Eine Stadt wie ein Fest

Zuerst ein paar Falafel, aber am richtigen Stand. Dann der Gang über den Carmel-Markt, die richtige Adresse und, wie ein Blitz, die Erkenntnis, dass Yotam Ottolenghi gar nichts erfinden musste, sondern nur die Essenz von Tel Aviv in passende Gerichte verwandeln.

Text von Christian Seiler · Illustration von Markus Roost

Spätestens am frühen Nachmittag verwandelt sich die Strandpromenade von Tel Aviv in ein Fitnessstudio. An den Geräten, die alle hundert Meter fix montiert sind, verhöhnen junge Menschen mit definierten Bäuchen, Sixpack ist ein Hilfsausdruck, die Schwerkraft, indem sie sich am Hochreck und an den Ringen bewegen, als wäre die Erdanziehungskraft abgeschafft.

Ich beobachtete mich dabei, wie ich, obwohl es völlig sinnlos war, den Bauch einzog und die Brust reckte, als würde auch mich irgendwer ­taxieren, den Plumpsack in diesem Ensemble ästhetischer Perfektion. Egal, ich fühlte mich trotzdem eine Spur besser.

Mit eingezogenem Bauch ging ich weiter, um den Fußballern zuzuschauen, die nebenan Beachvolleyball spielten, allerdings nicht mit den Händen, sondern mit Fuß, Schulter, Kopf und ja, Hintern. Die Typen waren so virtuos in ihrer Fähigkeit, den Ball nicht in den Sand fallen zu lassen und nach gewagtem Hin und Her über das Netz zu bugsieren, dass ich keine andere Chance sah, als den Bauch wieder der Schwerkraft zu übergeben, die also doch nicht abgeschafft war, mich hinzusetzen und zuzuschauen.

Es hat schon einen Grund, warum während der Übertragung des Superbowls jedes Jahr so viele tausend Tonnen Chips und Guacamole verzehrt werden. Man kriegt, wenn man anderen dabei zusieht, wie sie schwitzen, einen perfiden Appetit. Der Stoffwechsel verfügt über eine hinterhältige Empathie. Die Typen strengen sich an, sie müssen Durst haben. Also habe ich auch Durst. Wenn sie trinken, sollten sie auch essen, und wenn sie keine Zeit zum Essen haben, könnte ja ich ihnen aus der Patsche helfen, indem ich mir stellvertretend ein paar Falafel in den Kreislauf stelle.

Ich war nicht ganz ohne Vorbereitung nach Tel Aviv gefahren, deshalb wusste ich, dass es Diskussionen darüber gibt, welcher Laden als der beste Falafelstand durchgeht. Allerdings verlief diese Diskussion entlang von Argumenten, die mir nicht unbedingt einleuchteten.

Thema eins, der Preis. Hat der einen Einfluss darauf, wie gut die Falafel ist? Klar, und wenn schon nicht bei der Mischung aus Kichererbsen und Kräutern, dem „Fleisch“ der Falafel, dann sicher beim Öl, in dem sie frittiert werden. Ich neige also eher zu teuren Falafeln. Die gibt es im HaKosem an der Shlomo HaMelech 2, nur ein paar hundert Meter vom Dizengoff Square entfernt, und jede andere Falafel Tel Avivs muss sich an dieser messen lassen. So, damit wäre die Spannung draußen.

Die Diskussion geht freilich weiter. Thema zwei: Muss ein bester Falafelstand aus Authentizitätsgründen abgefuckt sein? Ich finde, nein. Wenn der Standler die besten Falafel macht, dann darf er sogar von mir verlangen, dass ich mir eine Krawatte um den sonnenverbrannten Hals hänge, während ich mir aussuche, was zu den frisch frittierten Bällchen in den Schlund des Pitabrots kommt; gesäuertes Rotkraut, eine frittierte Aubergine, Zwiebeln, Tomaten, cremiger Hummus, also eigentlich alles, was in der Vitrine vor mir aufgebaut ist. Will der HaKosem-Standler das? Natürlich nicht, aber er hat einen kleinen Garten aus halbschicken Outdoormöbeln auf der Straße aufgebaut, wo man seinen Imbiss verzehren kann, was Streetfood-Puristen verscheucht. Sie wollen nicht nur wenig zahlen, sondern dafür auch angemessen schlecht behandelt werden.

Thema drei: Okay, die Musik bei HaKosem ist tatsächlich eine Herausforderung. Aber wenn die Falafel so exzellent sind wie hier, so locker und würzig, umschmeichelt und gekost von den anderen Bestandteilen des Imbisses, dann können sie von mir aus die Wil­decker Herzbuben spielen.

Zugegeben, der Imbiss bei Sabich Tchernichovsky in der Tchernichovsky-Straße war auch nicht schlecht, man musste halt auf einer übervölkerten Parkbank ­sitzen und sich ankleckern, ohne dafür eine Serviette in Reserve zu haben. Aber das Pitabrot mit frittierten Auberginen, Hummus, Gemüse und hart gekochten Eiern ist durchaus zufriedenstellend. Es erinnert, wenn man möchte, an seinen Erfinder Sabich Tsvi Halabi, der aus dem Irak nach Israel emigrieren musste und seine Leibspeise dort zum Streetfood machte. Wenn man sich am Strand gerade den kleinen Hunger für zwischendurch geholt hat, dann ist auch der Abstecher in die Tchernichovsky-Straße empfehlenswert.

Ich versuche also, in eines der tausend WLAN-Netze zu kommen, die über Tel Aviv liegen, um heraus­zufinden, ob es von hier näher zu HaKosem oder zu Sabich Tchernichovsky ist. Die Stadt ist ja ein Zen­trum des digitalen Fortschritts, jedenfalls wenn man ein Passwort kennt oder so reich ist, dass der Begriff Datenroaming keine Rolle mehr spielt.

HaKosem war übrigens nicht der einzige Ort, wo ich zu essen bekam und augenblicklich vor mir selbst den Eid ablegte, die Stadt nicht zu verlassen, ohne hierher zurückzukehren. Der zweite Ort hat auf meinem Google-Maps-Profil, als ich dann im Internet war, ein großes rotes Herz bekommen. Er liegt am Rand des Carmel-Markts und heißt HaBasta.

Es gehört zum touristischen Pflichtprogramm, über den Carmel-Markt zu schlendern. Die Marktgasse verläuft schnurgerade vom Poli House Richtung HaKovshim Garten, und ich kann nur raten, die Begehung von unten nach oben, nämlich von der HaKovshim-Seite zu beginnen, wo es die großartigen Obst- und Gemüsestände gibt, und nicht von der Innenstadtseite, wo ein-, zweihundert Meter Standfläche darauf verschwendet werden, ­unnötigen Krempel zu verscherbeln. Man kann beim Anblick gefälschter Manchester-United-Trikots und I ♥ TLV-T-Shirts allzu schnell müde werden und den Markt als Touristenfalle abtun. Aber das wäre schade.

Auf dem Carmel-Markt ließ ich mir den besten Granatapfelsaft der Welt auspressen, bittersüß und tiefrot, und gleich neben dem Carmel-Markt, in einer kleinen Gasse namens HaShomer, kehrte ich im Restaurant namens HaBasta ein, um zu begreifen, was Tel-Aviv-Cuisine ist: ein voller Tisch mit unzähligen kleinen Tellern, von denen alle, die am Tisch sitzen, essen, bis die ersten Teller leer sind und die nächsten kommen.

Karfiol mit Tahini. Kohlrabi mit Ziegenkäse. Auberginencreme mit Labneh. Marinierte Aubergine mit geräucherter Labneh. Zucchini mit einer Füllung aus geräuchertem Fisch. Rote Rübe mit roher Makrele. Spieße vom Red Snapper. Artischocken-Carpaccio. Kräutersalat mit Blauschimmelkäse.

Klammer auf: Außerdem hat das HaBasta eine Weinkarte von erster Qualität. Die Weine sind nicht nur gut ausgesucht – Burgund, Rhone, Jura, auch eine Selektion israelischer Weine – , sondern so fair kalkuliert, dass du sehr streng mit dir sein musst, wenn du nicht mehr trinkst als du eigentlich willst. Klammer zu.

Jedes der Gerichte war für sich eine kleine Sensation. Jedes Gemüse schmeckte identitätsstiftend und war dazu so gut gewürzt, dass sein Eigengeschmack optimal zur Geltung kam. Das Spiel mit den Konsistenzen war fabelhaft, und es dauerte nur wenige Minuten, also vielleicht sechs Vorspeisen lang, bis mir klar war, dass Yotam Ottolenghi nichts erfunden, sondern nur die Augen aufgemacht hat. Gerade die vegetarischen Gerichte ließen nichts, aber auch gar nichts vermissen, nicht den Biss, nicht die Saftigkeit, nicht die Würze, nicht die Textur, so dass mir schlagartig zu Bewusstsein kam, dass du auch als ausgewiesener Carnivore kein Problem damit hast, in Israel als Vegetarier zu leben. Dieser genießerische Verzicht war bekanntlich die Grundlage für Yotams Kolumne namens „The New Vegetarian“ im Guardian, die seinen Welterfolg begründete.

Ich saß also im HaBasta, trank einen Aligoté von Benoît Ente und bestellte Tellerchen um Tellerchen auf dem Hochtisch neben der Küche. Als ich nach dem Genuss der endgültigen Zitronenmousse zufrieden zahlte und mich auf den Heimweg durch eine laue Nacht machte, war ich dem Zustand sehr nahe, den man landläufig Glück nennt: der harmonischen Übereinstimmung innerer und äußerer Reize.

Wo ich noch glücklich war: Zum Beispiel in der Früh, wenn ich im Stadtteil Neve Tzedek den Kiosk Lilienblum aufsuchte. Der weiß-blaue Pavillon auf seinem sechseckigen Grundriss war schon im Jahr 1920, knapp nach der Gründung von Tel Aviv, an die Ecke von Lilienblum und HaRishonim-Straße gesetzt worden, um den Passanten Soft Drinks und Imbisse zu verkaufen. Heute bedienen gut gelaunte junge Leute die Kaffeemaschine und servieren Avocadotoasts oder Ruggelach. Du sitzt unter einer Pergola im Schatten und erfreust dich am virtuosen Muster, das der Barista auf die Oberfläche deines Cappuccinos gezaubert hat. Vor ein paar Jahren war dieser Kiosk noch ein vernageltes Wrack, und wo heute die Pergola ist, parkten Autos. Im Zuge der großen Renovierungswelle, die über die Stadt hereingebrochen ist, wurde der Kiosk reanimiert, ich kann nur aufrichtig Danke sagen – und noch einen Cappuccino bestellen und vielleicht noch einen frisch gepressten Orangensaft. Dann die Augen schließen und das Rot der Sonne auf den Lidern spüren.

Oder am Strand, wo aus den Lautsprechern des Manta Ray Jack-Johnson-mäßige Wohlfühlmusik strömt, während ich mir an der langen Bar mit Blick auf Strand, die Halbinsel von Jaffa und die untergehende Sonne ein, zwei Drinks bringen lasse. Musik, Wärme, Licht, Luft und die richtigen Getränke ballen sich zur metaphysischen Urgewalt namens Glück – und ich glaube, es ist nicht einmal ein besonders guter, sondern nur ein besonders kräftiger Drink.

Als ich übrigens ein paar Tage später – am Sabbat – zum Manta Ray zurückkehre, um direkt am Wasser ein spätes Frühstück zu nehmen, blicke ich in verständnislose Gesichter: „Sie haben nicht reserviert? Leider. Nein, nicht die geringste Chance …“

Schreibt mir also keine Postkarte aus Tel Aviv und beschwert euch, ihr hättet für das Frühstück am Sabbat keinen Tisch bekommen. Schickt lieber rechtzeitig die Reservierung ab.

Natürlich probierte ich auch aus, was in Tel Aviv Fine Dining heißt. Zum Beispiel kehrte ich hoch im Norden der Stadt im Restaurant Shila ein, das von Chef Sharon Cohen geführt wird, der laut Selbstbeschreibung „lachend und humorvoll“ am Herd steht, seine Gerichte mit „Anmut“ würzt und mit „Liebe“ serviert.

Über diesen Kitsch hinaus vermute ich, dass Chef Sharon Cohen sein Personal bei einer Model­agentur rekrutiert, und es braucht keine zwei ­Sekunden, um zu begreifen, dass ich im Shila an ­einem Treffpunkt der „rich & famous“ gelandet bin. Kein Problem. Auch die Reichen und Schönen Tel Avivs essen gern und gut.

Leider war jeder Teller ziemlich beladen und überfrachtet. Mein „Spanisches Carpaccio“ zum Beispiel umfasste neben der rohen Meerbarbe auch eine Lieferung geschmorter Kalamari, Chimichurri, einen Briocheknopf und ziemlich viel scharfe Tomatensauce. Alles für sich okay. Miteinander ein Chaos.

Auch mein dickes, saftiges und auf der Haut gebratenes Fischfilet kam nicht ohne Ergänzungen, darunter einmal mehr geschmorte Kalamari, von denen offenbar ein Vorrat aufzubrauchen war. Diesmal konkurrierten sie mit einem Krustentierfond, Fenchel, Oliven und grünen Bohnen. Ergebnis: siehe oben.

Klingt jetzt vielleicht nicht so prickelnd. Stimmt aber nicht. Denn ich trank erstens Champagner, zweitens war die Musik im Shila elek­trisch und laut, was drittens für eine sehr unterhaltsame Stimmung sorgte. Als ich mich irgendwann spät auf den Heimweg Richtung Neve ­Tzedek machte, beschloss ich gut gelaunt, zu Fuß zu gehen. Ich weidete mich am Anblick der zahlreichen Häuser mit ihren Rundungen und raffiniert gesetzten Fenstern, die die Ben-Yehuda-Straße säumten. Diese mit dem deutschen Bauhausstil verwandten Häuser im „internationalen Stil“ sind die Folge der regen Bautätigkeit im Tel Aviv der dreißiger Jahre, die wesentlich von aus Deutschland emi­grierten Architekten beeinflusst wurde. Ich beschloss, eine der Bauhaus-Touren zu buchen, die das gleichnamige Zentrum anbietet, dann bog ich auf dem Sderot Ben Gurion Richtung Strand ab, überquerte die Betonwüste rund um das Crowne Plaza und stieg hinunter zum Sand. Dort zog ich mir die Schuhe aus und ging bloßfüßig, heiter und leicht betrunken die Mittelmeerküste entlang. Das ist bei einer Mahlzeit im Shila ­inklusive.

Entsprechend optimistisch suchte ich am nächsten Abend Tel Avivs elegantestes Hotel auf, The Norman, wo ich im hoteleigenen Alena einen Tisch reserviert hatte, weiß der Teufel warum. Am Essen kann der ­gute Ruf des Orts jedenfalls nicht liegen. Ich aß keines der bestellten Gerichte auf, nicht einmal den verbrannten Blumenkohl mit grüner Sauce, obwohl ich doch verbrannten Blumenkohl, wie er im legendären Miznon serviert wird, außen angeröstet und salzig, innen cremig und blumig, ungemein liebe und grüne Sauce auch, wenn sie nicht nur nach Chlorophyll schmeckt.

Das Einzige, was mich mit dem Laden versöhnte, war die Gegenwart des früheren österreichischen Bundeskanzlers, der an der Bar mit seiner Frau bunte Getränke zu sich nahm. Das war also das Geheimnis seiner Slim-Fit-Figur: dort essen, wo man das Essen nicht aufisst. Das ist eine Diät für die „rich & famous“, aber immerhin von einer gewissen Grandezza.

Am nächsten Vormittag machte ich mich auf nach Jaffa. Jaffa liegt auf der vorspringenden Halbinsel, die man von Tel Avivs Strand aus im Süden sieht, während man Fußball spielt, Liegestütze macht oder Falafel isst.

Ich streifte über den berühmten Flohmarkt von Jaffa, ließ mir Orangensaft auspressen und Kaffee sieden, wühlte in Kisten mit alten Schallplatten, schnupperte an orientalischen Düften, machte in einer Kaffeebar im Halbschatten Pause, genoss die Gerüche und Geräusche des Markts, aber als der Hunger stärker wurde, machte ich mich auf den Weg nach Süden, weil mir mehrere verlässliche Quellen zugeflüstert hatten, dass kein Hummus so grandios sei wie der bei Abu Hassan.

Also marschierte ich durch die Altstadt, querte das Hafengelände mit seinen Fischrestaurants und Freiluftbars und quälte mich in der Mittagssonne die Serpentinen zur HaDolphin-Straße hinauf, wo in einem schlichten Lokal der berühmte Hummus-Fabrikant ordiniert, kleine, schmucklose Tische, engste Bestuhlung und ein Andrang, als gäbe es etwas umsonst.

Ich presste mich neben einen Einheimischen, der gerade dabei war, seinen Hummus mit einer rohen Zwiebel zu aromatisieren, und bevor ich noch wusste, ob ich mir diese Bürde auch aufladen will, kam der Chef – ihr erkennt ihn an seiner lauten Stimme; nicht ein bisschen laut; richtig laut; wenn er in der Küche die Bestellungen weitergibt, bebt die Hütte wie beim Soundcheck von Metallica – und brachte Mutha’alat, einmal alles: Hummus, braune Bohnenpaste und Masabacha, eine Hummusvariation, bei der die Kichererbsen nicht püriert, sondern nur notdürftig gequetscht werden.

Eigentlich mag ich Hütten wie die von Abu Hassan. Einheimische und Touristen teilen sich die Bänke. Die Gerichte sind einfach und billig. Kein Abzockverdacht, keine unnötige Schönung, zugesperrt wird, wenn in der Küche die Vorräte aufgebraucht sind.

Trotzdem gefiel mir etwas nicht. Mir kam der irische Starmetzger Jack O’Shea in den Sinn und wie er bei einer Demonstration englischer Cuts das Fleisch, das er gerade in den höchsten Tönen gepriesen hatte, mit einer verächtlichen Grobheit auf die Theke schmiss, sodass mir die ganze Lust verging, davon zu essen. Ungefähr so serviert der Meister des Hummus seine Teller: bumm, zack, klirr, ein Fladenbrot dazu, scharfe Sauce und die Zwiebel für den Geschmack. Zack. Bumm. Metallica.

Dabei war der Hummus sehr gut. Es war seidig und vereinte nahezu ideal den stumpfen Geschmack der Kichererbsen mit dem Sesamschmelz der Tahini. Der Zitronensaft ergänzte mit der frisch gehackten Petersilie den Genuss. Die dunkle Bohnenpaste sah gefährlich aus, schmeckte aber gut, vor allem mit ein bisschen „scharf“, und das Masabacha ­fügte der Hummusformel mit seiner Konsistenz noch eine erfreuliche Dimension hinzu. Den Biss in die rohe Zwiebelhälfte versagte ich mir.

Sehr satt, nicht unzufrieden, aber seltsam berührt von der grobianischen Atmosphäre, verließ ich das Lokal und schlenderte zurück nach Jaffa. Die Typen bei Abu Hassan wissen, was sie tun. Aber wenn sie dazu auch Respekt vor ihren Hervorbringungen und ihren Gästen haben, so können sie das ganz gut verstecken. Vielleicht war ich aber auch nur ein bisschen sensibel.

Dafür spricht, dass ich das skurrile Ilana-Goor-Museum besuchte und von dessen Terrasse über Jaffas Strand und die Weite des Meeres blickte. Nachher spazierte ich auf die andere Seite des Hügels, auf dem Jaffa seit der Antike thront, und schaute im Abrasha Park, von dem aus man ganz Tel Aviv überblickt, der Stadt beim Wachsen zu. Aus der Gartenstadt, die 1909 als Rückzugsgebiet für die Bewohner von ­Jaffa gegründet worden war, ist das kräftig schlagende Herz Israels geworden, Wohnregion für fast die Hälfte aller Israelis, größte Wirtschaftsmetropole des Nahen Ostens nach ­Kuwait und Abu Dhabi. Zwischen den Flachdächern der Weißen Stadt sprießen die Wolkenkratzer, und die Wohnungspreise in Tel Aviv sind längst explodiert. Die gut gelaunte Normalität, die Tel Aviv ausstrahlt – im Gegensatz zur angespannten Nervosität Jerusalems, von den besetzten Gebieten gar nicht zu reden – hat ihren Preis und ist diesen Preis wert.

Am Abend aß ich im North Abraxass in der Lilienblum-Straße. Es war ein Hochamt einfachster Genüsse. Vielen Gerichten wurde nicht einmal ein Teller zugemutet, nur ein Stück Papier oder Karton, von dem ich es pflücken durfte, abbeißen, tropfen lassen. Zum Beispiel lag, als ich ankam, eine Tomate am Tisch, daneben etwas grobes aromatisiertes Meersalz, ein Hors d’œuvre sozusagen. Ich genoss die ­Tomate, aß ein Stück Toast mit fabelhafter Avocado, grüne Bohnen mit Knoblauch, Öl und Zitrone, den obligaten verbrannten Blumenkohl, eine gegrillte Aubergine mit hartem Ei und einer würzigen Tomatencreme und schließlich ein Bun mit schmelzendem Lammfleisch. Der Laden von Eyal Shani, der auch das Miznon-Konzept entwickelt und in die Welt hinaus getragen hat (Tel Aviv/Paris/New York/Wien), schreckt nicht davor zurück, allereinfachste Kreationen zu servieren, vorausgesetzt, die Lebensmittel sind frisch, haben Pep und enthalten Geschmack. Yotam Ottolenghi nannte das North Abraxass sein Lieblingsrestaurant in Tel Aviv, ich kann ihn verstehen. Ich stand leicht bedüdelt von meinem Tisch auf und hatte das Gefühl, kein Gericht würde meine eigenen Fähigkeiten als Koch überfordern. Ein Essen im North Abraxass stattet dich also mit Selbstvertrauen aus, das in deiner eigenen Küche Gestalt annehmen wird. Ich nenne das mal die israelische Form von Nachhaltigkeit.

Natürlich sondierte ich parallel zu den Wirtshäusern die Märkte Tel Avivs. Der Carmel-Markt ist der spektakulärste. In ­seinen Seitengassen verstecken sich großartige Imbisse, zum Beispiel das M25, das von der benachbarten Metzgerei die schönsten Stücke direkt verarbeitet und volley auf den Tisch bringt.

Der Sarona-Markt in der Mitte der Stadt ist eigentlich mehr eine Sammlung von Feinkost- und Küchenbedarfsgeschäften, ergänzt um entsprechende Ausspeisungen, vom Münchner Wurstladen bis zur Sushibar. Nicht weiter bemerkenswert. Der positive Nebeneffekt ­meiner Markterkundung bestand darin, dass ich nicht nur das nahe gelegene Tel Aviv Museum of Art erspähte, sondern auch auf mein nächstes Lieblingslokal stieß, das unweit vom Sarona-Markt zwischen der monumentalen Baustelle für die geplante U-Bahn und ­einem neuen Wolkenkratzer eingezwängt ist. Es heißt Claro. Das mediterrane Restaurant bietet zwar keine Aussicht aufs Mittelmeer, hat dafür aber eine bunte Geschichte. Ursprünglich war das Natursteinhaus im Jahr 1886 von Templern erbaut worden, später befand sich hier eine Druckerei, das Kommando der englischen Truppen während des Zweiten Weltkriegs, die Bank of Israel, eine Abteilung des Mossad und ein Archiv des Verteidigungsministeriums.

Hier – ich greife vor – hatte ich später ein ganz wunderbares Abendessen, das mit dem perfekten Negroni begann, und, seien wir ehrlich, was soll passieren, wenn schon der Negroni perfekt ist? Es folgte ein virtuos abgeschmeckter Salat von Roten Rüben, Kräutern und Karotten (in allen Konsistenzen) mit weichem Schafkäse, dann ein Teller mit roh mariniertem Mittelmeerfisch mit Blutorangen und Labneh, später ein fabelhafter gegrillter Brokkoli mit Speckbutter, Parmesan und ­einer Senfvinaigrette, schließlich umwerfende Tortelloni, gefüllt mit einem feinstofflichen Ragù von der Hochrippe, begleitet von Zwiebelcreme und Salbeibutter. Ich schnappte nach Luft vor Freude.

Vor Freude nach Luft schnappen: Das ist das Stichwort für den Gewürzladen von Arie Habshush, den ich auf dem Levinsky-Markt fand, als ich meinen Marktrundgang fortsetzte. Der Levinsky-Markt ist ein eigenwilliger Markt. Links und rechts der Levinsky-Straße verbergen sich in schmalen Seitenstraßen hinter unbeschrifteten schäbigen Türen zum Teil grandiose Angebote. Für den Laden von Arie Habshush ist Unscheinbarkeit ein Hilfsausdruck. Er befindet sich an der Adresse Ha-Khalutzim St 18 hinter einem türkisblauen Metalltor, das mit Graffitis beschmiert ist, und nur ein kleines, mit Klebeband befestigtes Papier klärt darüber auf, dass man hier zwischen 7.30 und 13 Uhr einkaufen kann – was außer mir vor allem die besten Köche der Stadt und alle anderen Menschen, die sich für Essen interessieren, wissen.

Denn hinter diesem Tor wartet ein Paradies. Links, in ­einem improvisierten Büro, sitzt der Patron persönlich an der Kasse. Weiter hinten versorgen Söhne und Mitarbeiter die sich drängenden Kunden – man sollte nicht gegen Körperkontakt allergisch sein – mit dem besten Stoff, den man sich denken kann. Anders als auf den Gewürzmärkten sind die gemahlenen und geschroteten Aromate nicht zu hübschen Kegeln geformt, sondern schlummern in großen dunklen ­Säcken und Boxen, um augenblicklich zum Leben zu er­wachen, wenn sie ans schummrige Tageslicht geholt werden, wo sie ihren grandiosen Duft entfalten.

Ich nahm Harissa und Sumach aus der Ha-Khalutzim St 18 mit und Zatar, die legendäre ­Mischung aus wildem Thymian, Sumach, gerösteten Sesamsamen und Salz. Seither weiß ich erst, was Yotam Ottolenghi meint, wenn er uns in seinen Büchern anweist, zu würzen. Bevor ich bei Arie Habshush gewesen war, war das Würzen, sorry, eher eine Karikatur davon gewesen.

Ein Drink in der Bar Bici­cletta. Noch ein Abendessen bei HaBasta. Ein Spaziergang am Strand. Ein Cappuccino am Kiosk Lilienblum. Glück ist immer nur geborgt. Aber ich kenne jetzt ein gutes Leihhaus.

HaKosem
www.falafelhakosem.com

HaBasta
4 Hashomer St, Tel Aviv

Manta Ray
www.mantaray.co.il

Shila
www.shila-rest.co.il

Ilana-Goor-Museum
www.ilanagoormuseum.org/en

North Abraxass
www.facebook.com/northabraxass

M25
www.m25meat.co.il

Claro
www.clarotlv.com

Bicicletta
www.facebook.com/BiciclettaTLV