen sie mindestens genauso gut.“ Das Chardon war nicht auf meiner To-do-Liste gestanden, und selbstverständlich war, als ich augenblicklich einen Tisch reservieren wollte, keiner mehr frei, worauf ich mich, ganz gegen meine sonstigen Gewohnheiten, auf der Warteliste inskribierte.

Inzwischen hatte ich Arles so gut kennengelernt, dass ich der Stadt mit intrinsischen Automatismen begegnen konnte. Ich spazierte durch die engen Gassen, die von Oleandern und Winden, von Bougainvilleen und Kletterrosen bewachsen sind, schaute mir das Angebot an Boutiquen und Geschäften an, von denen meine liebste La Moustique – die Mücke – heißt, nicht ohne Grund: Im ehemaligen Sumpf fühlen sich die Tierchen immer noch sehr, sehr wohl. Ich ging ans Ufer der nahen Rhône, die hier breit und mächtig ist, und betrachtete kopfschüttelnd die riesigen Flusskreuzfahrtschiffe. Folgte dem Fluss bis ins Roquette-Viertel, das ich mit akribischem Eifer, um auch nicht nur eine Nebengasse auszulassen, durchquerte, gierig nach der unprätentiösen Schönheit, die hier im Überfluss vorhanden ist. Schließlich fand ich immer zur Place du ­Forum zurück, um im Garten des ­Hotels Nord-Pinus gewohnheitsmäßig meinen Ricard zu trinken, auch wenn es auf der Karte als Alternative den ­eleganteren Henri Bardouin gab. Aber nicht für mich.

Ich verliebte mich in den Schatten unter den Platanen, die zahllosen kleinen Buchhandlungen, die Stimmung auf den Straßen, das Frühstück im veganen Restaurant an der Espace Van Gogh, einem umgebauten Spital, in dem Van Gogh persönlich gelegen war und wo es den besten Porridge gab, auch wenn – Wermutstropfen – regelmäßig die Viking-Gruppen hier aufschlugen und staunend ein berühmtes Van-Gogh-Gemälde, Der Garten des Hospitals, mit der Wirklichkeit abglichen. Schön übrigens, dass ich nicht der einzige Österreicher „in town“ war: Im Hospitalgarten erblickte ich zwei Herrschaften aus Wien, ausgerüstet mit antiken Fahrrädern und Jerseys des Post SV Floridsdorf.
Natürlich sah ich mir auch die Luma-Anlage der Schweizer Pharma-Erbin Maja Hoffmann – Hoffmann-La Roche, schon mal gehört? – mehrmals an, die am Rand des Zentrums auf dem stillgelegten Industriegelände der SNCF, der französischen Bahn, entwickelt wurde. Im Mittelpunkt steht der 56 Meter hohe Turm, den Frank Gehry entworfen hat und der nicht ganz zufällig an das vom selben Architekten entworfene Guggenheim-Museum in Bilbao erinnern soll. Ich sah im auf Bitterkalt hinunterklimatisierten Hauptausstellungsraum eine großartige Präsentation der Fotografien von Diane Arbus und benutzte zum Abschluss – es ist bekanntlich nie zu spät für eine glückliche Kindheit – die in Form einer Doppelhelix angelegte Rutsche, die der Künstler Carsten Höller vom dritten Stock bis ins Erdgeschoß angelegt hat. Meine Lieblingsperspektive auf den fraktalen, silber glänzenden Turm stellte jedenfalls die Position hinter der rosa Monumentalskulptur von Franz West dar. Ein Glück, dass Barbie den Ort noch nicht entdeckt hat, sie wäre begeistert.

Es macht keinen Sinn, zwei Tage zu bleiben.
Mindestens sechs ­sollten es schon sein.

Natürlich betrachtete ich den Turm auch von der eindrucksvollen römischen Grabanlage aus, den Alyscamps, die gleich in der Nachbarschaft liegen und der Vergänglichkeit ein monumentales Denkmal setzen. Vielleicht gefiel mir diese Jahrtausende umspannende Doppelperspektive sogar am besten. Jedenfalls läutete mein Telefon, als ich in einer Buchhandlung Zeitschriften sortierte, von denen ich noch nie gehört hatte, eine französische Nummer, und ich begriff zuerst gar nicht, wer etwas von mir wollen könnte, aber es war das Chardon. Mein Tisch sei reserviert, ob ich rückbestätigen möchte. Ich wollte.

Anschließend musste ich andere Verabredungen rückgängig machen, weil ich noch nie in meinem Leben Erfolg auf einer Warteliste gehabt hatte, ja, die Existenz von Wartelisten bezweifelt und für psychologische Ablenkungsmaßnahmen saturierter Wirte gehalten hatte. Aber heute war der Tag, an dem ich Lügen gestraft wurde. Und es war ein Glück, dass ich Lügen gestraft wurde. Man darf sich das Chardon nicht als großes Lokal vorstellen. Sein Garten – eigentlich ein Euphemismus, es ist mehr eine Art Korridor zwischen Hausmauern – ist zwischen die Rue des Arènes und zwei schmale Häuser eingezwängt. Im einen Haus stehen ein paar winzige Tische, im anderen ist die Küche untergebracht, die so klein ist, dass ich mir so manche Speisewagenküchen komfortabler vorstelle. In dieser Küche arbeitete an diesem Abend der völlig verschwitzte Brite Daniel Morgan. Morgan war in London klassisch ausgebildet worden. Seine Stationen umfassten The Ritz, The Square, Sketch und Maze by Gordon Ramsay, bevor er nach einer Weltreise und Arbeitsstätten in Indien, Japan, Kolumbien, Schweden und Dänemark in Paris sein eigenes Restaurant namens Salt eröffnete.

Das Salt, ein Aushängeschild der gehobenen Bistrokultur, bekam eine lange Reihe von Auszeichnungen, schloss aber 2021. Seither ist Morgan auf Reisen und taucht für Events oder kurzfristige Engagements an speziellen Orten auf, zum Beispiel im Chardon, das auf ein permanentes Gastkochkonzept setzt. In diesem Jahr waren das während der Wintersaison zum Beispiel die libanesischen Köche Gab & Joyce, Daniel Morgan während des Sommers, das niederländisch-englische Kollektiv Bits & Bobs im Herbst und die Iranerin Minou Sabahi bis zur Winterpause. Fußballfans würden die starke Ähnlichkeit zwischen Daniel Morgan und dem Liverpool-Torhüter Alisson Becker auf den ersten Blick feststellen. Mir gelang das erst, als ich an diesem wundervollen Abend an der Küche vorbei auf die Toilette ging, die am ­Juché des Küchenhauses liegt. Da war ich allerdings schon in gehobener Stimmung, weil ich die ersten beiden Gänge des Morgan-Menüs hinter mir hatte und beschwingt war von dieser außerordentlichen Handwerkskunst, die gleichzeitig lässig und virtuos über die Rampe kam. Die Tatsache, dass der Tisch so klein war, dass ich ihn zwischendurch mit der Lupe suchen musste, tat dem Genuss keinen Abbruch.

Wie im Inari startete Morgan sein Menü mit einer roh marinierten Meeräsche, die er allerdings am Stück beließ, mit Gurke, Basilikum und einer seelenvollen Leche di Tigre kombinierte und mit knusprigem Buchweizen krönte. Ich kann nicht sagen, welche Komposition spektakulärer war, aber ich weiß sicher, dass ich in Zukunft stets die Hand heben werde, wenn irgendwo eine roh marinierte Meeräsche angeboten wird. Der zweite Gang war das Überzeugendste, was ich seit langer Zeit gegessen hatte: eine Ajoblanco – eine Kaltschale aus blanchierten Mandeln, altbackenem Weißbrot, Knoblauch, Gurke und Olivenöl –, die in einem Schüsselchen aus Melonen- und Nektarinenscheiben serviert wurde. Sie müssen sich das wie ein Geschirr vorstellen, dessen Wände abwechselnd aus Melonen und Nektarinen konstruiert sind und in dessen Mitte die eiskalte Suppe kommt. Die reife Süße der zimmerwarmen Früchte kontrastierte auf geradezu erhebende Weise mit der schockkalten Suppe, nie irgendwo gesehen, nie vergleichbar erlebt. Allein dieses Gericht hätte die Reise nach Arles gelohnt.

Später kam ein Tintenfisch mit, was selten ist, einer überzeugenden Kombination aus Kürbis und Zucchini, begleitet von Meerfenchel und einer Hollandaise mit Pistazienstückchen. Und auch der Hauptgang hielt das Niveau: zwei Stückchen vom Lammrücken, deren Geschmeidigkeit von einer Sardinen- und einer Zucchini-Jalapeño-Creme inszeniert wurde. Selbst die grünen Bohnen hatten Klasse. Weil Sie fragen: Auch dieses Menü kostete 55 Euro, und ich war so glücklich darüber, endlich wieder einmal Orte gefunden zu haben, die meine Erwartungen bei Weitem übertreffen, die eine wohltuende Art des Preis-Wert-Verhältnisses zelebrieren, dass ich die zahllosen Erlebnisse der letzten Monate vergaß, als es umgekehrt war: alle diese Essen, bei denen nur die Rechnung in der Champions League spielte.

Dass mir das ausgerechnet in Frankreich passierte, war ein interessanter Zufall, vielleicht aber auch nicht. Da sich das Fine Dining sukzessive von den Möglichkeiten des Mittelstands entfernt und zu einer Branche wird, die sich nur noch Immobilienentwickler, Hedgefonds-Manager und IT-Zampanos leisten können (abgesehen von hungrigen Erben), braucht es diese Entwicklung wie einen Bissen Brot. Ich war jedenfalls bis zum Halskragen glücklich, als ich mein Dessert – Kirschen im Salbeisud mit Kombu, Salz und einer Salbei-Millefeuille – verzehrte und mir zur Feier des Tages noch ein Glas Rotwein bestellte, um in der warm beleuchteten Rue des Arènes das Licht zu genießen, das am Ende jedes Tunnels erscheint. —

Armand Arnal ist der Küchenchef des La Chassagnette. Star seiner Küche sind allerdings die Lebensmittel aus dem grandiosen Küchengarten.
© Benoît Millot

© Iris Millot & Ambre Husson
Blick auf den Eingang des Hotels Le Cloître und das dazugehörige Bistro L’Épicerie – hinter dem Blauglockenbaum
© Victor & Simon / Joana Luz
Bar und Schanigarten des Hotels Nord-Pinus, dem Must-be für den täglichen Ricard-Aperitiv (unten)
© Adrian Deweerdt
© Joana Luz
Das Restaurant Inari von Küchenchefin Céline Pham an der Place Voltaire – köstlich und leistbar
© Ilya Foodstories
© Ilya Foodstories
© Ilya Foodstories
das Restaurant im Hotel L’Arlatan (u.) – etwas fancy gestaltet, aber in der Küche absolut seriös und unterhaltsam
© Adrian Deweerdt
© Adrian Deweerdt
Das Restaurant Chardon: wechselnde Gastköche und Spitzenqualität auf kleinstem Raum
© Adrian Bautista
© Adrian Bautista

Adressen

La Chassagnette
chassagnette.fr

Le Cloître & Épicerie
lecloitre.com

Le Nord-Pinus
nord-pinus.com

Le Galoubet
18 Rue du Dr Fanton 13200 Arles
T +33 4 90 93 18 11

L’Arlatan
arlatan.com

Inari
inari-arles.com

Chardon
hellochardon.com