Europäisches Roadmovie

Postkarten von einer Reise durch Deutschland, Dänemark, Schweden und Polen, unter besonderer Berücksichtigung der Ernährungssituation, erstaunlicher Entdeckungen und unvermeidbarer ­Enttäuschungen.

Text von Christian Seiler Illu von Markus Roost

I. Grüße aus Derneburg
Wenn Sie jetzt nachschauen müssen, wo genau ein Ort namens Derneburg liegt, sind Sie, würde ich mutmaßen, nicht wirklich in der Minderheit. Ich kann aushelfen. Es handelt sich um einen Ortsteil der Gemeinde Holle im Landkreis Hildesheim. Die nächstgrößere Stadt ist Hannover (und wenn Sie jetzt sagen, mmh, Hannover, vermutlich in Deutschland, oder?, dann darf ich antworten: ja. Vielleicht sollten Sie mal auf der Karte nachschauen).

Ich war in Derneburg, weil dort ein Schloss steht, das früher von einem Giganten der deutschen Kunstszene bewohnt wurde: Georg Baselitz. Baselitz erwarb das Schloss, das auf eine fast tausendjährige Geschichte als Mönchskloster und Sitz der Grafen zu Münster zurückblickt, 1970 und bezog es, um hier zu leben und zu arbeiten. Als er die Anlage 2006 wieder verkaufte, übernahm es die amerikanische Hall Art Foundation, die zuerst die umfangreiche Kunstsammlung des deutschen Malerfürsten und bald danach Schloss Derneburg selbst kaufte. Seither ist das Schloss in einen ziemlich aufsehenerregenden Ausstellungsort umgewandelt worden, wo in wechselnden Ausstellungen auf großzügige Weise die Arbeiten zeitgenössischer Künstler ausgestellt werden. Der Hall Art Foundation gehören etwa 5.000 Werke von einigen Hundert Künstlern, darunter natürlich Baselitz selbst, aber auch Joseph Beuys, Joerg Immendorff, Anselm Kiefer, Malcolm Morley, A. R. Penck, Ed Ruscha, Andy Warhol und Franz West.

Als ich durch die großzügigen Räumlichkeiten wanderte, wo gerade das Frühwerk von Anselm Kiefer ausgestellt ist, stieß ich auf ein Bild, das mich sofort zutiefst berührte. Es zeigt einen Laib Brot, einen Apfel und einen Krug vor einem grünblauen Hintergrund. Eine schwarz gepinselte Schreibschrift an der oberen Kante des Bilds kommentiert das Stillleben: „Still Life is Exciting.“

Es liegt mir fern, die Arbeit von Anselm Kiefer kunstkritisch beurteilen zu wollen. Bei vielen seiner Werke bin ich überwältigt von ihrem ästhetischen und inhaltlichen Gewicht, von der schmerzhaften Auseinandersetzung mit Schuld, Leiden und Trostlosigkeit. Aber dieses kleine Bild aus dem Jahr 1976 tut genau das Gegenteil: Es thematisiert nicht die Auseinandersetzung mit dem Unvorstellbaren, sondern lenkt meinen Blick auf das, was das Leben auch unter den dunklen Vorzeichen unserer Gegenwart lebenswert macht: das Brot, den Apfel, den Krug. Manchmal finde ich es dieser Tage schwierig, in heiterem Ton die eine oder andere Methode zu erwägen, wie es richtig ist, eine Pasta oder ein Ratatouille zuzubereiten. Ich denke, wie wir alle, an den Krieg, der nicht aufhören will, an die ökonomischen Kolateralschäden, die wir früher oder später am eigenen Leib spüren werden, an die Pandemie, die sich ein nächstes Mal anschickt, ihre Gestalt zu wechseln, die elenden Menschen, die andere aus dem Dunkel ihrer Anonymität mit Hass verfolgen und so schöne Einrichtungen wie Twitter oder Instagram für mich unbenutzbar machen, weil ich keine Lust habe, Anteil zu nehmen am Contest der Besserwissereien und Herabwürdigungen.

Natürlich weiß ich, dass Anselm Kiefer nicht diesen Kontext gemeint hat, als er die Zeile „Still Life is Exciting“ über sein Bild schrieb. Aber ich nehme mir die Freiheit heraus, mich von diesem Stück Brot, diesem Apfel und diesem Krug trösten zu lassen, weil ich darin die kleinste Dimension von Welt entdecke, die unser Leben feiert, mit dem Nötigsten, mit Dingen, ohne die wir nicht leben können und deren Schönheit und Ethik in keinem Augenblick korrumpierbar oder hinfällig werden.

Ich stand lange vor Kiefers Bild. Ich sah die noch unberührte Kruste des Brots, das darauf wartet, dass wir es brechen und teilen. Ich sah den Apfel mit seinem verführerischen Glanz, und ich dachte mir, wie gern ich dieser Verführung – wie so vielen anderen – nachgeben möchte, weil sie mich mit Süße belohnt und mit Frische und mit Leben. Ich betrachtete den Krug, der das Geheimnis in sich trägt, ob er Wasser oder Wein enthält, und ich begreife Anselm Kiefers Bild als ­einen völlig aus der Art geschlagenen Hinweis darauf, dass es sich lohnt, die Dinge, die uns umgeben, genau zu betrachten, ihre Schönheit zu sehen, ihren Wert zu erkennen und daraus die Berechtigung abzu­leiten, das Leben, mit dem wir manchmal hadern, hungrig zu lieben und in seinen Elementarteilchen zu genießen.

Später fuhr ich weiter nach Norden, übrigens ein paar interessanten kulinarischen Momenten entgegen, aber nichts machte mir mehr Freude, als wenig später das Brot, den Apfel und den Krug zu sehen und mich an das Allgemeine im Speziellen zu erinnern.

II. Grüße aus Lübeck
Als ich mich der Hansestadt an der Lübecker Bucht näherte, begann ich mich plötzlich zu sorgen. Zwar hatte ich mir ein anständiges Hotel reserviert, was ich nicht mehr dem Zufall überlasse, seit ich eine Nacht in einem ibis-Hotel in Travemünde verbracht habe, aber ich hatte ein Detail vernachlässigt: Wo würde ich essen?

Normalerweise folge ich in diesem Fall der alten Weisheit, dass nichts so wertvoll ist wie der Ratschlag von Freunden oder Freunden von Freunden. Aber in diesem Fall konnten mir nicht einmal die ausgefuchstesten unter den Reisenden helfen, was mir zu einer Einsicht verhalf: Kein Land Europas ist dem Österreicher so unbekannt wie der große Nachbar im Norden.

Also behalf ich mir mit der zweitbesten Lösung und rief im besten Restaurant der Stadt an. Es heißt Wullenwever und wird geführt von Roy Petermann. Wenn es jetzt bei den besonders Versierten unter Ihnen klingelt: Ja, Roy Petermann ist verwandt mit jenem Horst Petermann, der an der Zürcher Goldküste seine legendären Kunststuben betrieb. Horst war der Legende nach ein so starkes Vorbild für Roy, dass auch dieser den Beruf des „Cuisiniers“ ergriff – so nannte sich Horst Petermann in seinem gleichnamigen Kochbuch, in dem das Rezept für den besten Zitronenrisotto steht, den ich je gegessen habe. Das Wullenwever ist in einem Kaufmannshaus aus dem 16. Jahrhundert untergebracht und leistet Fluchthilfe „in eine mediterrane Welt“. Das klang nicht schlecht.

Es war später Vormittag. Roy Petermann hob persönlich ab. Ich erklärte mein Anliegen. Nein, antwortete er, leider habe er heute Abend keinen Tisch mehr frei. Aber wenn er mir einen Rat geben dürfe: Ich möge ins Restaurant VAI gehen, denn dort sei die Küche lübeckianischer als bei ihm. Ich würde dort einen weit besseren Eindruck von der Ostsee­küche bekommen. Das VAI sei übrigens das einzige Lokal, das seine, Petermanns, Familie und er in Lübeck besuchten. Gerade, dass Petermann sich nicht erbötig zeigte, für mich im VAI anzurufen.

Ich dankte ihm überschwänglich. Nichts ist wertvoller als ein Wirtshaustipp des besten Wirten. Diesen Satz können Sie sich ruhig auf ein T-Shirt drucken lassen. Es gibt Verlage, die machen daraus ganze Bücher (in denen aber Lübeck nicht vorkommt, das ist ja das Problem). Lübeck ist eine wundervolle Stadt. Ich schlief im Fisher’s Loft, einem über 250 Jahre alten Rokoko-Speicher im Marien-Magdalenen-Quartier, einem historischen Seefahrerviertel, was allein schon deshalb einleuchtend war, weil an der nahen Trave einige eindrucksvolle Kutter lagen und diverse Fast-Food-Shops Fischsandwiches verkauften. Das Hotel war von ausgesuchter Schönheit, fast schon Grandezza, was sicher darauf zurückzuführen ist, dass die Eigentümer Architekten sind und über etwas sehr Seltenes verfügen, nämlich Geschmack.

Geschmack ist in Lübeck übrigens ubiquitär. Die „Stadt der sieben Türme“ hat ihren Reichtum aus Handel und Seefahrt in eindrucksvolle Architektur umgemünzt, elegante, hohe Häuser, viele mit typischen Backstein-Treppengiebeln. Die Altstadt ist komplett von Wasser umgeben, und ich blieb immer wieder vor besonders schönen Gebäuden stehen, die geschichts­prall ihre Schönheit präsentierten. Das Willy-Brandt-Museum. Das Günter-Grass-Haus. Das Buddenbrockhaus. Das Haus der Schiffergesellschaft mit seinem geschichtsschwangeren Wirtshaus. Da kommt schon auf den ersten Blick einiges an historischer Würde und politisch-literarischer Weltgeltung zusammen.

Das VAI fand ich in einer Seitenstraße unweit des Rathauses. Es hielt, was Petermann versprochen hatte. Nicht nur, dass ich zum Aperitif einen Riesling von Clemens Busch trinken durfte, ich bekam auch eine köstliche klare Fischsuppe mit geräucherter Forelle, Scampi und Fischklößchen, anschließend gebratene Sardinen und, wenn man so was schon mal auf einer Karte sieht, Lachsbuletten mit Reis und Schmorgurken. Nachher natürlich die Rote Grütze mit Tonkabohneneis. Ich kann nicht sagen, welcher Gang mir am liebsten war. Ich kann nur einstimmen in den Gesang Roy Petermanns, der das VAI über den grünen Klee lobt.

Auf Deutsch: This is the place to be in Lübeck.

III. Grüße aus Klitmøller / Svinkløv
Wenn eine Landschaft „Cold Hawaii“ heißt, werde ich hellhörig. Ich glaube dem „Cold“ mehr als dem „Hawaii“. Überhaupt hielt ich mich hier nicht aus selbst gewählten Gründen auf, sondern weil eine gute Freundin, deren Mutter Dänin ist, einen runden Geburtstag im Land der Ahnen feiern wollte und dazu an die Küste Nordjütlands einlud. Ich gestehe, dass ich die programmierte Kälte mit etwas gemischten Gefühlen ansteuerte. Aber wie so oft, wenn die Erwartungen gering sind, hat die Realität eine faire Chance, zu glänzen und zu verblüffen.

So war das in Klitmøller. Unser Quartier hatte die Jubilarin mit Fingerspitzengefühl ausgesucht. Es trägt den Namen „The Triangle“ und befindet sich etwa fünfzehn Minuten vom Meer entfernt. Wer möchte, kann sich das Haus hier ansehen: www.urlaubsarchitektur.de/de/the-triangle. Es ist so spektakulär, wie es aussieht. Noch spektakulärer ist nur die Landschaft, durch die ich täglich zum Meer wanderte, wundervolle Dünen, bewachsen mit hohen Gräsern in verschwenderischen Gruppierungen, die aussahen, als hätte sie der große Landschaftsarchitekt Piet Oudolf persönlich angelegt, Blicke weit hinaus auf die Ostsee, ein fast schon unwahrscheinlicher Friede, andere Menschen so weit abseits, dass man nicht erkennen konnte, ob sie mit oder ohne Badehose ins Wasser gingen.

Durchaus spektakulär war auch das Angebot beim Fischhändler in Vorupør, wo täglich neue Hummer in den Becken auf ihre Terminatoren warteten. Außerdem gab es wundervolle Seezungen und Seeteufel, aber auch köstliche gesalzene Heringe, mit denen wir das Frühstück ein bisschen reichhaltiger gestalteten. Es gab Seezunge mit Beurre blanc, Seeteufel mit Chorizo, solche Sachen. Wir konnten aber nicht jeden Tag Fisch essen, weil wir im nahen Wald so ­viele Steinpilze fanden, die auch weg mussten, roh, sautiert, mit Tagliatelle, im Risotto.

Ansonsten ging ich viel am Strand spazieren. Manchmal ging ich von Vangså, wo sich unser Haus befand, bis nach Klitmøller, wo ich den Surfern zuschaute. Die Anwesenheit der wettergegerbten Buben und Mädeln, die in ihren Neoprenanzügen die Wellen ritten, ist übrigens die Auflösung der Frage, warum hier der Name „Hawaii“ im Spiel ist. Die gastronomischen Einrichtungen mied ich mit Ausnahme des Eissalons, ich wusste, dass unsere Küche bessere Resultate lieferte. Das klingt vielleicht nach mittel­mäßigem kulinarischen Resultat. Aber erstens nein und zweitens nein.

Erstens, weil der Fisch von außergewöhnlicher Qualität war. Zweitens, weil die Jubilarin einen Ort ausbaldowert hatte, zu dem die Anreise zwar eine gute halbe Stunde dauerte, der uns dafür aber mit ungewöhnlicher Eleganz und naturverbundener Schönheit überraschte, dass ich davon bis heute verwandelt bin: das Badehotel in Svinkløv. Das lang gestreckte Holzgebäude liegt auf den Dünen direkt über der Jammerbucht (ja, so heißt es dort, als Tourismusverein würde ich da was ­dagegen unternehmen). Die Fassade in hellem Grau gestrichen, der Schriftzug „Badehotel“ in altmodischer Serifenschrift, die weißen, von feinen Latten in Segmente geteilten Fenster, der Blick aufs Meer. Kein Wunder, dass das ­dänische Fernsehen hier eine Serie namens „Badehotellet“ spielen ließ.

Das Haus wurde 1925 vom königlichen Bauinspektor Ejnar Packness entworfen. Es war ursprünglich nicht einmal halb so groß wie heute, wurde aber wegen großen Erfolges beim Publikum vergrößert und umgebaut, bis es 1934 die heutige Gestalt hatte. In den Siebzigerjahren übernahmen es etwas hippieske Eigentümer, die Kunst, Meditation und Yoga an den Nordsee-strand brachten. 2016 brannte das Haus bis auf die Grundmauern ab und musste neu aufgebaut werden. Den Wunderheilern von Praksis ­Architects gelang das in alter Schönheit und mit einem neuen ­Innenleben. Inzwischen ist eine Stiftung Eigentümerin des Badehotels, die sich sorgfältig und motiviert um den Erhalt und Betrieb des Hauses kümmert.

Das Restaurant öffnete pünktlich um sechs (und zwar keine Minute früher). Wir hatten einen guten Tisch im Speisesaal, in dem es eigentlich nur gute Tische gibt, denn das Licht, mit dem die untergehende Sonne den Raum füllt, ist von so zeitloser, melancholischer Schönheit, dass alle Anwesenden wie verzaubert waren. Auf dem Tisch standen massive zylindrische Vasen voller Ähren und Strandblumen, und das Essen war okay, feines Gemüse, gut gegarter Fisch, aber die Nachspeisen waren exzeptionell, eine Klasse besser als alles andere. Als wir nachfragten, erfuhren wir, dass sie von Elisabeth Madsen kreiert worden waren, die mit Dänemark im Jahr 2022 den Bocuse d’Or gewann. Feinste Kombinationen, die zwischen Süße, Säure und salzigen Tönen changierten, großes Kino an einem Ort, der selbst großes Kino ist. Am 15. April 2023 startet die nächste Saison.

IV. Grüße aus Ystad
Wer schon nicht gewusst hat, wo Hannover liegt, braucht wahrscheinlich auch bei der Verortung von Ystad etwas Nachhilfe, außer natürlich, Sie sind Fan von Kurt Wallander. Das ist der leicht depressive Kriminalkommissar, den der schwedische Schriftsteller Henning Mankell erfunden hat. Dessen Wirkungs­gebiet ist die südschwedische Provinz Skåne län, und sein Heimatort ist die Hafenstadt Ystad. Ystad ist eine pittoreske Kleinstadt, gepflasterte Gassen, einstöckige Häuser in ausgefallenen Farben. An den Hauswänden lehnen unversperrte Fahrräder, um das ehemalige Franziskanerkloster sind Gemeinschaftsgärten angelegt, und die Kräuter- und Blumengärten sind gut gepflegt.

Ich stieg direkt am Hafen in einer Pension ab, die sich im ehemaligen Bahnhofsgebäude befindet und den sinnfälligen Namen Stationen trägt, Blick auf den Fährterminal, von dem das Schnellboot nach Bornholm ablegt. Ich sah Schulklassen zu, die zum Klassenausflug auf die dänische Insel aufbrachen, beobachtete Rentner, die ihren Campingbus auf das Boot steuerten, und erinnerte mich gern an meinen Ausflug auf die Insel zurück, als ich dort Nicolai Nørregaard in seiner Strandversion des Kadeau besuchte. Nicolai, in Kopenhagen mit zwei und auf Bornholm mit einem Stern ausgezeichnet, stammt von Bornholm. Er wurde von seinem foodverrückten Großvater im kleinen Einmaleins von Landwirtschaft und kulinarischem Handwerk unterwiesen. Als er mitbekam, wie das Noma in Kopenhagen Spitzenküche neu definierte, gründete er gemeinsam mit seinem Freund Rasmus Kofoed (nicht identisch mit dem Geranium-Chef; Kofoed ist auf Bornholm ein verbreiteter Name) ein Restaurant in exponierter Lage an der Südküste von Bornholm, einziges ­Gebäude weit und breit, weiße Strände, ­unverstellter Blick auf die Ostsee, Ferienhaus-in-den-Sechzigerjahren-Style. Regionale Produkte, jugendlicher Enthusiasmus, die vom Noma ausgeborgte Vision einer nordischen Hochküche – ich sehnte mich ein bisschen nach dem großartigen Essen am melancholischen Strand, das ich damals genossen hatte. Aber jetzt waren meine Pläne andere. Ich traf in einem ein paar Kilometer entfernten Dörfchen an der Küste die Macher des Fool-Magazines, Lotta und Per-Anders Jörgensen.

Nur so viel: Per-Anders grillte wie ein Weltmeister (er hatte dafür extra Holzkohle aus Südamerika eingeflogen, nicht extra für mich natürlich, sondern extra für seinen Grill). Er bereitete das dicke Tenderloin à la Heston Blumenthal zu, indem er es auf aberwitziger Hitze schnell und oft wendete und dabei agierte wie ein Feuerwehrmann full in action. Dazu tranken wir österreichischen Wein, der in der südschwedischen Klimakammer auf mich gewartet hatte, sahen die Dunkelheit über die Ostsee ­kommen und den Mond aufgehen, redeten dabei über die Zukunft der Kulinarik, ein gewisses Ennui am Fine Dining und die Frage, warum Österreich eigentlich nicht „the next big thing“ auf dem Fahrplan der weltreisenden Foodies ist – die Fools: Verstehen wir nicht. Eigentlich ist alles da. Die Tradition. Das Handwerk. Die Städte. Die Berge. Die Seen. Der Wein. Vielleicht braucht es nur ein paar Ideen, um das alles zusammenzunähen und der fressenden Weltgemeinschaft schmackhaft zu machen. Tja, vielleicht, warum nicht.

Mit dem letzten Zug fuhr ich zurück zu meiner Pension und hatte den Eindruck, einen klareren Blick auf die heimatliche Kulinarik erlebt zu haben als sonst, wenn ich in Wien im Wirtshaus sitze und Nierndln esse und das Wirtshaus als Selbstverständlichkeit und nicht als beneidenswertes Phänomen aus der nordeuropäischen Vogelperspektive betrachte.

Per-Anders und Lotta mussten am nächsten Morgen zurück nach Malmö. Jordi Roca war als Gast für ein Food-Festival angesagt, sie mussten ihn angemessen in Empfang nehmen. Ich blieb in Ystad, wanderte auf den Spuren Wallanders durch die Stadt, stand wie ein Esel vor dem Haus, wo der Kommissar im Buch gewohnt hatte und fand trotzdem nicht sein Namensschild an der Tür, so kann man sich täuschen. Ich trank Kaffee im reizenden Gärtchen des Bäckahästen, nahm eine ausgezeichnete Mahlzeit im von den Fools empfohlenen Le petit bistrot, wo sich an diesem Sonntagabend tout Ystad versammelte und sich um die Bestände des Weinkellers kümmerte. Es gab französisch grundierte Gerichte mit schwedischem Finish, Hering mit Preiselbeersauce und gebratenem Grünkohl, Bouillabaisse mit Kaisergranat, Forelle und Kabeljau und schließlich eine köstliche Tarte Tatin mit Crème anglaise, dazu bestellte ich eine Flasche Riesling vom Gut Hermannsberg. Später schlenderte ich noch einmal durch die Stadt, besuchte die Gärten des Klosters im Halblicht, setzte mich schließlich an den Hafen und blickte hinaus aufs dunkle Meer, das ich am nächsten Tag überqueren würde – und auf dessen Grund die zu diesem Zeitpunkt noch intakten Gaspipelines zwischen Russland und dem europäischen Festland verlaufen. Während unidentifizierbare Bösewichte bereits herumstudierten, wie man Löcher in diese Pipelines sprengen kann, dachte ich nichts Böses, sondern ­genoss die Kühle der Nacht, den würzigen Duft des Meeres und die Aura des Nordens.

V. Grüße aus Misdroy
Die Fähre kam in Sassnitz an, einem kleinen Ferienort auf der Insel Rügen. Ich hatte die weißen Kreidefelsen der bevölkerungsreichsten Insel Deutschlands schon beim Einlaufen bewundert, jetzt fuhr ich quer über die Insel, bis ich nach Stralsund kam, einer der vielen deutschen Städte, die ich bis dato völlig unterschätzt hatte. Von der Autobahn aus sah ich die Küstenpromenade Stralsunds, fuhr ab, suchte mir einen Parkplatz und blieb in der prachtvollsten Hansestadt Vorpommerns picken. An der Hafeninsel lag die Gorch Fock I, jetzt Museumsschiff, in der Hafenkneipe Zum Goldenen Anker nahm ich zum Kaffee einen Matjes, dann besichtigte ich das Zen­trum, die fantastische Nikolaikirche und (von außen) das „Stadion der Freundschaft“.

Dann brach ich zu meiner Reise nach Pommern auf. Sie führte mich zuerst in die ­Kreisstadt Greifswald und dann über die nur zeitweise geöffnete Zugbrücke in Wolgast ­hinüber nach Usedom, der größtenteils zu Deutschland, zum kleineren Teil aber zu Polen gehörigen Insel, die durch den Peenestrom und das Stettiner Haff vom Festland getrennt ist und durch die ´Swina von der Nachbarinsel Wolin. Das war insofern von Bedeutung, als auf der Insel Wolin, von der auch ich bisher noch niemals gehört hatte, mein Tagesziel lag, der Ostseekurort Mi˛edzyzdroje (ehemals: Misdroy).

Zuvor erkundete ich oberflächlich Usedom, mit durchschnittlich 1.906 Sonnenstunden die sonnenreichste Region Deutschlands, allerdings auch bis zum Rand vollgestopft mit ­Unterhaltungsinfrastruktur, für die „mittelprächtig“ ein Hilfsausdruck ist. Die Strände lang, Strandkörbe vorhanden, aber erst in Heringsdorf im Osten der Insel blitzte so was wie Grandezza auf, in Spurenelementen.

Es gestaltete sich dann etwas schwierig, die Swina zu überqueren, weil es keine Brücke gibt und die Fähre in Swinemünde nur Anrainer von der einen auf die anderen Seite des Flusses befördert (außer zwischen Mitternacht und vier Uhr früh). Für einen Moment hatte ich das klaustrophobische Gefühl, auf Usedom eingesperrt zu sein, bis ich schließlich doch noch das Schiff von Swinoujscie nach Karsibór fand und überraschenderweise gratis übergesetzt wurde. Miedzyzdroje (ehemals: Misdroy) gilt aus mondäner Badeort an der Ostsee. Seit dem 19. Jahrhundert siedelten sich immer wohlhabendere Müßiggänger an, unter ihnen der deutsche Kaiser Friedrich III., dazu gesellten sich der preußische Kronprinz samt Hofstaat und prominente Zeitgenossen aus Gesellschaft, Kunst und Kultur. Misdroy stieg zu einem der führenden deutschen Seebäder auf, 1885 entstand der Seesteg, der bis heute weit in die Ostsee hinausragt, und an der Uferpromenade wurden elegante Villen und Grand Hotels errichtet. Eine Eisenbahnlinie verband Misdroy direkt mit Berlin und Stettin. Ende des 19. Jahrhunderts war Misdroy das Nizza der Ostsee.

Ich stieg in der Villa Stella Maris ab, einem prachtvollen Haus mit Türmchen und Veranden, das einmal wunderschön gewesen sein muss – mindestens bis zum Umbau zur Pension mit Dusche und Klo am Zimmer, der nur mit Spurenelementen von Feingefühl erfolgt ist. Ich hatte das besondere Glück, dass mein Zimmer Seeblick besaß, was aber bedeutete, dass ich auch die Vergnügungsmeile, die sich zwischen Promenade und Strand gequetscht hatte und durch besondere Lärm- und Geruchsentwicklung hervortrat, direkt vor dem Fenster hatte. Als ich mit dem Wunsch, das Zimmer zu tauschen, bei der Rezeption vorstellig wurde, telefonierte die zuständige Rezeptionistin zwar aufgeregt mit ihrem Chef, aber da es das letzte Zimmer war und niemand umquartiert werden konnte, blieb ich auf dem Meerblick sitzen. Als Entschädigung bekam ich das Abendessen gratis.

Ich spazierte zuerst der Promenade, dann dem Strand entlang. Ich sah fantastische Häuser, manche in furchterregendem Zustand wie das Baltyk neben der Villa Stella Maris, andere atemberaubend renoviert wie die Villa Richter, ehemalige Familiensitze, die jetzt neuen Herren dienen. Dazwischen wachsen Glaskästen mit winzigen Außenflächen in die Höhe, pfeifen auf den Charme, der hier einmal zu Hause war und den nur sehen kann, wer ihn sehen will. Am Strand die Ewigkeit, der Blick in die Weite und eine unvergängliche Schönheit. Muss auch gesagt sein. Spätabends ging ich auf den Seesteg hinaus, nachdem ich vorher gleich zwei Filialen des Berlin Döner Kebap passiert hatte. Eine Party war in vollem Gang. Soundfelder überlappten einander, Tänzer, die verschiedenen Rhythmen folgten, kollidierten, Allein­unterhalter drehten die Lautstärke hoch, der Schnaps floss, und in den Geschäften wartete ein unfassbar großer Vorrat an bunten Cremetorten auf Kundschaft. Ich schaffte es durch Schlagobers und Schnaps bis ans äußerste Ende des Seestegs und verliebte mich dort für alle Zeiten in den Trost der Dunkelheit.

VI. Grüße aus Wrocław
In Wrocław, dem ehemaligen Breslau, war plötzlich alles großartig. Das Hotel, das ich ausgesucht hatte, erwies sich als Goldgriff – es heißt Altus Palace und befindet sich am Rand der Altstadt im ehemaligen Leipziger Palais, das 1874 als Wohnsitz des Bankiers Ignatz Leipziger gebaut worden war. Die Zimmer sind von entsprechend luxuriöser Größe, die Bäder neu, das Stiegenhaus strahlt in fast schon übertriebenem Glanz. Ich fühlte mich als Kitschbruder erkannt und zu Hause.

Als ich zu Fuß ins Zentrum der Altstadt spazierte, blieb mir der Mund offen stehen. Selten sah ich eine so berückend schöne, ­unkonventionell angelegte Stadt. Das gotische Alte Rathaus ist Teil eines Gebäudekomplexes, der wiederum vom Großen Ring umgeben ist, einem atemberaubenden Ensemble aus schlanken Bürger- und Geschäftshäusern, deren Giebel prächtig verziert sind und die Stadt völlig aus ihrer Zeit heben – mit Ausnahme des Bürohauses der Bank Santander, das ein funktionalistisches Findelkind ist, aber trotzdem einen herben Reiz versprüht.

Ich ging einmal, zweimal, dreimal um diesen Platz, sah Häuser im gotischen und im Renaissancestil, blieb vor wunderschönen Jugendstilfassaden stehen und setze mich schließlich überwältigt ins Café Literatka, wohin auch sonst, wo ich mir wie alle anderen Besucher Bier bestellte, es war auch schon fast vierzehn Uhr. Von der Schönheit dieser Stadt war vor dieser Reise praktisch nichts an mein Ohr gedrungen. Ich kannte Warschau und Krakau, aber schockverliebt habe ich mich nur in Breslau.

Ich fand sogar ein Restaurant, das moderne polnische Küche anbietet. Es heißt Młoda Polska, Junges Polen, befindet sich am nächsten großen Platz, dem Salzplatz (Plac Solny), der direkt an den Alten Ring anschließt und dessen Pracht noch einmal spiegelt, als ob das nötig wäre. Ich aß einen köstlichen Matjes mit Kohlrabi, einen Karfiol mit Ei – fast so wie Sepp Schellhorns Karfiol Polonaise, so ein Zufall –, naschte dazu frisch eingelegte Gurken und trank Bier.

Es war ein Fest. Ich verlängerte meinen Aufenthalt um zwei Tage, streunte glücklich durch die Stadt, beobachtete den Erzbischof in seiner Residenz beim Essen, sah mehr Kirchen als in Rom, starrte in die tote Oder, fand in der Stadt, die jahrhundertelang deutsch gewesen war, nur mehr wenige Spuren ihrer schlesischen Geschichte in deutscher Sprache und umso mehr Schichten von Geschichte, wundervolle Kunst, verschwenderische Details.

Ich trank Bokser Lager am Großen Ring, Tee im Café Literatka, Wein im Młoda Polska. Ich wanderte aus der Altstadt in die Außenbezirke, wo sich die Restposten sozialis­tischer Architektur befinden, spürte einen fantastischen Laden mit polnischer Druckgrafik auf (polishposter.com, machen Sie sich selbst ein Bild) und fuhr mit dem festen Vorsatz nach Hause, dieser Stadt einen Kranz zu winden und bald zurückzukehren. Wenigstens das erste Versprechen ist hiermit eingelöst. —

Derneburg im Landkreis Hildesheim mit Schloss. Die Baselitz-Skulptur vor dem Eingang gibt den ersten Hinweis darauf, dass sich hier eine exquisite Sammlung zeitgenössischer Kunst befindet, u. a. das Frühwerk von Anselm Kiefer.
Hansestadt Lübeck, die Altstadt von Wasser umgeben
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Erstklassige Unterkunft im Fisher’s Loft, einem umgebauten barocken ­Lagerhaus.
© Nina Struwe
­Ausgezeichnetes Seafood im ­Restaurant VAI
© Restaurant VAI
Altstadt von Ystad, bekannt aus den Wallander-Romanen von Henning Mankell
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bemerkenswerte Unterkunft im dänischen Klitmøller an einer Küste namens Cold Hawaii
© Mads Bjeere Madsen
Berauschender Hauptplatz von Wrocław mit Lieblingscafé (unten); ehemals herrschaft­liche Villa Stella Maris in Misdroy an der Ostseeküste
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