Die Suche nach der Identität

Einige australische Restaurants darf man zu den besten der Welt zählen. Jetzt bemühen sich australische Küchenchefs um eine definierte kulinarische Identität.

Text und Foto von Georges Desrues

Vertraut erscheint dem Australien-Besucher die dominierende europäische Kultur, exotisch die einzigartige Natur, die Pflanzen- und Tierwelt des Landes. Australien zählt zu den wenigen Ländern dieser Welt, von dem überhaupt kein nationales oder auch nur typisches Gericht im Ausland bekannt ist. Im Unterschied zu anderen Staaten der Neuen Welt wie etwa den USA gibt es nicht einmal ein besonderes Fast Food oder ein repräsentatives Sandwich, das sich internationaler ­Bekanntheit rühmen könnte. Die einzigen zwei Gerichte, die Australier selbst nennen, wenn man ihnen die Frage nach einer uraustralischen Spezialität stellt, sind der Meat Pie, also ein kleiner salziger Kuchen mit Fleischfülle – der allerdings seinem britischen Pendant, dem Steak Pie, gleicht wie ein Ei dem anderen –, sowie die nach einer russischen Tänzerin benannte Pavlova, eine Art Baisertorte, die mit Früchten und Schlagobers garniert wird. Genau wie der Meat Pie wird auch sie von den Neuseeländern als Nationalgericht beansprucht. Wobei sich die beiden Länder im Falle der Torte – und im Unterschied zur unangefochten britischstämmigen Fleischpastete – auch um den Ursprung des Gerichts zanken.

Das ist freilich eine recht magere Ausbeute, wie auch der gebürtige Schotte Jock Zonfrillo feststellen musste, als er im Jahr 2000 erstmals dieses Land besuchte, das nebenbei auch ein Kontinent ist. „Ich hatte mir damals eine Auszeit genommen von meinem Job in Marco Pierre Whites Londoner Drei-Sterne-Restaurant“, erzählt der Koch. „Noch nach meiner Rückkehr nach Großbritannien beschäftigte mich die Frage, was eigentlich australische Küche ausmacht. Nichts von dem, was ich gesehen und gekostet hatte, spiegelte die Kultur des Landes wider.“ So habe es zu der Zeit zwar Fine-Dining-Restaurants gegeben, nur waren diese entweder französischer, italienischer oder sonstiger europäischer Prägung. „Und es gab freilich auch wunderbare asiatische Restaurants, aber es gab kein einziges, in dem man den wahren Geschmack Australiens erleben konnte“, so Zonfrillo.

Also gebar er die Idee, sich seine Inspirationen bei den Aborigines, den australischen Ureinwohnern, zu holen. „Ihre Kultur ist 40.000 Jahre alt. In all dieser Zeit haben sie im Einklang mit der Natur gelebt und gelernt, die einzigartige Pflanzen- und Tierwelt des Landes auch kulinarisch zu nutzen“, sagt der Koch. Seitdem und mit der Eröffnung seines Restaurants Orana im Zentrum der südaustralischen Stadt Adelaide arbeitet auch er mit Zutaten aus dem schier unerschöpflichen und über lange Zeit von lokalen Küchenchefs ignorierten Fundus des Landes. Er begann, Myrtenbeeren zu sammeln, garnierte mit Fingerlimette und der Frucht der Alexander-Palme, süßte mit Honig einer einheimischen Bienenart, briet in Krokodilfett und servierte Känguru-Sehnen. Und wurde bald zum Pionier der Verwendung von Aborigines-Wissen in der gehobenen Küche und zum lokalen Vertreter der australischen Forage-Bewegung. „Ohne Jocks Wissen und Kontakte hätten wir das Projekt des Noma Australia wohl kaum realisieren können“, sagt auch René Redzepi, der im vergangenen Frühjahr ein vielbeachtetes Pop-up-Restaurant in Sydney betrieb und sich in Planung und Einkauf von seinem Kollegen Zonfrillo beraten ließ.

Überhaupt wurden durch Redzepis Experiment die Scheinwerfer auf ein Land gerichtet, dessen Kulinarik bisher immer etwas unter der immensen Entfernung zu anderen Hotspots der westlichen Gastro-Szene wie Paris, London, Kopenhagen oder New York gelitten hat. Dafür ist freilich Asien nicht weit, was einem bei einem Spaziergang durch Sydneys Straßen schon am hohen Anteil der Asiaten an der Gesamtbevölkerung auffällt. Und es bestätigt sich beispielsweise beim Besuch des lokalen Fischmarkts, wo hunderte asiatisch­stämmige Händler ebensolche Kunden mit frischen und getrockneten Fischen und Meeresfrüchten versorgen, die häufig auch in Garküchen vor Ort gegessen werden. Das Treiben erinnert an jenes auf ähnlichen Märkten in Bangkok, Singapur oder Kuala Lumpur. Zwar herrschen andere Hygienebedingungen als dort, aber – für das ­ansonsten so propere und geordnete Australien – doch sehr chaotische Zustände.

„Kulinarisch gesprochen, zählt Australien in meinen Augen zu Asien“, sagt auch Neil Perry, regelrechte Legende unter den australischen Köchen und einer der Ersten unter ihnen, der sich mit gehobener Küche beschäftigte, „darum verstehe ich das, was unsere Küche wirklich ausmacht, im Arbeiten mit chinesischen, japanischen und thailändischen Zutaten, Trockenprodukten, Saucen und Techniken.“ Die wendet er quer durch sein inzwischen auf mehrere Lokale angewachsenes Restaurant-Imperium an. Zu diesem zählen neben dem Steakhaus Rockpool Bar  &  Grill, untergebracht in einem prachtvollen Art-déco-Gebäude im Zentrum, auch das angesehene und nahegelegene China-Restaurant Spice Tempel.

Asiatisch geprägt ist naturgemäß auch die Küche der chinesischstämmigen Kylie Kwong. Die groß gewachsene Mitvierzigerin mit dem chinesischen Nach- und dem typisch australischen Vornamen gilt in ihrer Heimat als Star, tritt häufig in TV-Shows auf und spricht Englisch mit breitem australischem Akzent. „Viele der klassischen chinesischen Restaurants im Land verwenden nach wie vor viel Glutamat und chemische Haltbarkeits- und Zusatzstoffe“, sagt Kwong. Und genau von diesem schlechten Image, das China-Restaurants weltweit anhängt, habe sie sich befreien wollen, indem sie zwar traditionelle kantonesisch beeinflusste Küche biete, gleichzeitig aber auf nachhaltig erzeugte, australische Zutaten zurückgreife. Das Resultat ist durchaus überzeugend, wenngleich die Namen der Gerichte bisweilen recht holprig klingen, wie zum Beispiel im Fall von Knusprigem Bauchfleisch vom Freiland-Schwein in Bio-Soja-Sauce mit Fairtrade-Naturreis aus biodynamischem Anbau.

Etwas weniger an Nachhaltigkeit, dafür mehr an der im weitgehend warmen Klima Australiens äußerst beliebten Tradition des Barbecues orientiert sich indessen Lennox Hastings in seinem im Vorjahr eröffneten Lokal Firedoor. Hastings, der fünf Jahre im legendären baskischen Restaurant Asador Etxebarri tätig war, hat das Konzept von dessen Chef Victor Arguinzoniz nach Australien exportiert und kocht hier ausnahmslos auf Holzfeuer. Die Einrichtung des Firedoor ist trendig und von industrieller Ästhetik geprägt, im Zentrum steht eine geräumige Schauküche. Darin lodern Flammen in diversen Öfen, Grills und Smokern. Aus der Verwendung unterschiedlicher Holzsorten macht Hastings eine regelrechte Wissenschaft. „Während sich beispielsweise Apfelholz gut für Fisch und Meeresfrüchte eignet, passt das Eichenholz von ausgedienten Weinfässern wunderbar zu Schweinernem“, sagt er, während er seine Glut befeuert, „Rind, Lamm und Wild indessen grille ich am liebsten über Rebenholz.“ Hastings’ Verständnis für die Eigenschaften seiner Holzsorten, gepaart mit seiner Erfahrung im Umgang mit Feuer und dem extrem hohen Produktbewusstsein, machen den Besuch im Firedoor zum Erlebnis.

Eigentümer des Lokals ist übrigens die Firma des Unternehmers Leon Fink, die auch hinter einigen weiteren der bedeutendsten Restaurants von Sydney steht, was den 80-jährigen Fink neben Neil Perry zum wohl einflussreichsten Mann in Australiens Gastroszene macht. Zum Fink-Imperium zählt auch das Lokal Quay, das unweit der Bay Bridge liegt und den vermutlich besten Blick auf die außergewöhnliche Bucht und die beiden Wahrzeichen der Stadt bietet, nämlich auf besagte Brücke und aufs Opernhaus. Was zur Folge hat, dass man als Gast bereits schwer beeindruckt ist, bevor noch der erste Gang serviert wird. Doch zu begeistern weiß hier auch die Küche. Geleitet wird sie von Peter Gilmore, einem wahren Meister im Umgang mit Konsistenz und Struktur, der, so möchte man meinen, auch seine Zutaten nach diesen Kriterien auswählt und auf betörende Weise und mit deutlich asiatischem Anspruch zusammenführt. Sein Umgang mit frischem Meeresgetier, mit knackigen Pilzen und marmoriertem australischem Wagyū-Rind ist humorvoll, sinnlich und restlos überzeugend. Gleiches gilt für eines seiner Signature Dishes, das legendäre Snow-Egg – ­eine Mischung aus Gefrorenem, Windgebäck, Fruchtcremen und frischen saisonalen heimischen Früchten wie etwa Guave und Erdbeere.

Seit dem Vorjahr betreiben Fink und Gilmore zudem auch noch das Restaurant Bennelong, das im berühmten Opernhaus gleich gegenüber dem Quay untergebracht ist. Hier ist der Rahmen informeller, die Küche schlichter, der Preis niedriger. Das Setting aber mindestens genauso atemberaubend. Man sitzt im Speisesaal oder an der Bar bei einem Drink mitten im zeitlos gestalteten Bau des dänischen Architekten Jørn Utzon, durch das Glasdach dringt die Sonne ein und sorgt für wechselnde Lichtspiele und Stimmungen. Es gibt Fisch nach Tagesfang, Flusskrebse und Austern, aber auch knusprig gegrillten Schweinebauch, Steak oder Entenbrust – alles geradlinig und tadellos zubereitet. Hauptattraktion bleiben aber die Location und das Opernhaus selbst. „Wir arbeiten hier mit einigen der besten Produkte, die Australien zu bieten hat. Welcher Ort würde sich dazu wohl besser eignen als das berühmteste Gebäude des ganzen Landes?“, sagt deswegen auch Peter Gilmore.

Eines der zweifellos besten Restaurants des Landes ­befindet sich allerdings nicht in Sydney, sondern im weniger touristisch und weniger asiatisch geprägten Melbourne, der zweitgrößten Stadt des Kontinents. Hier eröffnete der gebürtige Neuseeländer Ben Shewry im Jahr 2013 sein Restaurant Attica. Die Warteliste ist lang, der Preis für australische Verhältnisse gesalzen. Gekocht wird dem Forage-Trend entsprechend weitgehend mit wilden ­Zutaten wie Blut vom Wallaby (einer kleinen Känguru-Art), Emu-Eiern, australischen Riesen-Flusskrebsen namens Marron. Ebenfalls exotisch muten aber auch die Pflanzen im vegetarischen Menü an, darunter etwa Bunya Nuts (Zapfen eines lokalen Nadelbaums), Wattleseeds (Akaziensamen) und Vegemite Pie, ein Kuchen gefüllt mit der in Australien allgegenwärtigen Hefepaste Vegemite. Für Australien-Besucher ist das Attica mit Sicherheit eines jener Restaurants, das den Geschmack des Landes am deutlichsten vermittelt. Und das, so wie alle anderen genannten, den Beweis erbringt, dass so etwas wie eine australische Nationalküche gerade im Entstehen ist.

www.restaurantorana.com
Jock Zonfrillo beschäftigt sich seit Jahren mit der Verwendbarkeit lokaler Pflanzen und Tierarten. Er garniert mit Fingerlimette und der Frucht der Alexander-Palme, brät in Krokodilfett und serviert Känguru-Sehnen. Der Orana-Betreiber war auch einer der wichtigsten Ratgeber von René Redzepi bei seinem vielbeachteten Noma-Pop-up-Restaurant in Sydney im Frühjahr diesen Jahres.

Billy Kwong Sydney
www.billykwong.com.au
Die chinesischstämmige Kylie Kwong tritt häufig in TV-Shows auf und präsentiert erfolgreich einen Mix aus kantonesicher Küche und nachhaltig erzeugten australischen Ingredienzen.

Firedoor Sydney
www.firedoor.com.au
Lennox Hastings arbeitete lange im berühmten baskischen Restaurant Asador Etxebarri und kocht nun auf seinem eigenen Herd in Sydney ausnahmslos mit Holzfeuer. Die Einrichtung des Firedoor ist trendig und von industrieller Ästhetik geprägt, im Zentrum steht eine geräumige Schauküche. Darin lodern Flammen in diversen Öfen, Grills und Smokern. Ein Erlebnis.

Quay Sydney
www.quay.com.au
Das Restaurant mit den meisten Prämierungen im Land beeindruckt alleine schon durch den fantastischen Blick auf die Hafenbrücke und das Opernhaus. Peter Gilmore ist ein Meister im Umgang mit Konsistenz und Struktur und verschmilzt Australien und Asien auf wunderbare Weise.

Bennelong Sydney
www.bennelong.com.au
Seit dem Vorjahr betreiben die Quay-Eigner diesen neuen Restaurant-Hotspot im berühmten Opernhaus. Das Ganze erfolgt vergleichsweise informell und schlicht, aber nichtsdestotrotz sehr effektvoll. Man sitzt im Speisesaal oder an der Bar bei einem Drink mitten im zeitlos gestalteten Bau des dänischen Architekten Jørn Utzon, durch das Glasdach dringt die Sonne ein und sorgt für wechselnde Lichtspiele und Stimmungen.

Attica Melbourne
www.attica.com.au
Das derzeit beste Restaurant des Landes findet sich im weniger asiatisch geprägten Melbourne. Hier zelebriert der gebürtige Neuseeländer Ben Shewry seine Küche mit weitgehend wilden Zutaten wie Wallaby-Blut, Emu-Eiern und Marron-Krebsen. Die Warteliste ist lang, der Preis für australische Verhältnisse gesalzen. Rang 33 in „The World’s 50 Best“-Liste.