Die Höhen und Tiefen von London

The city never sleeps. Wer ganz oben mitkocht und wo man sich danach am besten wieder kulinarisch erden kann.


Text von Alexander Rabl Foto: The view from the Shard

Beginnen wir ganz oben. Hieß es früher: die Lage, die Lage, die Lage, muss man jetzt sagen: die Höhe, die Höhe, die Höhe. Jason Athertons vor einem Jahr eröffnetes „City Social“ liegt im Trend. Das glitzernde Ding befindet sich nämlich im 34. Stock des Tower 42 in der City of London. Mit dem Lift hinauf und später hinunter kann man das Tempo nachempfinden, mit dem im Londoner Finanzbezirk Karrieren und Vermögen gemacht und wieder vernichtet werden.

Wer oben ist, dem geht es gut, und so handelt es sich auch beim „City Social“ weniger um eine Ausspeisung an Bedürftige, sondern um einen Ort der Versammlung für Besitzer von neuem Geld und deren Gäste, die noch schnell eine Flasche Roederer leeren, bevor die nächste Krise kommt. Dass in Lokalen wie diesen die Toiletten zu den glamourösesten Locations zählen, eben weil dort nicht nur den Anliegen des Stoffwechsels Genüge getan wird, merkt man am bombastischen Ausblick vom Herren-WC.

Ein einziger Höhenflug.

In den wie Séparées aus einem Spielberg-Film-Setting wirkenden Räumen speist es sich sehr ordentlich, und der Service ist wie überall in London auf zack. Ein vor dem Gast geräucherter und auf einem Holzbrett zu Selleriespaghetti, Krenjoghurt und Fenchel servierter schottischer Lachs von extremer Qualität ist die Vorspeise und gleichzeitig das Highlight des Essens. Bei den anderen Gängen (Schweinskotelett mit Cavalo-Nero-Black Pudding und Cidergel sowie Schokoladensoufflé) merkt man unter anderem, dass der Küchenchef im Zuge seiner Ausbildung auch ein bisschen was von der Molekularküche mitbekommen hat.

Kurz vor Mitternacht. Die Pubs, die gerade noch mit „suits“ (Anzugträgern) gefüllt waren, sind zu. Morgen ist wieder ein Tag, und die Konkurrenz schläft nicht. „Citi never sleeps“ lautet der Slogan einer Bank mit Anspielung auf die emsige Betriebsamkeit der Londoner Investmentbanker. Anleger und Steuerzahler können es seit einigen Jahren auch nicht mehr – schlafen.

Noch höher hinauf geht es im „The Shard“. Es liegt nicht in der City, sondern an der London Bridge. Der frühere London Bridge Tower sieht aus, als hätte ihn ein Raumschiff wie HR Gigers „Nostromo“ aus Ridley Scotts Alien-Filmen auf den Hintern gesetzt. „Shard“ auf Deutsch heißt nebstbei bemerkt Glassplitter. Schon an seinen dem Himmel zustrebenden gläsernen Gebäude-Extremitäten lässt es den Betrachter spüren: Hier will ein Haus ganz hoch hinaus. Mit Blick auf die Themse und allem, was sich an deren Ufern abspielt, ist hier alles möglich. Wer im Shard sein Appartement oder sein Office weiß, muss sich vermutlich auch sonst um seine Wohlfahrt wenige Sorgen machen und darf mit seinesgleichen beim Lunch oder später an der Bar Geheimtipps unter den Jachthäfen der Welt austauschen.

Denn im Gebäude befinden sich mehrere Restaurants, die ein gepflegtes Casual Dining im Angebot führen sowie eine exzellent geführte Bar. „Zuma“-Mitbegründer Rainer Becker hat hier sein „Oblix“ ­eröffnet. Auch sehr gut: das Shangri-La-Hotel, das vom Österreicher Jürgen Ammerstorfer geführt wird. Genaugenommen muss man das zur Zeit höchste ­Gebäude der EU nicht verlassen, wahrscheinlich ­haben sie auch einen Zahnarzt dort.

Wer im „The Shard“ eine Zeit zugebracht hat, kann sich im Borough Market erden, einem von Londons größten Food Markets, der es in sich hat. Gleich rechts liegt ein Fischrestaurant, an dem niemand vorbeigehen kann, der frittierte Seezunge, Kabeljau und Fritten mag, welche in solch erstaunlicher Qualität auf die blankpolierten Holztische kommen, dass es eine schiere Freude ist. Und wie sie schmausen – Marktbesucher, Foodies, ein paar versprengte Touristen auch. Das „Fishkitchen“ steht nicht im Touristenführer, der Borough Market als einer von Londons größten und vor allem wichtigsten Food Markets hingegen schon. Wer noch immer das Vorurteil pflegt, die Briten verstünden nichts vom Essen, wird nach einer Stunde Borough Market niemals mehr etwas Böses über das Inselvolk sagen. „No such thing as too much cheese“ liest der Marktspaziergänger (der bedauert, nicht gleich darüber ein Appartement mit Küche zu besitzen) an der Front eines Geschäftes, in der sie von der Belper Knolle bis zum Mürgu alles haben, wonach der fortgeschrittene Käseesser verrückt ist. Gleich nebenan gibt es Rosinenbaguette, dann wieder Eiscreme aus Ziegenmilch. Da hinten bietet einer frische „Spritzer“ aus Prosecco und Pfirsich an. Wenn der Kunde kein Kleingeld zum Bezahlen hat, sagt der Betreiber des Standes: „Kaufen Sie woanders etwas, kommen Sie zurück und bezahlen Sie einfach später.“

In riesenhaften Töpfen wird aus frischen Gemüsen und um die halbe Welt gereisten Gewürzen der Lunch für die Marktspaziergänger zubereitet. Lange verweilt der Besucher vor einem Butcher mit dem vielversprechend klingenden Namen „The Ginger Pig“, wo er den Mann beobachtet, der mit einer handlichen Säge der Hochrippe zu Leibe rückt. Im „Ginger Pig“ bekommt man Fleisch von seltenen Rassen aus den Mooren von North York. Der famose Butcher „Wild Beef“ unterhält ebenfalls ein Geschäft am Borough Market. Es ist der „place to be“ für alle Lebensmittelproduzenten von Rang und Namen. Und weil es sich bei diesem ­Lebensmittelmarkt nicht nur um einen Ausdruck des erstarkenden kulinarischen Selbstbewusstseins der Briten handelt, sondern auch um ein Manifest ihres Kosmopolitentums, findet sich ein paar Marktstände ­weiter ein Geschäft, wo sie Landjäger, Pfefferbeißer und Nussknacker feilbieten. Gleich nebenan gibt es Raclette. Schweiz-österreichische Diaspora.

Gleich bei einem der Ausgänge des Marktes befindet sich einer der Läden, von dem Einheimische (zum Beispiel die Betreiberin des entzückenden Paul Smith-Stores in Marktnähe) versichern, es handle sich um das beste Café Londons. Sie stehen Schlange hier, was die Briten einerseits gewohnt sind und andererseits auch ein Qualitätszeichen ist. Der Anteil von Hipster-Vollbartträgern unter den männlichen Gästen nähert sich den 100 Prozent. Der Espresso, er schmeckt in der Tat teuflisch gut.

Doch warum, so könnte er sich fragen, soll der Londoner auf dem Food Market einkaufen und daheim bei der Zubereitung der hervorragenden Produkte scheitern, die er erstanden hat, wenn es doch so viele gute Restaurants gibt in London? Vor allem zu Mittag isst man in wenig europäischen Städten auch in der Hochgastronomie preiswerter. Ein paar Zahlen: Lunch bei Alain Ducasse und Gordon Ramsay gibt es teilweise ab fünfzig Pfund, inklusive Wein. Alle paar Monate sperrt eine relevante ­Adresse auf und schickt sich an, ganz oben mitzukochen.

Zu den Allerneuesten in dieser Kategorie gehört das „Fera“ im Hotel Claridge’s, welches zu den elegantesten und schönsten Luxushotels der Stadt zu zählen ist. Der Afternoon Tea im Claridge’s ist im Übrigen weltberühmt, und auch an Wochentagen gibt es in der Regel keine Chance für Spontanentschlossene. Dass das vollkommen neu gestaltete „Fera“ genauso überbucht wird, scheint ob seiner Größe zumindest zu Mittagszeiten fraglich. Mehr als hundert Plätze haben sie, doch die Küche macht keinerlei Anstalten, hier ein kompromissbereites Edelbrasserie-Konzept zu fahren. Nein, ganz und gar das Gegenteil ist der Fall. Küchenchef Simon Rogan, ein Typ von der ständig vibrierenden Sorte, kocht mit dem Fuß am Gas. Wobei er durchaus Nähe zur Natur beweist.

„From Farm to Table“ ist natürlich auch in England der Der­ni­er Cri. Zu den Signature Dishes des „Fera“ gehört eine grün leuchtende Gemüsesuppe, darin allerlei Blüten, knackige Saisongemüse, und Löffel für Löffel taucht der Gast ein in eine Welt, die man weder in Westminster noch in der City of London und auch nicht in Mayfair gegenwärtig hat. Es ist die Welt der Gartenkultur, welche die Briten so perfektioniert haben wie wenige andere Völker. Mit japanisch anmutender Liebe zur Präzision und skandinavischer Design-Affinität rücken die Teller im „Fera“ an. Natürlich wird das Amuse Bouche auf einem Holzbrett serviert, spielen zumindest während der warmen Jahreszeit Crudités und Salate eine große Rolle und natürlich kommen zum Hauptgang, einem Lammrücken von höchstmöglicher Qualität mit gebackenem Lammbries, Minilauchzwiebel, kleine Rote Rüben und fleischige Radi-Scheiben. Es ist ein Fest, das den Vorteil besitzt, dass der Feiernde nach dem Essen den Gürtel nicht weiter schnallen muss.

Somit ist der Gast im „Fera“, was übersetzt so viel heißt wie „wild“, Teil einer der Neuerung und durchaus auch den Moden verpflichteten Inszenierung, die nicht im kleinsten Detail durchschnittlich verläuft. Man erwartet es in dem von einem österreichischen Maître, Benjamin Hofer, geführten Restaurant nachgerade, dass auch die Weine zum Essen dem Anspruch genügen, nicht alltäglich zu sein. Und der Sommelier macht seine Sache exzellent, hat selbst große Freude an seinen Food & Wine-Pairings und bringt es zustande, dass der Gast das Restaurant nicht nur glücklich beschwingt, sondern auch ein wenig erstaunt verlässt.
Gar nicht erstaunt wird er vermutlich über die Tischwäsche gewesen sein, die im „Fera“ ebenso fehlt wie in Londons zweiter heißbegehrter Adresse, dem „Diner by Heston Blumenthal“, einem Lokal, das wie das „­Fera“ zwischen Casual und Classic angesiedelt ist. Das „Diner“ konnte während der vergangenen Jahre irgendwie nicht so richtig Fuß fassen, doch seit einiger Zeit scheint die Übung gelungen. Für alle, die länger nicht in London waren: Hier formierte der seiner Meinung nach immer als „Molekularkoch“ missverstandene Heston Blumenthal einen konzeptionellen Gegenentwurf zu seiner „Fat Duck“ in Bray. Er grub nach alten britischen ­Rezepturen, fand einiges, machte daraus für Geschmack und Körper des 21st-Century-Gastes etwas und legt ein Menü vor, welches die Entscheidung nicht gerade leicht macht.

Das „Diner“ ist mittags wie abends ausgebucht, und man gehört zu den Glücklichen, wenn man einen Tisch zur spätestmöglichen ­Buchungszeit um 14 Uhr 30 ­ergattert. Und dann hat man die knusprig frittierten Froschschenkel mit dem grünen Porridge (Kräuter, Knoblauch, Fenchel) vor sich stehen und fasst sein Glück überhaupt nicht mehr. Diese Kombination aus Knusprig und Zart, ja, jetzt versteht man, dass Blumenthal ja auch aus der Wissenschaft kommt, und man versteht, wie sehr sich die Kunst der Cuisine mit den Kenntnissen von Chemie und Physik verfeinern lässt. Dabei handelt es sich bloß um Froschschenkel, gebackene Froschschenkel. Was danach kommt, besitzt schon um einiges mehr an Komplexität. Es handelt sich um einen Kabeljau, der in einer in sanftem Gelb gehaltenen Sauce auf Cider-Basis daherkommt. Die Sauce von bemerkenswerter Tiefe mit einem Spiel aus Fett, Aroma und Säure, das eine wirklich große Sauce ausmacht. Saucen wie diese gibt es in der modernen Gastronomie ja kaum mehr, was nicht nur Weinfreaks bedauern. Man schmeckt die lange Arbeit, die hinter dieser Flüssigkeit steckt. Man spürt, dass man mit dem Saucenlöffel nicht nur in etwas Außergewöhnliches, sondern auch in die Vergangenheit der großen Küchen eintaucht. Mangold und geräucherte Artischocken werden dazu gereicht, und diesem Teller wohnt somit eine einschmeichelnde Intensität inne, welche dem Gast noch lange erinnerlich bleiben wird. Danach eine eher harmlose Tintenfisch-Terrine und die Wachtel aus dem Lunchmenü, das Signature Dish: eine Mandarine, die mit einem Parfait aus Hühnerleber und Foie Gras gefüllt ist und zu der getoastetes Landbrot serviert wird. Prachtvolle Desserts.

Auf der Speisekarte sind die vermutlichen Entstehungsdaten der Rezepte angeführt. Vieles reicht in die Anfänge des zweiten Jahrtausends zurück. Nur auf der Weinkarte sind die meisten Angebote aus dem 20. beziehungsweise aus dem 21. Jahrhundert. Eindeutig aus der Neuzeit stammt die Art und Weise, wie der Service hier lässig und kommod, gleichzeitig aber ziemlich perfekt agiert, als handle es sich bei Heston Blumenthals Stadtrestaurant nicht um einen der besten Ess-Plätze in London, sondern um eine schicke, laute Brasserie. Das Geheimnis ihres Erfolgs liegt, darüber muss man sich im Klaren sein, aber auch in den günstigen Mittagspreisen. Das Prekariat hat mittags Zeit für ein gutes Essen, und Blumenthal gewährt es ihm um einen leistbaren Betrag.

Auch bei „Alain Ducasse at the Dorchester“ lässt sich die profunde Methodik einer perfekt gedrillten Mannschaft mittags zu einem verlockenden Preis entdecken. Wie Sie natürlich wissen, steht der französische Chef einer ansehnlichen gastronomischen Gruppe vor. Sein Prestige-Restaurant im Londoner Hotel Dorchester verzeichnet seit Jahren die Höchstbewertung im Michelin. Zwanzig Leute arbeiten in der Küche, noch einmal zirka 15 im Service, womit der Gast sich also rundum gut versorgt fühlen kann. Mit rund fünfzig Pfund ist man mittags dabei und muss nicht mit Arme-Leute-Küche rechnen. Doch ein Gang wie folgender ist beim preiswerten Lunch nicht inkludiert, weil schon der Preis der Zutaten die Kalkulation mit einem weit hörbaren Knall sprengen würde: Es war die frische, meeresduftende Süße der Langostinos, die den Autor hier in den Bann zog, die mit grünem Apfel ein perfektes spätsommerliches Entree machten.

Doch vor allem war es die Sauce aus Krustentieren, die dazu gereicht wurde. Sie führte in die Tiefe französischer Saucenkultur, jeder Löffel davon eine Vorstellung der Karkassen und Schalen von Langusten oder Hummer, wie sie mit Butter, Cognac und Weißwein eingekocht, abgeseiht, wieder eingekocht, mit Butter montiert und irgendwann nach Tagen zu dieser dunkel schimmernden Konsistenz gebracht wurden. Es ist eine Sauce, wie man sie in der zeitgemäßen Gastronomie einfach nicht mehr bekommt. Weil sich viele Köche alleine mit der Technik der Zubereitung nicht auskennen, weil schon alleine die Zutaten, nämlich ganze Tiere, ob es sich um Meeresfrüchte, Fische oder Rinder handelt, in vielen Küchen nicht vorhanden sind und man sich auch nicht darauf verstünde, diese fachgerecht zu zerteilen.

Eine Sauce dieser Tiefe, wie sie diese Vorspeise begleitet – ja, man kann vermutlich sagen, dass sie manche Gäste, die die klassische Küche gar nicht mehr kennen, überfordern könnte. So definiert, so vielschichtig in ihrer Gesamtheit präsentiert sie sich. Ein St.-Pierre als Hauptgang ist nichts anderes als perfekt, bleibt aber doch blass in der Erinnerung. Als Nachspeise ein Schokoladen­dessert, und niemand kann dem Autor erzählen, dass es auf der Welt bessere Schokoladendesserts gibt als in den Restaurants der Ducasse-Gruppe. Wenn der Gast das Alain Ducasse verlässt, durch die gepolsterte Lobby des Hotels flaniert und die ersten Schritte an der Park Lane macht, dann weiß er, was ein tiefer Fall ist. Die Welt da draußen, außerhalb der Lobbys Londoner Grand Hotels ist voller eilender Fußgänger, ­roter Ampeln, stauender Busse und sich auflösender und wieder zusammenfindender Reisegruppen. Ja, manchmal regnet es sogar.

Haben wir etwas vergessen? Ja, über das neue „Story“, eine Geschichte, über die gerade alle reden, wie auch über das verlässlich ausgebuchte „Chiltern Firehouse“ von Nuno Mendes gäbe es noch zu berichten. Die Privat Member Clubs Londons wie das „Loulou“ oder „Annabelle“ wären eine Geschichte wert und so manches andere. Vielleicht, dass Sie ja vor uns dort sind.

Tower 42, 25 Old Broad Street London EC2N 1HQ
Tel.: +44/(0)20 7877 77 03
www.citysociallondon.com

Oblix – The Shard
32 London Bridge Street
London SE1 9SG, Level 32
Tel.: +44/(0)20 7268 67 00
www.the-shard.com

Alain Ducasse at The Dorchester
The Dorchester
Park Lane
London W1K 1QA
Tel.: +44/(0)20 7629 88 66
www.alainducasse-dorchester.com

Fera – Claridge’s
Brook Street, Mayfair
London W1K 4HR
Tel.: +44/(0)20 7107 88 88
www.claridges.co.uk

The Ginger Pig
Borough Market
London Bridge, SE1 1TL
Tel.: +44/(0)20 7403 47 21
www.thegingerpig.co.uk

fish! Restaurant & fish! Kitchen Takeaway Borough Market
Cathedral Street
London, SE1 9AL
Tel.: +44/(0)20 7407 38 03
www.fishkitchen.co.uk