Die Burgenland-Safari

Eine neue Generation von Winzern arbeitet an der Wiederherstellung eines historischen Weinlands, auf beiden Seiten der heutigen Grenze. Ein Erfahrungsbericht.

Text von Christian Seiler
Illustration von Markus Roost

Als ich über die Weinberge nach Deutsch-Schützen hinaufkletterte, um bei Christoph Wachter anzuklopfen und um ein Glas Wein zu bitten oder zwei, überkam mich ein undefinierbares Völlegefühl. Es war vielmehr das Echo eines Völlegefühls, das sich vor ein paar Jahren meiner bemächtigt hatte, als ich nämlich an einem der legendären Sonntagsausflüge des Pepi Sodoma teilgenommen hatte. Sie wissen schon: Der legendäre Wirt aus Tulln packte seinerzeit an den Schließtagen sich selbst und seine Frau Gerti zusammen und reiste für 48 Stunden ins Piemont, in die Toskana oder ins Burgund, um dort selbst gut zu essen und vor allem um Wein einzukaufen. Anschließend sperrte er satt, glücklich und mit erweitertem Horizont das eigene Geschäft wieder auf. Manchmal, wie im speziellen Fall, genügte auch ein Trip ins Südburgenland, den ich auf dem Rücksitz der Sodoma-Kutsche mitmachte. Die Reise in den Süden verlief nicht ohne Zwischenfälle, weil Pepi sich einbildete, noch einen Abstecher bei den Grünauers vorausschicken zu müssen, die uns vor dem Essen in Deutsch-Schützen schon einen kleinen Imbiss servierten, der für acht Husaren gereicht hätte. Unter den Lauben des Winzerhofs Wachter-Wiesler stand später Tristan Hanzl, ein fliegender Koch, der ein Menü vorbereitete, das mich, wenn ich heute daran denke, immer noch satt macht. Beim Nachdenken darüber fällt mir ein, dass ich mir diese Methode patentieren lassen und als Genussdiät verkaufen könnte, um endlich reich und berühmt zu werden.

Verzeihen Sie mir diesen Exkurs schon zu Beginn meiner Geschichte über die Weine des Burgenlands. Christoph Wachter musste sich die fade Geschichte auch anhören, bevor er langsam und unendlich freundlich, wie es seine Art ist, die Initiative übernahm und mein Interesse auf den Gegenstand lenkte, wegen dem ich hier war: „Was willst du zuerst kosten?“ Ich überließ Christoph diese Entscheidung, sodass wir, für mich durchaus unerwartet, bei einem Grünen Veltliner begannen, der alles andere als ein Konfektionsveltliner war, wie wir ihn etwa aus dem Weinviertel kennen. Ich weiß, es ist noch ein bisschen früh, um schon mit einer Geschichtslektion anzufangen, aber die Tatsache, dass im Burgenland durchaus herausragende Veltliner gemacht werden, ist ein schlagendes Beispiel dafür, welchen Einfluss die Geschichte darauf hat, wie in diesem frischesten Bundesland Österreichs Weinpolitik gemacht wurde (und wird).

Wie Sie wissen, kam das Burgenland – Deutsch-Westungarn – 1921 als eine Folge der Friedensverhandlungen von St. Germain zu Österreich. Ursprünglich hätte auch Ödenburg, die natürlich gewachsene Hauptstadt der Region, mit im Paket sein sollen, was aber – nicht meine, sondern die historische Meinung – vor allem von italienischen Kräften hintertrieben wurde, sodass Ödenburg und sein direktes Umland nach einer zweifelhaften Volksabstimmung an Ungarn fielen und die Stadt zu Šopron wurde. Ich war am Tag davor mit dem Winzer und Burgenlandologen Roland Velich durch Šopron spaziert. Die Schönheit der Stadt ist natürlich mit ihrem historischen Reichtum verbunden, der wiederum direkt mit dem Wein zu tun hat. Nicht nur, dass rund um Ödenburg Wein angebaut wurde. Sämtliche Fäden des Weinhandels, also auch der Weinkultur, liefen in den Kellern und Kontoren der Stadt zusammen. Das Kappen der historischen Verbindungen gab nicht nur dem neuen österreichischen Bundesland seine schmale, blinddarmmäßige Form, sondern hinterließ es auch praktisch ohne Infrastruktur – bis heute gibt es keine sinnvollen Bahnverbindungen von Wien ins Südburgenland – und ohne ein Übermaß an kultureller Identität.

Ich nahm einen Schluck von Christophs Veltliner, der würzig und erdig war, ein selbstbewusster, köstlicher Wein. Dass Grüner Veltliner im Burgenland angebaut wurde, hatte mir Roland Velich so erklärt: Man habe im Burgenland immer stark darauf geachtet, was der österreichische Markt verlange. Da Grüner Veltliner, der im riesigen Niederösterreich sein Heimspiel austrägt, stark nachgefragt wurde, pflanzten ihn eben auch viele burgenländische Weinbauern. Noch heute ist der Grüne Veltliner hinter Blaufränkisch und Zweigelt die am meisten angebaute Rebsorte des Landes, auch wenn sie in der langen Weinhistorie der Region nie eine prägende Rolle gespielt hatte.

Christoph brachte jetzt einen Olaszrizling, der auch auf seinem Etikett so heißen darf und damit Zugehörigkeiten markiert. Olaszrizling, also Welschriesling, gehört ebenso zur burgenländisch-ungarischen Weinkultur wie der Kékfrankos, der auch für das Burgenland längst identitätsstiftende Blaufränkisch. Wieder war ich erstaunt von der Eigenwilligkeit des Weins – Christoph nennt ihn „ein bisschen ungezogen“ – und es fällt mir schwer, seinen Charakter nicht mit dem Geschmack abzugleichen, den ich mir eingeprägt habe, als ich aus der Südsteiermark noch die süffigen, süßen Welschrieslinge, die als Einstiegsweine zu den süffigen, nach Gras duftenden Sauvignon blancs galten, nach Hause schaffte. Es brauchte also nur zwei Weine, um ein paar Gewissheiten grandios zu zerstören. Grüner Veltliner muss gar nicht so schmecken wie die oft durch Reinzuchthefen und den Geschmack der entsprechenden Verkoster (und Verteiler von staatlichen Prüfnummern) stabilisierten Weinviertel-DAC-Weine, und zwischen Christophs Olaszrizling und den noch immer in unserem Geschmacksbild verankerten südsteirischen Welsch­rieslingen liegen Welten voller Funkeln, Überraschungen und Poesie.

Wir schwenkten dann auf Blaufränkisch um, und damit begann das Fest erst wirklich. Christoph Wachter baut seine Weine in Deutsch-Schützen und am Eisenberg an. Er vinifiziert Einzellagen, die er je nach Qualität in seine „Brot-und-Butter-Weine“ mischt, in seine Dorflagen oder in seine dezidierten Lagenweine namens Reihburg, Saybritz oder Weinberg. Es sind kühle, elegante Weine, im Stil natürlich verwandt, im Geschmacksspektrum von unterschiedlichen Spektralfarben geprägt, denen man lange nachhängen möchte, vielleicht auch noch länger. Für mich manifestiert sich die Qualität eines Weins sowieso nicht mit dem ersten Schluck, den die professionellen Verkoster routiniert analysieren, in seine Geschmackskomponenten zerlegen und dann wieder ausspucken.

Ich muss Wein wie Musik genießen. Der große isländische Pianist Víkingur Ólafsson, der gerade mit seiner Interpretation von Bachs Goldberg-Variationen rund um die Welt tourt, hat eine interessante Gebrauchsanweisung für ein tieferes Verständnis seiner Musik mitgeliefert: „Am besten hörst du sie [die Goldberg-Variationen] einen Monat lang jeden Tag morgens als Erstes. Und dann schau, wo du am ersten Tag des nächsten Monats stehst. Du wirst anders über dieses Stück denken. Ich kann dir versprechen, dass du eine Menge neuer Ideen haben wirst – und jede Menge Liebe für diese Musik.“ Mir geht es so mit Wein. Ich möchte ihn zwar nicht unbedingt „morgens als Erstes“ genießen, aber doch regelmäßig, mehrere Tage hinterei­nander, um vertraut mit ihm zu werden, seine Launen kennenzulernen, seine Tiefen auszuloten und mich im Wechselspiel meiner eigenen Stimmungen und jenen des Weins immer wieder überraschen zu lassen.

Ich fuhr vom Süd- ins Mittelburgenland, um dort Stefan Wellanschitz und Roland Velich zu besuchen. Wellanschitz, Abkömmling einer großen Weinbaufamilie und derzeit Betreiber des spezielleren Labels Kolfok, empfing mich in einem Blockhaus oberhalb seiner Neckenmarkter Weinberge. Er hatte diverse Weine dabei, deren Namen bereits Auskunft darüber gaben, wie sie entstehen und was sich ihr Erzeuger dabei gedacht hat. Einer der Weißen zum Beispiel heißt Querschnitt weiß, dabei handelt es sich vor allem um Grünen Veltliner und ein paar andere Sorten, die auch ihren Weg in die Flasche finden. Ein anderer trägt den Namen Intra! The Wild, für den Grüner Veltliner und Welsch­riesling auf der Maische vergoren ­werden. Entsprechend die dunkle Farbe des Getränks. Den Welschriesling Nolens Volens, der auf purem Schiefer wächst, liebte ich sofort. Seine bestimmende Klarheit macht den Wein nicht nur zu einem ungewöhnlichen Musterexemplar seiner Gattung, sondern vor allem zu einem eigenwilligen Botschafter seiner Herkunft. Dieser Wein, und davon ist auch Stefan Wellanschitz überzeugt, könnte nirgendwo sonst gewachsen sein. Ergänzung: Und es brauchte die Hände dieses Mannes, damit er zu dem wurde, was er ist. Schließlich ist die Annahme, dass guter Wein ein reines Naturprodukt ist, ein Mythos, der in der Naturweinszene gerne verbreitet wird. Wein, auch der vogelwildeste Naturwein, ist immer ein Kulturprodukt, denn sonst würden die Trauben, die der Weinstock freundlicherweise Jahr für Jahr herstellt, im Herbst von den Spatzen gefressen werden.

Über Herkunft sprach ich auch mit Roland Velich in Lutzmannsburg, wo er mir seine Weinberge auf dem beeindruckenden Plateau hoch über dem Dorf zeigte. Die Anlage ist uralt, und weil es auf ihrer dorfseitigen Flanke einen kleinen Aussichtshügel gibt, konnte mir Velich von dort den weiten Blick in die ungarische Tiefebene zeigen. Seine Kompassarme wussten sogar, in welcher Richtung der Balaton, wo der Somló und wo (ungefähr) Tokaj verortet werden können. Über die Verbundenheit Velichs zum ungarischen, also ostpannonischen Weinbau habe ich an dieser Stelle schon einmal vor einem oder zwei Jahren geschrieben, deshalb kann ich jetzt die Hälfte unserer Unterhaltung so zusammenfassen: Wir gehören zusammen.

Aber jetzt muss ich mit Velich endlich über Blaufränkisch sprechen, unter Berücksichtigung der
Tatsache, dass ich bei Stefan Wellanschitz dessen ausgezeichneten Neckenmarkter Blaufränkisch namens Güterweg gekostet, für gut befunden und ausreichend davon mitgenommen habe, um zu Hause die Ví­kingur-Versuchsreihe absolvieren zu können (zart transponiert von den Morgen- in die Abendstunden). Velich ist – ungeachtet der Tatsache, dass Ernst Triebaumer mit seinem Blaufränkisch Mariental 1986 einen Leuchtturm im Nebel der Post-Weinskandal-Epoche aufgestellt hat – der Winzer, der vielleicht am konse-quentesten an das Potenzial dieser Rebsorte glaubte und mit seinen feinen, überaus finessenreichen Blau-fränkisch aus Lutzmannsburg und Neckenmarkt dafür sorgte, dass Österreich inter­national als Rotwein-land über­haupt erst wahrgenommen wurde. Velichs Entscheidung, mit seinem Weingut Moric ausschließlich auf Blaufränkisch zu setzen, war eine solide Wette. Velich war von den Qualitäten der Rebsorte zutiefst über-zeugt, aber dass seine Weine nur knapp mehr als 20 Jahrgänge später in einem Atemzug mit den Barolos von Giacomo Conterno, den Hermitage-Weinen von Jean-Louis Chave oder den besten Pinot noirs aus dem Bur-gund genannt werden, hätte wohl niemand vermutet, wenn auch vielleicht davon geträumt (Velich nämlich).

Mit seiner glockenklaren Linie hatte nicht nur er selbst Erfolg, er ebnete auch den Weg für eine ganze Generation von jungen Winzern. Sie bekamen ein Gefühl dafür, was die Weingärten um ihre Elternhäuser im besten Fall hervorbringen können. Mit vielen dieser Winzer arbeitet Velich inzwischen zusammen, informell sowieso, aber auch im Rahmen seiner Hidden Treasures-Kooperationen, mit denen er ausgesuchten Weinen vor allem international Sichtbarkeit garantiert.
Wir sprachen also über Herkunft, über diese ideale Verbindung von natürlichen Voraussetzungen und kulturellen Errungenschaften, die es braucht, um einem Wein dazu zu verhelfen, all das ideal auszudrücken, was ihm widerfahren ist. Die Jahreszeiten. Die Launen des Wetters. Die Aufmerksamkeit derer, die sich um jeden einzelnen Stock kümmerten. Velich geht einer ganzen Generation von Winzern voran, die seine Analyse teilen, dass Weine im Idealfall nicht wie andere Weine sein sollten, sondern auf stolze Weise sie selbst. Das klingt vielleicht nach Binse, ist aber alles andere als das; in einem Land, wo die erfolgreichsten und teuersten Rotweine eindeutig den Weinen aus dem Bordeaux nachgebaut waren, indem sie Cabernet Sauvignon, Merlot und ein paar Restln von autochthonen Sorten verschnitten (wie das etwa auch eine Generation von Winzern in der Toskana machte, Stichwort: Supertuscans). Ins Bild, dass man sich im Burgenland Leitbilder von anderswo suchte, um diesen möglichst erfolgreich nachzueifern – Stichwort: Grüner Veltliner –, passt natürlich auch diese Beobachtung.

An einem anderen Tag traf ich Hannes Schuster in einem seiner Weingärten in St. Margarethen. Schuster, der das Weingut von seiner Mutter Rosi übernommen hat und noch immer unter ihrem Label wirtschaftet, war in Begleitung seines Viszlas, der routiniert zwischen den Weinstöcken nach interessanten Gerüchen schnüffelte, dabei aber Hannes nicht aus den Augen ließ. Es war ein besonderer Tag. Die Sonne war schon auf dem absteigenden Ast, die Schatten fielen entsprechend lang. Hannes fragte mich, ob ich seinen Furmint kosten wolle, zufällig habe er eine kalte Flasche dabei – ich notierte mir: unbedingt mal nachrecherchieren, wie es so viele Winzer schaffen, immer eine Flasche gekühlten Wein und ein paar Zalto-Gläser bei der Hand zu haben –, und was sollte ich jetzt antworten? „Nein, lieber später?“ Nein, sicher nicht!

Hannes Schuster ist nicht unbedingt ein Volksredner, aber er ist ein zutiefst sympathischer Mensch, der über seine Weine etwas zu sagen weiß und dabei eine gewisse Kompromisslosigkeit aufblitzen lässt. Nachdem er das Weingut übernommen hatte, konzentrierte er sich stark auf Blaufränkisch und Sankt Laurent. Die Weingärten mit den internationalen Sorten verkaufte er, rodete sie oder tauschte sie gegen andere ein, die ihm besser gefielen. Dafür nahm er sogar in Kauf, dass die Fläche des Weinguts leicht schrumpfte. Wir standen also im Weingarten, Hannes schenkte ein, und es war eine besondere Freude, die Farbe des Weins im Licht der sinkenden Sonne zu betrachten, sein helles Gelb und das Spiel der Grüntöne, und dann den ersten Schluck zu nehmen, der nach Kräutern und Blumen schmeckte und nach Abenddämmerung und Freundschaft. St. Margarethen und der nahe Neusiedler See, der Geschmack des Weins, der als autochthone Rebsorte Ungarns gilt, das vielsagende Schweigen des Winzers, das neugierige Hecheln des Viszlas und ein Gefühl grenzüberschreitender Zusammengehörigkeit. Es war ein großer Moment, der mich mit einer Ahnung von Glück erfüllte und einem Splitter von Verständnis dafür, wie der richtige Wein und dieses Glück zusammengehören können, wenn der Wein nämlich genau davon erzählt.

Ich weiß nicht wieso, aber es fiel mir ausgerechnet jetzt das Abendessen ein, das Tristan Hanzl bei Christoph Wachter gekocht hatte. Mich hatte nämlich das Gefühl überkommen, dass mir ein bisschen Nahrung guttun könnte, und auch, als ich an Tristan und Pepi Sodoma dachte, verließ mich dieses Gefühl nicht. Ich hatte Hunger. Der Wein hatte etwas Sehnsuchtsvolles in mir zum Schwingen gebracht, und wir brachen auf, um diese Sehnsucht zu stillen.

Das war die gute Nachricht. Die schlechte: Das mit der Genussdiät wird wohl nix. Ich brauche eine neue Idee, um reich und berühmt zu werden. —

Christoph Wachter bewirtschaftet
in Deutsch-Schützen und am Eisenberg
mit ­Vorliebe alte Weingärten (u.).

„Guter Wein ist ein eigenwilliger Botschafter seiner Herkunft.”

Roland Velichs Blaufränkische lenkten ­internationale Aufmerksamkeit auf österreichische Rotweine.
Stefan Wellanschitz arbeitet unter dem Label Kolfok an seiner
eigenen Legende.

Zum besseren Verständnis von Österreichs östlichster Weinregion gehört eine gehörige Portion Burgenlandologie”.

Abendstimmung Ried Saybritz

Es war eine Freude, die Farbe des Weins vor der sinkenden Sonne zu betrachten, sein helles Gelb und das Spiel der Grüntöne.

Hannes Schuster führt das Weingut Rosi Schuster mit Finesse und Sensibilität in die Zukunft.