Großzügig sein, wie mit dem Käse

Ein Ausflug in die Marken zur Selbstverständlichkeit italienischer Lebenskunst, einem umwerfenden Sepiasalat und einem moralischen Imperativ.

Text von Christian Seiler · Illustration von Markus Roost

Als ich in Apiro angekommen war und am falschen Platz auf die Agentin wartete, die mir den Schlüssel für mein Haus übergeben sollte, schaute ich mich aufmerksam um, kniff die Lippen zusammen und begann zu schimpfen.

„Was hast du dir eigentlich dabei gedacht …“, sagte ich angefressen, „… dass wir seit acht Jahren nicht in Italien waren?“

Der Typ mit den Adidas-Trainingshosen, der gerade aus seinem Piaggio Ape stieg, schaute mich kurz und prüfend an, bevor er befand, dass ich wahrscheinlich ein ganz normaler Irrer sei, über den man sich nicht weiter aufregen muss. Die beiden Frauen, die auf viel zu hohen Hacken in den Supermarkt stöckelten, bemerkten mich auffällig nicht. Das Geschwader von alten Säcken, das gegenüber vor der Bar hockte, Zucker in leere Kaffeetassen rührte oder das dritte erste Glas Weißwein kostete, lachte auf diese spezielle Weise, dass du nicht genau weißt, ob sie nicht gerade über dich lachen.

Meine Laune stieg.

„Du bist wirklich ein Depp“, sagte ich.

Keine Antwort.

„Verantwortungslos.“

Schweigen.

„Wie konntest du mir das nur antun? Acht Jahre kein Italien? Keine Piazza? Kein anständiger Kaffee? Keine beschwipsten Italiener?“

Darauf fiel mir – weil ich ein Selbstgespräch führte, war ich ja für Fragen und Antworten zuständig – zu meiner Verteidigung nur ein passendes Zitat von Eric Burdon ein: „When I think of all the good times that I’ve wasted – having good times.“

Das saß. Ich beruhigte mich. Irgendwann klärte sich auch der Irrtum mit dem Treffpunkt auf, so dass ich mir den Schlüssel zu meinem Haus im nächsten Ort holen konnte und über einen gefährlichen Feldweg zu einem umgebauten Bauernhaus gelotst wurde, das eine eigene Kapelle besaß, in der ich ein Stoßgebet an Abundantia, die Göttin des Überflusses, absetzen konnte und danke sagen, dass ich endlich wieder im Herzen des schönsten Landes der Welt angekommen war.

Apiro liegt mitten in den Marken. Das ist die Provinz zwischen der Emilia-Romagna im Norden, Umbrien im Westen und den Abruzzen im Süden. Ihr müsst euch nicht gleich auf einen Reiseführer stürzen, dort steht über Apiro nichts Spezielles vermerkt, eigentlich gar nichts. Dabei ist der Ort bemerkenswert, wie die meisten namenlosen Orte Italiens bemerkenswert sind: 2.000 Einwohner, historisches Zentrum, hohe Stadtmauern, zwei Kirchen und eine Piazza im Zentrum, eine zweite an seiner Tangente (dort, wo ich mich gerade keppelnd zum Gespött meiner Selbst gemacht habe).

Und jetzt kommt’s: Auch wenn die Bilder in der Kirche und die Qualität ihres Grundrisses vielleicht nicht den hohen Anforderungen der Kunsthistoriker entsprechen und die Trüffelschweine vom Condé Nast Traveller wahrscheinlich keine Luxus-Boutique-Hotels hinter dem tausend Jahre alten Mauerwerk entdecken werden, ist der Ort nichts weniger als: großartig.

Denn er entspricht eins zu eins der italienischen Realität, die auch in den scheinbar modernen Zeiten so viel Schönheit und Qualität inhaliert hat, dass mir, wenn ich wieder daheim im Supermarkt vor der Gemüseauswahl oder der Fleischtheke stehe, die Tränen über die Wangen laufen.

In Apiro sehe ich zuerst den Supermarkt namens Vital, der von außen aussieht wie ein A&O im, sagen wir, hintersten Weinviertel. Aber dieser hier hat eine Gemüseabteilung, in der mir sofort eine Fachkraft zur Seite springt, als ich die Pfirsiche begrapschen will, und das emphatisch für mich erledigt; die mir eine überdimensionale Wassermelone filetiert wie einen Fisch; die mir sagt, dass ich keinesfalls vergessen soll, ein paar von den gewaltigen Fleischtomaten mitzunehmen, weil die nämlich gerade auf dem Höhepunkt ihres Geschmacks seien; und danke, bitte, gern geschehen.

Die Verkäuferin hinter der Käsetheke lächelt schon. Sie erkennt Typen wie mich mit geschlossenen Augen. Zeigt auf den einen und den anderen Käse, schneidet frische Ricotta mit schmatzendem Messer in Tortenstücke und packt angesichts der Tomaten in meinem Wagen gleich eine Burrata dazu, weil was soll ich denn mit all den Tomaten, wenn ich keine Burrata habe?

Und als ich sie nach den Salsicce frage, die fett und prall und hellhäutig neben dem Käse liegen, beugt sie sich ein bisschen vor und sagt: „Die sind gut, unsere Salsicce, ja. Aber geh hinüber zu Paccusse, da haben sie bessere.“

Als ich nach meinem Einkauf ordnungsgemäß hinüber zu Paccusse gehe, die Metzgerei gleich neben dem Supermarkt, liegen dort tatsächlich unglaublich schöne – eben noch ein bisschen schönere – Salsicce in der Vitrine, wo im übrigen nicht das Überangebot herrscht, wie wir es von den heimischen Fleisch- und Wursttheken kennen. Es gibt Salsicce, es gibt eine fabelhaft aussehende Bistecca am Stück, es gibt eine Rindsleber und ein großes Stück von der Schulter. Mehr hat Paccusse heute nicht, also kaufe ich zur Sicherheit sämtliche Salsicce, weil ich vorhabe, mich mit einem großen Topf Bolognese gegen alle Eventualitäten zu wappnen – dass Bolognese mit dem Brät von Salsicce deutlich interessanter schmeckt als mit Faschiertem, setze ich als bekannt voraus.

Hier das Rezept von meiner Säulenheiligen Marcella Hazan (Die klassische italienische Küche, Verlag Echtzeit):

Soll nicht heißen, dass ich nicht essen gehe. Okay, da ich ein paar mehr Salsicce eingekauft habe, koche ich erst einmal die doppelte Menge Bolognese, wie oben im Rezept angegeben, so dass immer ein Happen Sauce da ist, wenn ein kleiner Hunger sich ankündigt. Dass Bolognese am besten schmeckt, wenn man sie lauwarm mit dem Löffel isst, ohne den Umweg über die Pasta, dürfte ja auch bekannt sein.
Aber weil Apiro zwar eine großartige Bar hat – schräg gegenüber der Kirche, wo sonst –, wo der Kaffee großartig und die Dolce süß sind, aber daneben nichts, was in meinem Lieblingsführer Osterie d’Italia lobend erwähnt wird, schaue ich mir doch die Gegend ein bisschen genauer an.

Wenn ihr inzwischen bemerkt habt, dass ich offenbar nicht die geringste Lust habe, das High-End-Koordinatensystem des Michelin zu durchforsten – ihr habt recht. Weil ich es als die größte Zumutung empfinde, in Italien ein sogenanntes Fine Dining Restaurant aufzusuchen, nachdem ich einschlägige Erfahrungen bei Massimo Bottura in Modena und Enrico Crippa in Alba gemacht habe, zwei Dreisternehütten, die auf der Glatze Locken drehen, um irgendwas Besonderes hinzukriegen, was am Ende ja doch nur in der Theorie gelingt, weil die simple, normale Trattorienküche, wie sie in ganz Italien vom Aostatal bis Sizilien gepflegt wird, das Herz mehr wärmt als alle küchenartistischen Einfälle.

Deshalb sehe ich auch davon ab, bei meinem Ausflug ans Meer nach Senigallia zum Beispiel den einen Zweisterner Uliassi oder den anderen Zweisterner Madonnina del Pescatore aufzusuchen. Stattdessen folge ich dem Ratschlag des Slow-Food-Führers und checke mich bei der Trattoria Vino e cibo ein, gleich hinter dem Rathaus an der Piazza Roma – und bin so verzückt wie auf der Piazza von Apiro, als mich die alten Säcke, meine Freunde, so freundlich auslachten.

Das hier ist ein Lokal, wie man es sich schöner nicht ausdenken könnte. Schmucklose Möbel, die einfach auf die Straße gestellt sind. Statt einer Speisekarte eine große Tafel, auf der mit Kreide die Tagesgerichte aufgeschrieben sind: Thunfischtatar mit weißem Sesam und grünen Tomaten. Tomatenbrot (eigentlich: dickes, getoastetes Weißbrot mit Tomaten). Ein Salat vom Sepia mit Karotten, Zucchini und Datteltomaten (von dem gleich noch zu reden sein wird). Kabeljau aus dem Ofen mit Auberginen. Maltagliati (hinreißende, fast romantisch zarte Pasta) mit Baccalà. Guter Wein zu Preisen, für die du dir in Wien gerade einmal ein Glas von außen anschauen darfst. Ein Patron mit Bart und kurzen Hosen, der dir das Gefühl gibt, er hat auf dich gewartet, auf dich und nicht auf irgendwen sonst (ein Gefühl, das jeder andere im vollen Lokal übrigens auch hat).

Befremdlich nur, dass in ganz Senigallia Hundertschaften von Menschen in Fifties-Gewand herumlaufen, an denen man sich vorbeischieben muss, und an jeder Ecke ein DJ Little Richard spielt oder Elvis. Das ist einem Festival namens Jamboree geschuldet, das mehr Fans hat, als die Gastronomie des für jeden Ansturm gerüsteten Küstenorts verträgt. Wenn du zum Beispiel von deinem Tisch aufstehst, um dir die Hände zu waschen, sitzen sicher zwei Hillbillies da, wenn du zurückkommst, dann heißt es Ellenbogen ausfahren.

Das Vino e cibo ist für mich das prototypische italienische Lokal, wie ich es liebe. Jeder Handgriff sitzt, jeder Scherz kommt an, und die scheinbar einfachen Speisen sind von einer Präzision, wie sie nur durch die berühmten 10.000 Stunden Übung erreicht werden kann, die der Schriftsteller Malcolm Gladwell als Grundlage für jede außerordentliche Leistung voraussetzt.

Natürlich esse ich alles.

Aber wegen des Sepiasalats storniere ich den Tisch, den ich irgendwie aus Pflichtgefühl doch noch in der Madonnina del Pescatore bestellt habe, und kehre tags darauf ins Vino e Cibo (schmucklos: „Wein und Essen“) zurück, wo ich selbstverständlich empfangen werde, als nähme ich seit zwölf Jahren an jedem Samstag das Mittagessen hier ein.

Und weil ich in meinem Leben nur zweimal einen so zarten, feinen und eleganten Sepiasalat gegessen habe, natürlich lauwarm und schmeichelweich und ideal abgeschmeckt, habe ich mir vom Küchenchef Riccardo Rocatori, einem tätowierten Knecht mit dem stiernackigen Aussehen eines Türstehers und dem feinen Händchen eines Uhrmachers, zur Sicherheit das Rezept geben lassen.

Ich fahre kreuz und quer durch die Gegend. Sitze auf Piazzen, esse Gebäck aus dem Papier und trinke mehr Kaffee als George Clooney auf allen Fernsehschirmen. Lasse mir in der Osteria Della Rocca in Mondavio sogar eine Pizza servieren, während ich ins Land hineinschaue. Trinke guten, kühlen Verdicchio. Kehre wieder einmal nach Urbino zurück, die kurzfristige Hauptstadt Italiens, die von so atemberaubender Schönheit ist, dass ich ganz aufs Essen vergesse und meine Reservierung in der Trattoria del Leone verpasse, weil ich mich von den Fresken im Oratorio di San Giovanni nicht losreißen kann, die sämtliche Wände der Kapelle bedecken und in denen ich nicht nur versteckte Pointen der Brüder Lorenzo und Jacobe Salimbeni aus Sansevero entdecke, die das Werk im 15. Jahrhundert ausgeführt haben, sondern auch eindrucksvoll gegenwärtige Muster, wie sie auch von Josef Frank stammen könnten (vielleicht war er ja einmal hier, kann ja sein). Bei del Leone sagen sie mir zwar, dass sie schon zu haben, aber einen Teller Tagliatelle mit Salbeibutter bekomme ich trotzdem noch.

Ich fahre von Ort zu Ort, einer ist schöner als der andere, Mauerwerk, Türme, Balkone, centro storico, Alimentari, Macelleria. An vielen Orten stehen die metergroßen Ankündigungen zu großen Fressfestivals, wo ganze Orte in Wirtshäuser verwandelt werden mit fünfzig Meter langen Tafeln, an denen es nur Pasta mit Wildschweinsauce gibt oder irgendwas mit Auberginen, je nachdem, worauf sich die Dörfer spezialisiert haben. Das ist, was ich an Italien so liebe: Dass keiner ein Aufhebens davon macht, wie großartig das Land selbst in seinen Schattenbuchten ist, wie tief die Schönheit, die Harmonie, das Bekenntnis zur Qualität im Land und seiner Kultur verwurzelt sind.

Als ich unterwegs nach Jesi bin, um mir ein bisschen Wein zu besorgen, schalte ich das Autoradio ein. Zwischen den unvermeidlichen Werbeflächen ertönt plötzlich die Stimme meines alten Freundes Paolo Conte (dass ich sein Freund bin, weiß Conte nicht. Aber dass er meiner ist, steht seit zwanzig Jahren fest). Er singt das Lied, das für mich die heimliche Hymne Italiens ist. Es stammt aus dem Jahr 1979, aber für mich beschreibt es wie kein anderes den besonderen Schwebezustand, wenn der Sommer gerade noch da ist und in seinen hellsten Momenten so tut, als finge er noch einmal von vorne an, Schulschluss, Ferien, endlose Abende mit Wein und Musik, der achtlose Griff zum dünnen T-Shirt, weil es für alles andere zu heiß ist. Dabei ziehen schon die Wolken auf, die den September bringen.

Das Lied heißt Gelato al limon. Es beginnt so:
„Un gelato al limon, gelato al limon, gelato al limonSprofondati in fondo a una citta.
Un gelato al limon e vero limon- ti piace?
Mentre un’altra estate passera“
Schon diese erste Strophe packt alles in pure Poesie: das Dahinziehen eines weiteren Sommers, das heißgeleuchtete Labyrinth der Stadt – und natürlich den Geschmack, der das alles in sich trägt wie kein anderer Geschmack: der Geschmack der Zitrone, einer guten Zitrone, mit Obers und Zucker und der nötigen Kälte zusammengerührt zum Hochamt der vergehenden Jahreszeit.

Conte hatte seine größte Zeit in den achtziger Jahren. Sein Hit Azzurro ging in der Version von Adriano Celentano durch die Decke und wurde erst viel später auch von Conte selbst gespielt. Auch Gelato al limon wurde ursprünglich vom Cantautori-Duo Lucio Dalla und Francesco de Gregori ziemlich brachial in die Welt gestemmt, auf einer gemeinsamen Tour, die unter dem Titel Banana Republic auf Schallplatte veröffentlicht ist. Gelato al limon nimmt darauf die Gestalt eines ungezogenen Rocksongs an, und mich verwundert es nicht, dass sich Conte irgendwann kopfschüttelnd ans Klavier setzte und das Lied endlich so spielte, wie es gehört.

Diese Version hörte ich im Radio zwischen Ancona und Jesi, Contes Geschichten vom Anfangen und Aufhören, von verschwitzten Nächten in tristen Absteigen und Koffern voller Probleme; und wenn er in die Mollkaskade des Schlusses einbiegt, der weiß-ich-wie-vielten Wiederholung des Refrains gelato al limon/gelato al limon/gelato al limon, macht mich das melancholisch, weil ich weiß: Das Lied kann ich bald wieder hören. Aber auf den nächsten Sommer müssen wir noch lange warten.

Mich überkommt eine grenzenlose Sehnsucht nach Zitroneneis. Also besorge ich mir in Jesi nicht nur anständigen Weißwein bei den Produttori, sondern leiste mir auch ein Stück Hardware, das ich schon immer haben wollte: die Eismaschine von Donvier, dieses altmodische, sympathisch simple Artefakt, das es gestattet, mit ein bisschen Geduld und Handarbeit feines, frisches Eis zu machen, dessen Genuss genauso schnell und flüchtig ist wie jener der letzten Sommertage.

Die Donvier besitzt einen Kühlzylinder, der eine Nacht lang im Tiefkühler auf Betriebs­temperatur gebracht werden muss, und ein Rührwerk, mit dem angefrorene Speiseeismasse händisch zu Creme gerührt wird (und ja, ich weiß, dass die Elektrizität schon erfunden ist und dass gute Eismaschinen zu akzeptablen Preisen zu haben sind; aber: Ich will keine elektronische Version von Gelato al limon. Ich will die richtige).
Da ich kein Sorbetto möchte, das mit Wasser hergestellt wird, entscheide ich mich für das cremige, italomäßige Set-up, wie es in dem immer wieder wertvollen Kochbuch aus dem River Cafe notiert ist:
Zu Hause lade ich mir zuerst das Lied aufs Handy und lasse Paolo Conte über die mitgebrachte Jambox das Haus füllen. Dann wird die Maschine ausgepackt, und der Anlauf zum Hochamt dieses italienischen Sommers ist gemacht. Weil die Metalltrommel der Eismaschine aber erst richtig kalt werden muss, halte ich mich in der Zwischenzeit an den Resten meiner Bolognese schadlos, diesmal sogar mit Spaghetti.

Apiro liegt etwa 150 Kilometer von Amatrice entfernt. Als in der Nacht auf den 24. August 2016 – ich bin gerade wieder nach Hause gekommen – ein Erdbeben der Stärke 6,2 die zentralitalienische Stadt Amatrice zerstört und hunderte Menschen in den Tod schickt, sind die Vorbereitungen für die jährliche Sagra degli Spaghetti all’Amatriciana praktisch abgeschlossen. Seit 50 Jahren begehen die Einwohner von Amatrice hier, zwischen den historischen Gemäuern der Altstadt, am letzten Wochenende des August ein Dorffest, zu dem Touristen und Einheimische aus der ganzen Umgebung anreisen: Sie servieren traditionell die lokale Spezialität in unfassbaren Mengen.

Hier ist das die berühmte Pasta all’amatriciana. Die Sauce wird aus Zwiebeln, Guanciale (Wangenspeck) oder Pancetta (Bauchspeck) und Tomaten zubereitet, denen eine getrocknete Chilischote Feuer macht. Um die Kombination dieser Sauce mit den korrekten Teigwaren wogt ein unauflösbarer, zutiefst italienischer Richtungsstreit: Ist es okay, die Amatriciana mit Spaghetti zu essen oder kommen dafür, wie Dogmatiker behaupten, ausschließlich Bucatini in Frage, voluminöse, regenwurmdicke Röhrennudeln?

Marcella Hazan, bekanntlich die oberste Instanz in italienischen Geschmacksfragen, neigt selbstverständlich zur Dogmatik: „Wer all’amitriciana sagt, denkt sogleich an Bucatini. Die beiden gehören zusammen wie Romeo und Julia.“

Das ist also die Ansage, obwohl die Hazan auch „Penne, Rigatoni oder Conchiglie“ für „nicht schlecht“ befindet, wenn auch keinesfalls für Romeo und Julia, höchstens für eine tolerable, heimliche Liebschaft. Spaghetti sind indiskutabel.

Man kann sich diesen Streit lebhaft vorstellen. Einander gegenüber sitzen Italiener über vollen Tellern und reden mit vollen Backen übers Essen, laut, schnell und aufgeregt.

Spaghetti? Undenkbar!

Bucatini? Viel zu dick!

Noch ein Glas Wein? Selbstverständlich.

Für ein paar Euro kann man beim Dorffest die berühmte Amatriciana auf Vorrat essen, und wer am falschen Ort die Frage nach Spaghetti oder Bucatini stellte, kommt mit Sicherheit in den Genuss ernsthafter Missionsarbeit. In diesem Jahr, ausgerechnet zum 50. Jubiläum des Dorffestes, kann dieses große Fest nicht stattfinden.

Das Erdbeben hat den Stadtkern zerstört, seine unglaubliche, üppige Schönheit ausradiert, unendliches Leid über die Bewohner gebracht, Betretenheit bei den Verschonten erzeugt, die aus der Ferne fassungslos die Bilder des gerade noch pittoresken Ortes studieren. Der Schutt. Die klaffenden Löcher. Die Toten. Die Erschöpften. Die Verzweifelten. Alle, die versuchen, einen Sinn in dieser sinnlosen Prüfung zu erkennen.
Es ist die Zerstörung all dessen, was wir an Italien lieben: Wie die Menschen in der Schönheit ihrer historischen Umgebung das Jetzige feiern, ohne dafür den Rhythmus ihres gewohnten Lebens zu opfern, Kaffee in der Bar, Mittagessen zu Hause, Aperol auf der Piazza, Einkaufen in den Lebensmittelgeschäften, zwischen denen man auch im kleinsten Dorf die Wahl hat. Zwei Metzger, einer besser als der andere. Beim einen holt man die Salsicce, beim anderen die Porchetta, wenn sie am Donnerstagabend frisch aus dem Ofen kommt. Zwei Alimentari, der eine hat die bessere Ricotta, aber beim anderen ist sie noch immer weit besser als das homogenisierte Zeug, das Parmalat zu uns in den Norden schickt.

Und die Gespräche: Über nichts kann man in Ita­lien so gut sprechen wie übers Essen (außer vielleicht über Fußball); wie lange man die Tagliata brät – „sicher nicht länger als 30 Sekunden auf jeder Seite, versprich es mir!“ –; wie man aus Ricotta und Melanzane eine Pastasauce macht – „das Geheimnis ist das Öl, nur das Öl!“ –; welche Pasta man zur Amatriciana isst …

Wenn wir uns also an dieses Rezept halten, ist es eine Form von ökumenischer Andacht. Wir denken an Amatrice, indem wir uns sorgfältig eine Amatriciana zubereiten und uns für Spaghetti und Bucatini entscheiden, zuerst die einen, dann die anderen.

Dann auf die Bank gehen und die Spende für den Wiederaufbau von Armatrice abschicken. Großzügig sein, wie mit dem Käse.

1 EL Olivenöl
45 g Butter
85 g Zwiebeln, gehackt
3 Stangen Staudensellerie, gehackt
4 mittelgroße Karotten, gehackt
350 g (eigentlich gehacktes Rindfleisch; aber bei mir eben) Brät von der Salsicca
Salz, Pfeffer
0,25 l Vollmilch
0,25 l Weißwein
frisch geriebene Muskatnuss
500 g Pelati, klein geschnitten
550–675 g Pasta
1 EL Butter für die Pasta
frisch geriebener Parmesan
Öl, Butter und Zwiebeln in den Topf geben, anschwitzen. Gemüse dazugeben. Garen lassen, bis alles mit Fett überzogen ist, dann das Fleisch dazugeben, mit der Gabel ­zerkrümeln, salzen und pfeffern. Garen, bis es nicht mehr rosa aussieht, sondern Farbe angenommen hat.
Milch dazugeben und einkochen lassen, mit etwas Muskatnuss würzen.
Wein dazugeben und einkochen lassen. Dann die Tomaten in den Topf geben und die Hitze verringern. Die Sauce darf nicht mehr kochen, sondern nur simmern. Mindestens drei Stunden kochen. Mit Salz abschmecken. Dazu Spaghetti und Parmesan.

Insalata di seppie
Frische Seppie putzen. Man verwendet nur den Körper, nicht die Minitentakel. Körper in kochendes Wasser werfen, dann das Feuer runterdrehen und zehn Minuten köcheln lassen.
Karotten und Zucchini putzen und in möglichst schmale, 6 bis 8 cm lange Streifen schneiden. Dann 20 bis 30 Sekunden in kochendes Wasser werfen und blanchieren. Anschließend in Eiswasser abschrecken.
0,5 kg Datterini (Datteltomaten) werden im Ofen bei 190 °C mit Öl, Salz und Zucker 40 Minuten gebacken, bis sie karamellisiert sind. Dann ­werden sie gemixt und durch ein Sieb gestrichen. Die in sehr feine Streifen geschnittenen Seppie auf dem Teller anrichten. Das Gemüse dazulegen. Darüber rohes Olivenöl geben, fiocchi di sale und etwas geriebene ­Zitronenschale. Zwei Minuten stehen lassen. Dann die Salsa di datterini dazugeben. Mit zwei, drei Blättern Basilikum garnieren.

Gelato al limon
3 unbehandelte Zitronen
200 g feiner Zucker
450 ml Obers
(und, Hammer) ½ TL Salz
Von einer Zitrone wird die Schale abgerieben, dann werden alle drei ausgepresst. Der Zitronensaft wird mit den abgeriebenen Schalen und dem Zucker verrührt, dann mit dem gesalzenen, geschlagenen Schlagobers vermischt. Entsprechend der Ausrüstung wird die Masse cremig gefroren.

Pasta all’amatriciana
2 EL Öl
15 g Butter
1 mittelgroße Zwiebel, gehackt
1 Scheibe Pancetta, in kleine Rechtecke geschnitten
1 Dose Pelati
1 rote Chilischote, gehackt
450 g Pasta
3 EL Parmesan
2 EL Romano (Pecorino)
Zwiebel im Öl-Butter-Gemisch gelb anschwitzen. Pancetta dazugeben, eine Minute anschwitzen, umrühren. Gehackte Tomaten, Chilischote und Salz dazugeben und im offenen Topf 25 Minuten sanft köcheln lassen. Mit Salz und Chili abschmecken.
Pasta in der Sauce wenden, dann beide Käsesorten hinzufügen und alles gründlich mischen.