Gärten unter Wasser

Doris sitzt fest. Im Schlick des Ärmelkanals. Und das für lange Stunden. Doris ist zierlich, ohne jeden Tiefgang. Ein Beiboot, wie bretonische Neufundlandfischer es einst auf ihre Dreimaster luden. In den seichten Kabeljaugründen vor Kanadas Südostküste leistete es gute Dienste.

Gärten unter Wasser

Text: Ingeborg Waldinger
Hier, im 5000 Einwohner zählenden Hafen von Cancale, ist das Kapitel Hochseefischerei heute Geschichte. Le doris aber erweist sich weiterhin als nützlich – für die letzten Küstenfischer und für eine besondere Gruppe von Meeresarbeitern: die Austernzüchter. Ihr Metier ist hart, den steten Unbilden von Natur und Konjunktur ausgesetzt. Ihre Meisterschaft ist groß, den Kennern und Genießern international ein Begriff. Seit 1994 trägt die Austernstadt Cancale das staatliche Gütesiegel "Site remarquable du goût".
Zu dieser Stunde herrscht marée basse, der Atlantik hat den tiefsten Gezeitenstand erreicht. Knapp drei Fünftel der Baie du Mont-Saint-Michel liegen frei, somit auch das Gros der sich am westlichen Buchtrand erstreckenden Austernparks von Cancale. Innerhalb der nächsten sechs Stunden wird das Meer um beachtliche dreizehn Meter ansteigen. Es wird die Parks wieder zur Gänze überfluten und die vielen doris aus dem Schlick befreien. Die wendigen Kleinboote ermöglichen dem ostréiculteur, dem Austernzüchter, seine Arbeit in den Parks bis zum nächsten Niedrigwasser auszuführen.
Cancale liegt an der Grenze zwischen der Bretagne und der Normandie. Westlich des Austernhafens endet die malerische Smaragdküste, welche sich vom Cap Fréhel bis zur alten Korsarenstadt Saint-Malo erstreckt. Cancale aber wendet sich dem Osten zu, der Bucht des Mont-Saint-Michel. In diesem Abschnitt des Ärmelkanals fällt der Tidenhub doppelt so hoch aus wie an Frankreichs Westküste. Zu den Springtiden der Tagundnachtgleiche, also zu Frühlings- und Herbstbeginn, differiert der Wasserstand zwischen Ebbe und Flut gar um fünfzehn Meter. Der berühmte Vergleich, die Flut erobere sich die weite, extrem flache Sandbucht des Mont-Saint-Michel mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes, ist in der Tat nicht übertrieben. Das einzigartige Gezeitenphänomen und die hier herrschenden starken Meersströmungen dämpfen sowohl den Salzgehalt wie auch die Temperatur des Wassers. Zugleich erhöhen sie dessen Sauerstoffkonzentration. Eine ideale, planktonreiche Nährsuppe für die Auster. Diese fühlte sich hier schon in vorgeschichtlicher Zeit heimisch. Präzise gesagt, die Gattung "Ostrea Edulis", wie die plate, die rundlich-flache Auster, im Jargon der Wissenschaft heißt. In Cancale macht sie heute nur noch einen kleinen Teil der Produktion aus. Zwei Epidemien rafften ihre Bestände dahin. Seit den 1980er Jahren dominiert in den Parks die creuse, die länglich-tiefe Auster. Diese Gattung ist in Frankreich seit 1868 bekannt: Damals hatte ein in Seenot geratenes Handelsschiff eine Ladung portugiesischer Austern an der Girondemündung notgedrungen ins Meer gekippt. Die Tierchen fühlten sich wohl in der fremden Umgebung und bildeten neue Bänke .
In Cancale währte das Intermezzo der portugaises nur zehn Jahre. 1970 wurden sie durch die recht ähnliche, aber robustere "Crassostrea Gigas" ersetzt. Diese tiefe Auster ist japanischen Ursprungs und wird heute vielerorts gezüchtet. Welche Geschmacksnuance sie im Laufe des Reifungsprozesses annimmt, hängt vom jeweiligen Küstengewässer ab (wie der Rebencharakter vom Terroir). Cancales Austern bestechen durch eine zart-nussige Note.
Jahrhunderte lang aber war die plate Königin von Cancale. Weder die römischen Kolonisatoren, noch die Wikinger konnten Galliens kostbarer Meeresfrucht widerstehen. Auch der französische Hof war von der "qualité gustative" der Cancale-Austern höchst angetan und wurde bald zum Stammkunden. Vatel, der berühmte Küchenchef von Sonnenkönig Louis XIV, nahm sich wegen einer verspätet eingelangten Austernladung gar das Leben … Allmählich eroberte die Auster auch die Tafeln bürgerlicher Feinschmecker.
Von Austernzucht im heutigen Sinne war damals keine Rede. Die natürlichen Bänke wurden mit Scharrnetzen "abgefischt" und in Parks affiniert. Der Markt florierte, die Ernte betrug 10.000 bis 20.000 Tonnen jährlich. Der Raubbau rief die zentrale Gewalt auf den Plan (Assoziationen zu heutigen Fischereipraktiken und Quotenregelungen drängen sich auf). Besorgt ritt Monsieur Lemasson du Parc, seines Zeichens oberster Fischereiinspektor, die Küsten des Hexagon ab. Sein ernüchternder Bericht veranlasste den König, das Fischen und den Verkauf von Austern in der Zeit vom 1. April bis zum 31. Oktober landesweit zu verbieten. Diese royale Quotenregelung dürfte auch der bekannten Regel zugrunde liegen, wonach man in den Monaten ohne "r" keine Austern essen sollte. In Zeiten archaischer Transportmethoden hatte diese Maxime durchaus ihre Berechtigung.
Legende hin, Transport- und Kühltechnik her: Die "huître" verändert in der wärmeren Jahreszeit ihren Geschmack. Der Grund: Sommers ist das luxuriöse Geschöpf in Milch. Oder "laiteuse", wie die Franzosen sagen. Die Auster legt nun Unmengen von Eiern ab. Diese treiben einige Wochen in der Strömung, ehe sie im Larvenstadium an felsigem Grund andocken. So weit der natürliche Prozess. Und hier, an diesem Punkt, beginnt die Kunst der Austernzucht. Zunächst gilt es, die kostbare Brut aufzufangen. Erste Versuche wurden in der Bretagne um 1850 unternommen, die moderne Austernzucht setzte jedoch erst im frühen 20. Jahrhundert ein. Pfähle mit aufgefädelten Tonscherben, Austernschalen oder Jakobsmuscheln dienten – und dienen bis heute – als Kollektoren. Die an den künstlichen Sammelvorrichtungen klebende Austernbrut wird nach Monaten abgeschabt und in die Parks transferiert.
Am Ärmelkanal allerdings wäre die Meerestemperatur für die zarten Larven zu tief – und die Strömung zu heftig. Nein, die Züchter von Cancale beziehen ihre Austern-Babies aus den wärmeren und ruhigeren Buchten der Südbretagne und aus der Lagune von Arcachon. Dann säen sie die kleinen plates in den Meeresboden vor Cancale, sammeln sie nach anderthalb Jahren ein – und streuen sie in größeren Abständen erneut aus. So wachsen die Weichtiere weitere zwei bis drei Jahre heran. Theoretisch. Denn wütende Winterstürme wühlen die Austern oftmals vom Grund hoch, starke Strömungen treiben sie zu Haufen zusammen. Wieder heißt es für den ostréiculteur, die Sensibelchen einzufangen – und ein weiteres Mal auszusäen.
Die kleinen creuses hingegen werden in Sacknetze gefüllt und in die Parks verbracht. Auf kniehohen Gestellen, welche bei Ebbe frei liegen, reifen sie etwa drei Jahre heran. Umspült sie die Flut, öffnen sie die Schalen und filtern große Mengen Plankton aus dem Wasser. Bei Ebbe bleiben sie – sprichwörtlich – verschlossen. Auch in diesem Falle richten stürmische Fluten enormen Schaden an, indem sie die Netze zerreißen und die jungen Muscheln einer höchst ungewissen Zukunft überlassen. Denn selbst Austern haben zahlreiche Feinde, wie schon Tolstoi bemerkte. Ihr Schließmuskel etwa ist den sägenden Attacken der Pfahlmuschel hilflos ausgesetzt. Auch gegen die perfiden Manöver des Seesterns vermag sie sich nicht zur Wehr zu setzen. Jener hockt sich wie eine Glucke auf die Auster, saugt sich mit seinen Näpfen fest, zieht den Deckel hoch, stülpt seinen Magen ins Innere der Muschel und schon ist es um das weiche Tier in der harten Schale geschehen.

Der jahrelange Reifeprozess der creuse verlangt den Meeresbauern intensive Betreuung der Parks ab. Mehrmals im Jahr wendet der ostréiculteur die Säcke, füllt die Austern nach Größe in weitmaschigere Behälter um, befreit gelegentlich einwachsende Schalen aus dem Maschenpanzer. Ist die Auster endlich geerntet, wechselt sie für ein paar Tage in ein Becken, um Schlamm und Sand abzusondern. Zuletzt treibt man ihr noch den gewohnten Auf-zu-Rhythmus aus.
"Trompage" heißt das Täuschungsmanöver. In unregelmäßig be- und entwässerten Becken lernt die Molluske, für längere Zeit geschlossen zu bleiben. So übersteht sie weite Transporte unbeschadet.
Die Auster ist übrigens ein Zwitter und wechselt regelmäßig das Geschlecht. Neuerdings experimentiert man mit der sterilen 4-Jahreszeiten-Auster, die keine Milch produziert und immer gleich schmeckt. Ein durchschlagender Erfolg war dieser Sorte bisher nicht beschieden. Vielleicht kam dem manipulierten Konstrukt mit der Milch ja auch die aphrodisische Wirkung abhanden! Casanova soll auf den belebenden Effekt geschworen und seine tägliche Austernration mit 50 Stück bemessen haben. Ein geradezu bescheidenes Maß. Denn nach Brillat-Savarin verdrückte manch Konvive bei den glanzvollen Festessen des Ancien Régime anstandslos "une grosse" – also zwölf Dutzend Austern. Wo immer die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit, zwischen Gaumenlust und Erotik verlaufen mag: Unbestritten ist der Nährwert der Auster. Ihrem hohen Mineralstoff-, Protein- und Vitamingehalt stehen niedrige Kalorien- und Fettwerte gegenüber. "Essen Sie drei Mal die Woche ein Dutzend, morgens, auf nüchternen Magen, dann ersparen Sie sich 23 Krankheiten!", gibt uns ein ostréiculteur ganz uneigennützig mit auf den Weg.
Aktuell werden in Cancale jährlich etwa 1000 Tonnen plates und 5000 Tonnen creuses geerntet. Ob runde oder flache Auster: Am besten munden sie natürlich vor Ort, frisch vom Erzeuger. Zur Verkostung laden zahlreiche Lokale entlang der Quais ein – und die Marktstände am Rande der Parks. Die Marktverkäufer öffnen die Austern vor dem Kunden, stellen Teller und Zitronen bereit. Sie knacken die schwierigen Tiere mit atemberaubender Geschwindigkeit und gäben wohl hervorragende "écaillers" ab. So nennt man jene höchst professionellen Austernöffner, deren rituelles "Amt" mancher Brasserie zum Ruhme gereicht. Die Besten von ihnen öffnen 100 Austern in nur fünf Minuten, so zumindest das Branchenlatein. (Messer für den blutigen – und hoffentlich nicht blutenden – Laien gibt es in jedem Supermarkt. Setzen Sie es bei der flachen Auster hinten, bei der tiefen Auster im vorderen Drittel der Längsseite an und durchtrennen Sie nun den Schließmuskel. Dann lässt sich der Deckel ganz leicht hochheben.)
Und der Juice? Wer diesen gerne schlürft, sollte dies besser direkt an der Austernquelle tun. Denn bis die Muschel in den Feinschmeckerlokalen des Kontinents einlangt, hat sie ein gutes Stück Weg zurückgelegt, sich ständig vom gleichen Wasser ernährt – und in diesem auch ihre Ausscheidungen deponiert. Im Restaurant empfiehlt es sich, die Auster erst mit Zitronensaft zu beträufeln. Als ein untrügliches Zeichen von Frische gilt, wenn sich die Ränder der Molluske hierauf etwas zusammenziehen. Lässt man die Auster nun einige Minuten stehen, kann sie sich reinigen und mundet hervorragend.
Die Cancalais pflegen ihren eigenen Umgang mit dem Austernsaft. Patricia Daniel, waschechte Bretonin und Gattin eines erfolgreichen ostréiculteur, verrät uns einen speziellen Trick. Um ihre Kinder schon früh auf das Produkt des Hauses zu konditionieren, tunke sie ein Stückchen Baguette in den Austernjuice und lasse die Kleinen daran saugen … Die Daniels machen dem Metier alle Ehre: Sie beliefern auch den berühmten Edelgastronomen der Stadt, Olivier Roellinger.