Ganslessen am Perlflussdelta

Spätestens seitdem China in Hongkong das Sagen hat, ist die Metropole Auffangbecken für Kochstile aus allen Teilen des Landes. Aber auch eine wachsende Zahl an Küchenchefs aus aller Welt hat sich hier ange- siedelt. Das Ergebnis ist eine Restaurantszene, die in Sachen Qualität und Vielfältigkeit ihresgleichen sucht. Und das nicht nur in Asien.

Foto von Georges Desrues
Text von Georges Desrues

Im Prinzip ist die Hongkonger Küche eine kantonesische – allerdings nur im Prinzip. Denn in ganz Asien gibt es wohl kaum eine Stadt, in der so viele Küchenstile zusammenkommen wie hier. Und das hat gleich mehrere Gründe. Zum einen die lange Geschichte als mächtiger Hafen und britische Kolonie, die Menschen mitsamt ihren Essgewohnheiten aus allen Ecken Chinas, des Kontinents und der Welt anzog. Zum anderen der Status als Sonderverwaltungszone, der die Stadt (zumindest ­bislang) einigermaßen unabhängig von der Volks­republik China macht und ihr einen eindrucks­vollen wirtschaftlichen Aufschwung verschaffte. Dieser wiederum überzeugte etliche Küchenchefs aus Asien, Europa und Amerika, mit ihren jewei­ligen Küchen die zahlreichen zahlungskräftigen Hongkonger und Expats zu verwöhnen. Und so spielt es auch kaum eine Rolle, ob man hier nun ein kantonesisches, laotisches oder venezolanisches Restaurant besucht – beeindruckend gut wird man in den allermeisten Fällen essen.

„Das stimmt zweifellos, und dennoch möchten viele Besucher aus dem Westen verständlicherweise in erster Linie die lokale oder zumindest chinesische Küche erleben“, sagt Vicky Cheng. Der Koch und Wirt ist zwar Hongkonger, hat seine gesamte Ausbildung aber im Westen absolviert, darunter mehrere Jahre beim Franzosen Daniel Boulud in New York. Als er danach in seine Heimatstadt zurückkehrte, kochte er zuerst in französisch geprägten Restaurants, bevor er im Jahr 2014 sein eigenes namens VEA eröffnete – auch das eher nach französischem Vorbild.

„Meine Küche definiert sich durch französische Techniken und edle chinesische Zutaten“, sagt Cheng, „man kann sie ruhig Fusion nennen, in Wahrheit ist es einfach jener Kochstil, der mir entspricht und meine Persönlichkeit und Einzigartigkeit ausmacht.“ Und so überzeugt seine auf den ersten Blick klassisch-französisch anmutende Pastete im Teigmantel mit rehydrierter getrockneter Abalone (Seeohr, eine Muschelart) in der Fülle genauso wie die knusprige Seegurke, die gleichfalls rehy­driert, dann gekocht und schließlich frittiert wird. Muschel wie Gurke zählen zu den sogenannten „vier Schätzen des Meeres“, die in der chinesischen Küche sowohl wegen ihres Geschmacks gepriesen werden als auch für die einzigartige Konsistenz, die sie den Speisen verleihen. Die beiden weiteren getrockneten „Schätze“ sind die Schwimmblase bestimmter Fischarten sowie die Haifischflosse. Wobei Letztgenannte heute kaum noch zum Einsatz komme, wie Cheng betont. Sie sei einfach viel zu kontroversiell, das tue sich niemand mehr an.

Vor drei Jahren wollte der Koch sich dann noch intensiver mit der Küche seiner Heimat beschäftigen und eröffnete das Restaurant Wing. Dieses liegt nur einen Stock tiefer als das VEA im selben Wolkenkratzer, was noch immer sehr, sehr hoch ist und einen schwindelerregenden Ausblick bietet. Die Einrichtung ist elegant und gänzlich frei von China-Dekors. Serviert wird, der lokalen Tradition des geteilten Mahls entsprechend, auf großen Platten anstatt auf einzelnen Tellern. Was optisch durchaus was hermacht, den Gästen Ahs und Ohs entlockt und sie augenblicklich zu ihren Handy-Kameras greifen lässt.

Gewaltige Königskrabben werden da aufgetragen, gefolgt von minutiös geschlichteten Täubchen, fächerförmig arrangierten Scheiben der mächtigen Elefantenrüsselmuschel, aber auch die winzigen, arbeitsintensiv drapierten Pak-Chois oder kunstvoll angerichtete geräucherte Melanzani. Ein für Augen und Gaumen exotisches Fest der seltenen Art, das den Besucher aus dem Westen in konstantes Staunen versetzt, dabei aber dem Instagram-Effekt fallweise vielleicht doch etwas allzu sehr den Vorrang gibt.

Weitaus sachlicher und dennoch spektakulär geht es im Restaurant The Chairman zu, das nur wenige Schritte und eine Aufzugfahrt weiter gleichfalls in einem Wolkenkratzer untergebracht ist. Die Atmosphäre ist nüchtern und erinnert ein wenig an eine französische Brasserie. Die Kellner, mehrheitlich gesetzteren Alters, in schwarzen Gilets und mit Krawatte, servieren kantonesische Klassiker auf höchstem Niveau. Da­runter etwa ein gleichermaßen schmuckloses wie geschmacklich überzeugendes Gericht aus saftigem, mit Honig gebeiztem Schweine-Char-Siu, garniert mit Lamm-Kutteln; oder knusprig gebratene Schweineschwänze mit Pflaumensauce; umwerfend auch die beiden Signature Dishes: die gedämpfte Schwimmkrabbe in gereiftem Shaoxing-Reiswein sowie die ­gebratene und zuvor in Kampferholz geräucherte Schwarzfußgans, die von den Kellnern fachgerecht im Speisesaal tranchiert wird.

Überhaupt kommt man an der Gans hier kaum vorbei. Denn: Was dem Pekinger seine Ente, ist dem Hongkonger (beziehungsweise Kantonesen) seine Gans. Traditionell wird sie einfach geröstet, auf Reis beziehungsweise Nudeln oder in der Suppe serviert. Öfters aber auch im Stile der Peking­ente lackiert und vor dem Gast zerlegt. Ein idealer Ort, um die traditionelle Variante zu probieren, ist das Restaurant Yat Lok Roast Goose. Dabei handelt es sich um eines dieser inzwischen zahlreichen asiatischen Imbiss-Lokale, das der Guide Michelin mit einem Stern bedachte und somit zur Touristenattraktion katapultierte. Weswegen man am besten möglichst früh beziehungsweise spät kommt, um im mit Michelin-Sternen geradezu austapezierten Lokal um wenige Dollar eine Schüssel Nudelsuppe mit glänzend-knuspriger Gänsekeule darauf zu ordern.

Um die Gans nach Pekingenten-Art zu essen, empfehlen gleich mehrere lokale Auskenner ein Restaurant namens Kamcentre Roast Goose, das bizarrerweise in einer Bowlinghalle untergebracht ist. Für ein Tête-à-Tête eignet sich der Rahmen folglich kaum, weswegen man besser in der Gruppe kommt. Was für so eine ganze Gans sowieso angemessener ist und es obendrein erlaubt, im chinesischen Stil an einem runden Tisch Platz zu nehmen, der mit einer Drehscheibe – der sogenannten „Lazy Susan“ – ausge­stattet ist. Darauf wird dann das in etliche Teile zerlegte Geflügel gemeinsam mit diversen Gemüsen und Saucen angerichtet. Woraufhin man sich davon bedient und alles in Reispapier zu mundgerechten Happen wickelt.

Um die Hongkonger Küchenszene in all ihrer Vielfalt zu erleben, empfiehlt sich freilich auch ein Besuch bei einem der zugewanderten Küchenchefs. Wie etwa bei Paulo Airaudo. Der gebürtige Argentinier mit italienischen Wurzeln betreibt außer seinem zweifach besternten Amelia im spanischen San Sebastian einige Lokale rund um den Erdball, darunter gleich mehrere in Hongkong. Flaggschiff ist das im Vorjahr eröffnete NOI im Luxushotel Four Seasons. Das Degustationsmenü wird als „italienisches Omakase“ angekündigt, was perfekt zur Persönlichkeit des Küchenchefs passt, der außer in Spanien, Italien und England bereits in verschiedenen Ländern Südamerikas kochte und sich selbst als Weltbürger sieht.

Und so kombiniert er wagemutig Zutaten aus aller Herren Länder und von exzellenter Provenienz. Wie etwa bretonischen Hummer in peruanischer Salsa Criolla oder Abalone mit apulischen Cime di rapa (Rübstiele) und Speck vom iberischen Schwein. Durchaus stimmig gerät die al dente gekochte Pasta mit rotem Uni, also Seeigelrogen aus Japan, sowie der weniger exotisch zusammengestellte Hauptgang in Form von Milchlamm mit frischen Morcheln und Foie gras. Kurz: eine spektakuläre, von Fusion geprägte Autorenküche, die man am besten am Tresen vor der Schauküche erlebt.

Ein weiterer Südamerikaner, der sein Glück in Hongkong fand, ist der gebürtige Venezolaner Ricardo Chaneton. Sieben Jahre, die letzten davon als Head-Chef, kochte der erst 35-Jährige im südfranzösischen Dreisterner Mirazur des Argentiniers Mauro Colagreco, bevor er hierherzog und sein ­Restaurant Mono eröffnete. Gespeist wird im eleganten Designstil der 1960er-Jahre und bei softem Vinyl-Platten-Jazz.

Das Menü ist stark lateinamerikanisch geprägt, mit etlichen Zutaten, die aus dem Subkontinent eingeflogen und mit Lokalem kombiniert werden. Wie etwa im Fall der Tortilla aus blauem mexikanischen Mais mit süßlichem Amaebi-Shrimp aus Hokkaido und Avocado. Oder Ceviche vom Medai (japanischer Butterfisch) mit Leche de tigre und Mashua (eine peruanische Knolle). Auch hier empfiehlt sich, am Tresen zu essen, wo einem der Küchenchef und sein Team die verwendeten Zutaten aus den Anden und dem Amazonasgebiet genauso näherbringen und erklären wie jene, die sie aus Asien sourcen. „Das Tolle und Einzigartige an Hongkong ist“, sagt Chaneton, während er eine in alle ihre essbaren Einzelteile zerlegte Kakao-Frucht als Dessert serviert, „dass man als Koch hier die Freiheit hat, etwas völlig Neues zu schaffen, das es bislang nirgendwo gab und das einem zugleich selbst entspricht.“

Alles völlig nachvollziehbar. Und dennoch will man, nach so viel kulinarischer Freiheit und globaler Küche, als abendländische Besucher doch wieder einen Hauch vom ursprünglichen Hongkong erleben. Also spaziert man durch das Viertel um die Wellington Street mit seinen schmalen Wolkenkratzern, vorbei an alteingesessenen Läden voller getrockneter Meeresfrüchte und duftender Tee- und Gewürzmischungen, bis zum ehrwürdigen Luk Yu Tea House. Das Lokal im Kolonialstil stammt aus dem Jahr 1933 und wirkt zumindest so, als hätte sich seitdem hier nichts verändert. Man sitzt an weiß gedeckten Tischen und lässt sich von Kellnern in weißen Tangzhuang-Hemden eine Auswahl an Bambus-Dämpfkörbchen servieren – um bei Jasmintee und urtypisch kantonesischen Dim Sum in Gedanken zu schwelgen an die exotische und mythenumwobene alte Hafenstadt am südchinesischen Meer. —

Adressen

The Chairman
Würde man während eines Hongkong-Aufenthalts nur ein einziges Restaurant besuchen, dann sollte es dieses sein. Gehobene kantone­sische Küche, gediegen und schnörkellos.
thechairmangroup.com

VEA
Überzeugend konzeptuell durchdachte, elegant-französische Haute Cuisine mit chinesischer Seele. Fusion, wie sie der Starkoch Vicky Cheng versteht.
vea.hk

WING
Vicky Chengs Interpretation von rein chinesischem Fine Dining. Extrem arbeitsintensiv und spektakulär angerichtete Speisen, wie man sie in vielen Fällen zuvor noch nie gesehen hat.
wingrestaurant.hk

NOI
Michelin-besterntes Restaurant des umtriebigen Argentiniers Paulo Airaudo, untergebracht im exklusiven Rahmen des Four Seasons Hotel. Präzise gefertigte Gerichte aus bisweilen seltenen, nahezu ausschließlich noblen Zutaten aus aller Welt zu dementsprechenden Preisen.
restaurantnoi.hk

Mono
Trendiges Lokal mit gleichermaßen gediegenem wie stimmigem 60s-Flair, Jazzmusik und stark lateinamerikanisch geprägter Küche des ehemaligen Head-Chefs des Dreisternerestaurants Mirazur, Ricardo Chaneton. mono.hk

Kamcentre Roast Goose
Stadtbekannter und von vielen Einheimischen hochgepriesener Anlaufpunkt fürs Gansl-essen. Überraschenderweise in einem Bowlingcenter untergebracht.
scaa.org.hk/index.php/Facilities/detail/nID/30/l/english.html

Yat Lok Roast Goose Restaurant
Von Michelin empfohlene Imbissstube mit traditionellen Gänse- und sonstigen BBQ-Gerichten sowie niedrigen Preisen und entsprechendem Andrang.
34–38 Stanley Street, Hongkong, T +852/2524/38 82

Luk Yu Tea House
Mehr als sehenswertes Traditionslokal im Kolonialstil, wie man es aus Hollywoodfilmen der 1930er-Jahre kennt, mit verzauberndem Ambiente und nach allen Regeln der Kunst gedämpften Dim Sum.
24–26 Stanley Street, Central, Hongkong, T +852/2523/54 64

She Wong Lam Snake Restaurant
Eines der wenigen verbliebenen Traditionslokale, in denen Schlangensuppe serviert wird. Ist freilich nicht jedermanns Sache und die Suppe auch nicht unbedingt ein Brüller, für Aufruhr auf Instagram aber immer noch gut genug. 13 Hillier St, Sheung Wan, Hongkong, T +852/2543/80 32

Testina
Ableger des zurzeit wohl angesagtesten Restaurants von Mailand: der Trattoria Trippa von Diego Rossi. Sehr ähnliches Angebot (Innereien) wie das Original, ähnliche Dekors („fake vintage“) und eine ähnliche Buchungslage, die Tischreservierungen schwer macht.
testina.hk

Chefkoch Vicky Cheng beim Einkaufen von getrocknetem Meerestier in ­einem der zahlreichen auf solches spezialisierten Läden.
In der kantonesischen Küche zählt die getrocknete Seegurke (im Bild rechts in ihrer rehydrierten Form) zu den „vier Schätzen des Meeres“.
Gekonntes Tranchieren des Vogels im Restaurant The Chairman.
Nudelsuppe mit Gänsekeule im Michelin-besternten Imbiss Yat Lok Roast Goose.
Yum cha nennt sich die kantonesische Tradition des vormittäglichen Dim-Sum-Brunchs im Teehaus. Hier das prachtvolle
Luk Yu Tea House mit seiner Original-­Einrichtung aus den 1930er-Jahren.
Pasta mit Seeigelrogen aus Japan – „italienisches Omakase“ in Paulo A­iraudo Sternerestaurant NOI