Fette Ente, starke Hühner

Auf der Suche nach Qualität müssen wir ziemlich weit reisen. Ins steirische Sulmtal oder ins englische Bray.

Fette Ente, starke Hühner

Text von Alexander Rabl Fotos: Getty Images, beigestellt
Fette Ente gefüllt
Heston Blumenthal hat jetzt wieder ein Kochbuch herausgegeben. Auf der Suche nach Perfektion, so heißt es. Er nimmt sich in seinem einer BBC-Serie nachempfundenen Buch auch des Geflügels an, des ordinären Hendls, das er bei Niedertemperatur brät und dem er mit Spritzen den eigenen Saft unter die Haut injiziert, damit das Fleisch richtig saftig bleibt. Hühner sind empfindliche Wesen, weiß Blumenthal. Schlechte Behandlung im Stall und später im Backofen quittieren sie mit schlechtem Geschmack und zähem Fleisch. Im 3-Michelin-Sterne-Restaurant, dem Herr Blumenthal vorsteht, sucht man auf der Speisekarte das Brathendl allerdings vergeblich.
Die Gäste aus aller Herren Länder, die das Restaurant Tag für Tag bis auf den letzten Platz füllen, rechnen auch nicht damit. Sie erwarten eine Mahlzeit mit viel Stoff und wenig Biss. Sie erwarten wabbelige Kuben aus Gelee, Stickstoff und Kaviar mit Erdbeeraroma. Von der Ferne betrachtet sieht alles ja ganz anders aus. Heston Blumenthal gilt als wichtigster Neuerer des Kochens, er ist der einzige der neuen Generation, der aus dem Schatten des schon zu Lebzeiten legendären Adrià hervortreten konnte. Gelernt hat er das Kochen nicht in Rosas, sondern bei den besten Köchen Europas, genauer: Frankreichs.
Die schwachbrüstige Hendl-Realität
Ach ja, überhaupt Frankreich. Dort begegnet man Bruder Hahn und Schwester Henne mit Respekt. Im Gegensatz zu uns, wo sich das Verhalten des Menschen zum Huhn als reichlich unzivilisiert erweist. Anonymes Geflügel zu Geiz-ist-geil-Preisen, blasse, schwachbrüstige Geflügel, die nach Fisch schmecken. Auch wenn am Hendl "Bio" draufsteht, ist das in Österreich keine Garantie für ein Esserlebnis. In Frankreich hingegen macht jede Gegend um ihre Hendlzucht ein Gegacker, als wäre es was. Und es ist wirklich was, das Huhn aus der Bresse oder die Geflügel aus dem Landes oder dem Périgord. Nach dem zärtlichen Abkrageln bekommt dort jedes Hendl ein eigenes Logo um den Hals oder ums Bein gebunden und so posieren sie dann in den kleinen Geschäften auf den französischen Märkten und in den Fressstraßen in Pariser oder Lyoner Vororten, von denen Wiener, Linzer und Salzburger noch zehn Leben lang träumen können. Der George Blanc zum Beispiel macht eine eigene Creme zum Bressehendl, das ist auch in Blumenthals Buch nachzulesen und aber besser gleich in Vonnas, einem kleinen Dorf in der Bresse, vor Ort zu kosten. Wie man nun hört, gibt es auf der ganzen Welt nur ein Huhn, das es mit dem berühmten Verwandten aus der Bresse aufnehmen kann. Es kommt aus dem steirischen Sulmtal. Muskulös und groß sollen sie sein und auf einer Stufe zu handeln wie ihre berühmten, nicht blaublütigen, aber blaufüßigen Verwandten aus der Bresse. Im Sulmtal trifft man sie gerne in der Sonntagspanier als Backhendl. Davon bitte gleich mehr. Mit Erdäpfel-Feldgurken-Salat.
Fette Ente als britisches Wahrzeichen
Es war sicher auch patriotischer Stolz dabei, als Heston Blumenthals "Fat Duck" von der Zeitschrift Restaurant zum Weltbesten gekürt wurde, aber Patriotismus allein kann es nicht gewesen sein. Der Spiegel brachte eine ganze Seite, als der Michelin der Ente in Bray den dritten Stern verlieh. Im Spiegel hat man aber selten den Eindruck, als müsste der seine Seiten mit Themen füllen, wenn sie nicht wirklich interessieren. Der Ruf, der dem kleinen Restaurant in Bray on Thames, einem herausgeputzten kleinen Dorf eine Autostunde von London entfernt vorauseilt, ist gehaltvoll. So ist das kleine, von außen unscheinbare Restaurant in dem reichen Vorort ausgebucht, zwei Monate im Voraus, täglich, mittags und abends. Die Reservierung, die nur am Telefon an bestimmten Tagen zu bestimmten Zeiten möglich ist, ist nichts für schwache Nerven.

Wo bleibt der Stickstoff?
Das Essen in der fetten Ente ist witzig und perfekt gemacht. Aber es ist nicht der innovative Knall auf der grünen Wiese, den sich manche Weitgeflogene vielleicht erwartet haben, die vom Festland nach Heathrow geflogen sind, von dort mit dem Taxi nach Bray, also sicher mal mindestens einen halben Tag Anreise auf sich genommen haben, um bei Heston Blumenthal zu essen, der sein Lokal übrigens höchst selten persönlich beehrt. Und der Stickstoff? Den servieren sie vor dem Essen, worin Grüntee-Pulver mit Lime Mousse zu einem essbaren Erfrischungstuch für den Gaumen schockgekocht werden. Sonst ist in der fetten Ente alles merkwürdig vertraut. Das Landbrot einfach göttlich knusprig, die Butter aus der Normandie karamellgelb und suchtgefährdend. Aber es sind immer noch Brot und Butter. Um zu demonstrieren, dass man sich nicht im Lokal geirrt hat, gibt es jetzt aber Orangengelee, das aussieht wie Rote-Rüben-Gelee, und Rote-Rüben-Gelee mit der Farbe von Orangen. Das Essen bei Blumenthal hat immer etwas Pädagogik: Entdeckt und staunt darüber, wie leicht sich eure Sinne täuschen lassen, ihr unaufmerksamen Deppen. Schaut und schmeckt aufmerksamer.
Das Sulmtaler Hendl in der Sonntagspanier
Alexander Mayer brachte mich auf das Sulmtaler Huhn, als ich eines Abends am Naschmarkt einer Hendl-brust von sagenhaftem Durchmesser begegnete und wissen wollte, wo man solche Vögel antreffen könne. Die Hendlbrust schwieg, dafür schmeckte sie unvergleichlich gut. Mit den Hendln aus dem Sulmtal ist es wie mit den fetten Enten in Bray. Viele haben schon davon gehört. Aber nur wenige schaffen es, solche Raritäten ihrer Sammlung einzuverleiben. Sulmtaler Hendln gibt es nicht genug, um außerhalb des Sulmtales alle satt zu machen. "Steirereck"-Chef Heinz Reitbauer kauft sie auch alle weg, sobald sie flügge geworden sind. Das Backhendl am Pogusch ist legendär. Die wenigen, die den Hunger der Poguschgäste überleben, wandern über geheime Kanäle, gegen die sogar die gemeinsten KGB-Verbindungen ausschauen wie eine sechsspurige Autobahn in LA, in die Töpfe und Pfannen des Herrn Mayer. Hat er das Hendl aus dem Sulmtal in seinen Händen, so zum Beispiel löst er es aus, enthäutet es je nach Lust und Laune oder eben nicht, mariniert es mit Zitronensaft, Pfeffer und Sauerrahm. Gut möglich, dass er am Tag darauf oder ein paar Stunden später die Hühnerteile in frischer, gehackter Petersilie wälzt, bevor er sie am besten in Mie de pain paniert. Die Temperatur des Butterschmalzes sollte nicht zu hoch sein. Sonst droht Gefahr, dass die Teile schneller braun werden, als sie am Knochen garen können. Etwas Nussöl am Ende des Backens verleiht dem Ganzen einen ungewöhnlichen Flavour. Auch außerhalb der Steiermark schmeckt zu einem Backhuhn wie diesem, das fast blütenweiß und saftig in seiner Panier steckt, ein Salat mit den besten Kipflern aller Kipfler, die nach dem Kochen und Schälen mit roten Zwiebeln, Dijonsenf, Salz, Pfeffer aus der Mühle, wenig Zucker, Sonnenblumen- oder Rapsöl, spritzigem Weißweinessig oder Bieressig, die nicht so ordinär und sauer schmecken wie der Hesperidenessig, sowie einer lauwarmen Rindsuppe mariniert werden. Wenn es sich die Erdäpfel in der Emulsion aus Suppe und den anderen Zutaten und Gewürzen schön gemütlich gemacht haben, bereichert man sie noch um die Gesellschaft fein geschnittener Feldgurken.
Degustatorischer Tinnitus
Da ist zum Beispiel die Auster, die in ihrer Schale serviert wird. Sie lebt nicht mehr, kann das Ereignis, gemeinsam mit Passionsfrucht geliert zu werden, also nicht mehr würdigen. Austern sind Passionsfrüchte ja nicht gewohnt, wie sie überhaupt mit der Welt da draußen außerhalb ihrer Schale sich nicht leichttun, schon bei der leisesten Berührung mit Zitronensaft zusammenzucken. Diese Auster hat die aromatische Wucht eines atlantischen Tsunamis. Das Ding explodiert am Gaumen, bevor sich der wegen der Säure der Mango zusammenziehen kann. Der Hauch Lavendel, den das Ganze verströmt – eine Referenz an die Provence, wo Blumenthal als Junge in der Oustau de Baumanière zum ersten Mal große Küche probierte? Der Geschmackseindruck ist nachhaltiger als so manches Tischgespräch. Die Medizin würde hier von einem akuten Fall von Geschmackstinnitus sprechen. Schwer zu therapieren. Versuchen wir es mit hauchdünnen, getoasteten Brotscheiben mit schwarzer Trüffel. Dazu der Geschmack der Eiche, unter der schwarze Trüffeln gerne ausgegraben werden. Wie bringt man den Geschmack von Eiche zu Tisch? Blumenthals Küchenmannschaft probiert es mit einem dünnen Blättchen, das in einem Plastikgefäß steckt. Es muss irgendwas mit karamellisiertem Eiweiß zu tun haben, aber man ist ja kein Chemiker. Der berühmte Snail Porridge kommt so gut, wie man sich das vorgestellt hat. Die Foie gras ist von wunderbarer Stofflichkeit, von erlesenem Geschmack und die Kombination mit Mandeln (fein geraspelt und als Sabayon), Cherry und Kamille ebenso ungewöhnlich wie überzeugend. Man hat den Eindruck, dass dieser Blumenthal alles andere als ein Verrückter ist, sondern ein bestens gebildeter Koch, der mit neuen Methoden Geschmacksalchemie betreibt. Lakritze, Süße, Säure sind immer wieder ein Thema. Was man als Kind wahrnehmen konnte, erfreut, hat es auch den ungewöhnlichsten Auftritt auf der ganzen Welt, auch viel, viel später.
Im Großen und Ganzen
Um die Hühnerzubereitung wird in Österreich nicht viel Wissenschaft getrieben. Das ist schade, aber irgendwie verständlich, angesichts der Armut des Angebots auf den Märkten und in den Supermärkten. Sonst würde ja schon jemand den Österreichern erzählt haben, dass nicht viel gescheiter als ein Huhn sein kann, wer ein Brathendl im eigenen Saft so brät, dass ein Teil der Haut lasch und blässlich bleibt, dass wir beim Essen Mitleid bekommen. Alexander Mayer brät das Huhn auf dem Rost, unter dem eine große Pfanne steht, in der Fett und Saft aufgefangen werden, um gemeinsam mit Wasser, Schalotten, etwas Weißweinessig und Hühnerfond für einen ordentlichen Jus zu sorgen. Das Hendl wurde vor dem Braten mit Tomatensalz (gibt es in asiatischen Läden), getrockneter Zitronenschale, Fleur de Sel (sparsam) und Rosmarin behandelt. Eine halbe Stunde, bevor das Brathendl fertig ist, gibt man Artischocken und Erdäpfel in den Saft und schmort das Ganze weiter. Auch ein Zweig Rosmarin und Rispentomaten wurden schon
in diesem köstlichen Jus gesichtet und auch herausgeschmeckt. Je naturbelassener dieser den Auftritt des Brathendls bei Tisch begleiten kann, desto größer ist sein Eindruck bei den Gästen.
Die Multimedia-Taste-Show
Man kann die Geschmacksnerven überraschen, täuschen und belehren. Man kann zu ihrem Amusement aber auch den sinnlichen Eindruck eines Gerichts durch akustische Begleitung steigern. Dieser Gang führt uns nun also an den Strand. Wir stecken uns Kopfhörer ins Ohr, schalten den Mini-iPod ein, der uns gerade serviert wurde und hören beschwingtes Meeresrauschen, begleitet vom Ruf der Möwen. So flanieren wir über einen Teller mit Muscheln, Fisch, Meeresalgen und einer Brandung aus Meereswasser, die zu einem luftigen Schaum, einer Air, geschlagen wurde. Blumenthal hat in Experimenten herausgefunden, dass man den Geschmack von Speck stärker empfindet, wenn man dazu den Sound von in der Pfanne bratendem Speck hören kann. Und ja, die Kindheitserinnerungen, davon hört und schmeckt man auch immer viel. Lakritze gehört dazu. Sie umhüllt ein perfekt gegartes Stück vom Lachs, mit einer Mayonnaise aus Mani-Olivenöl und grünem Spargel, der fast irgendwie gewöhnlich schmeckt. Man würde sich ja hier nicht erwarten, zum Hauptgang einfach rosarotes Lamm serviert zu kriegen. Doch dieses Lamm erfuhr eine höchst ungewöhnliche Behandlung, bevor es serviert wurde. Blumenthal, der sich mit der Physik des Bratens und wie es sich auf die Säfte im Fleisch auswirkt, intensiver als viele Köche vor ihm befasst hat, hat das Fleisch entweder im Vakuum oder auf Niedrigsttemperatur gegart. Das Ergebnis in Kombination mit dem süßen Knoblauch ist überzeugend. Wir laufen vor Freude einmal rund ums Dorf.
Was in so eine Ente alles hineingeht
Zur Erfrischung gibt es Hot and Iced Tea, danach eine lockere Folge witziger Desserts, darunter eine aromenkräftige Bavaroise von Litschis und Mango, begleitet von einem Sorbet aus Johannisbeeren. Man isst und trinkt vor sich hin, bis der Bauch fast so gefüllt ist mit gutem Essen wie die fette Ente mit Gästen, manche gut, manche vielleicht auch weniger. Man nuckelt an verschiedenen Jellys von Maltwhiskeys, bis der Abend sich dem Morgen zuneigt und es Zeit wird für ein kräftigendes Bacon and Egg. Das gibt es aber nur als Ice Cream, welche im flüssigen Stickstoff neben dem Gast zubereitet wird und zusammen mit Tea Jelly und Pain perdu so schmeckt, dass wir einige Tage der festen Überzeugung sind, nie mehr anders frühstücken zu wollen.
Die Geschichte hat kein Happy End.
Das Huhn ist verdaut. Der degustatorische Tinnitus lässt langsam nach. Auf einen Besuch von Heston Blumenthal samt BBC-Fernsehteam wartet man im Sulmtal immer noch. Heston würde das Superchicken aus der Steiermark mit einem Schlag europaberühmt machen. Doch der Besuch möge niemals stattfinden. Es gibt wenige Sulmtaler Hendln genug, so wie es viel zu wenige Plätze im "Fat Duck" gibt, weil es das Gute an sich hat, dass es vom Guten immer und überall zu wenig gibt.