Heidiland

Trinken und essen im letzten Winkel der Schweiz. Idyllisch – und Weltklasse.

Text von Christian Seiler · Illustration von Markus Roost

Wenn du auf den Weinkarten der großen Res-taurants die Franzosen hinter dir gelassen hast, kommt meistens eine sehr übersichtliche Seite mit dem Titel „Schweiz“. Dort sind dann zwei Phänomene aufgelistet: erstens die Gantenbeins und zweitens die Summen, die ihre Weine kosten.

Ich muss jedes Mal vor Freude lächeln, wenn ich sehe, welche Preise die Pinot Noirs von Martha und Daniel Gantenbein erzielen. Noch mehr freue ich mich nur über den, der landläufig für ihren raren Chardonnay aufgerufen wird. Wolf Haas würde sagen: Dreistellige Zahlen, nichts dagegen.

Das kommt so: Martha und Daniel Gantenbein machen seit 1982 Wein in Fläsch, in der sogenannten Bündner Herrschaft. Die Bündner Herrschaft ist in der Schweiz etwa so bekannt wie die Wachau in Österreich – die Wáchau, wie die erstsilbenfixierten Schweizer gerne sagen –, und die ursprünglich ungelernten Gantenbeins haben es geschafft, zum Synonym für diese außergewöhnlich hoch gelegene Weinlandschaft zu werden.

Das Factsheet: Die Bündner Herrschaft ist die nördlichste Ecke des Kantons Graubünden, das sogenannte „Tor zum Bündnerland“. Ihr Zentrum heisst Maienfeld. Wenn du als Tourist hier aufschlägst, gibt es genau drei Möglichkeiten, wonach du suchst: die Gantenbeins, das Dreisternrestaurant von Andreas Caminada oder deine in der Schweiz verschollene Kindheit. Denn in der Bündner Herrschaft hat die Schriftstellerin Johanna Spyri ihre „Heidi“ leben lassen. Du erinnerst dich, Heidi: „Deine Welt sind die Berge!“

In genau diesen Bergen trieb ich mich jetzt herum. Das Wetter war großartig. Ich hatte mit dem Bus eine interessante Reise von Landeck, Tirol, ins Engadin hinter mich gebracht, wo ich einen Zwischenstopp in Guarda eingelegt hatte, dem Schauplatz eines anderen, legendären Schweizer Kinderbuchs, des „Schellenursli“ (Handlung: ein Hirtenknabe bringt die Viecher auf die Alm, verliert welche, kommt deshalb zu spät nach Hause, alle in Sorge, aber am Schluss alles gut – „Heidi“ könnte man ziemlich ähnlich zusammenfassen, oder?). Ich war verblüfft gewesen, von welch pittoresker Schönheit der Ort mit seinen gedrungenen Häusern mit den kunstfertig bemalten Fassaden war (und fragte mich einmal mehr vergeblich, warum es in Tirol oder Salzburg nicht ebensolche Beispiele besonderer Sorgfalt im Umgang mit Ortsbildern gibt). Ich besuchte den Schmied Thomas Lampert, der die schönsten Messer anfertigt, die ich je gesehen habe (Ausnahme: Japan). Er arbeitet in einer Schmiede aus dem 17. Jahrhundert und bringt dort so feine, sensible Werkstücke hervor, dass sich nur die besten Wirten und Gastgeber damit schmücken dürfen.

Von Guarda nahm ich den Zug nach Chur, erinnerte mich an ein legendäres Treffen mit dem Architekten Peter Zumthor, dem ich einmal beim Ausheben seiner Baugrube hatte zuschauen dürfen, und ein wenig später bummelte ich weiter Richtung Fläsch.

Die Gantenbeins waren mir nicht ganz unbekannt. Roland Velich hatte sie einmal zu einer legendären Weinverkostung in den Käsekeller von Egg im Bregenzerwald eingeladen, wo sie bei der After-Show-Party ernsthaft unter Beweis stellten, dass sie nicht nur herrlich Wein machen, sondern genauso herrlich Wein trinken können. Entsprechend herrlich geriet der Abend, und ich hatte vor, diesbezüglich Grundlagenforschung zu betreiben.

Das Weingut der Gantenbeins befindet sich am Rand von Fläsch. Es ist nicht zu übersehen, es hat sich von einem kleinen Produktionssitz zu einem veritabeln Landmark-Building gemausert, das die Architekten Valentin Bearth, Andrea Deplazes und Daniel Ladner 2008 zugebaut haben (die Verbindung zur Architektur liegt in der Familie. Daniels Bruder Köbi ist Chefredakteur der Zürcher Architekturzeitschrift „Hochparterre“).

Der Ziegelbau ist ein Prototyp, den ein Computer berechnet und ein Roboter gebaut hat. So konnten an der Fassade Figuren und im Raum Lichtspiele entstehen, gleichzeitig sorgt der Lichtfilter für konstante Temperaturen und Sonnenlichtströme im Inneren.

Die Referenzgröße für die Weine der Gantenbeins ist das Burgund.

„Wir lieben“, sagen sie, „die Mineralität großer Chablis, die fruchtige, schmelzige Kraft weißer Burgunder und unseren Chardonnay, der beides vereint.“

Diese Liebe äußerte sich unter anderem darin, dass die Gantenbeins, die in den achtziger Jahren auf den Rebbergen von Marthas Eltern ihre ersten Weine gemacht hatten, Mitte der neunziger Jahre Klone aus Frankreich einsetzten und sich endgültig von der etwas rustikaleren Methode verabschiedeten, wie in diesem privilegierten Landstrich landläufig Wein gemacht wurde.

Auch der Pinot Noir folgt diesem Muster, sucht das Filigrane und die Finesse der Vorbilder von der Côte d’Or. Gutes Stichwort: Neben den inzwischen einigermaßen heiligmäßig präsentierten eigenen Weinen haben die Gantenbeins in ihrem privaten Keller eine Sammlung aus dieser Region des Burgunds, für die sich auch die Trüffelschweine der großen Weinhandelsfirmen interessieren würden – wenn sie eine Chance hätten, an die Schätze heranzukommen.

Aber die Gantenbeins sammeln nicht der Vollständigkeit halber, sondern um zu trinken. Wollten sie nämlich nur ihre eigenen Weine verzehren, hätten sie möglicherweise nicht genug. Sie produzieren auf einem Minimum an Fläche. Draußen auf dem Weinberg herrscht großartige Sicht auf die Flanken des Rheintals, ein Muster, das vom Schnee der Gipfelfelder über die Herbstfarben des Hochwalds in das Monochrome der Ebene führt. Fünf Hektar gehören dem Pinot Noir, ein Hektar dem Chardonnay. Auf 20 Ar wird schließlich noch ein Minimum an Riesling, Charakteristik Mosel, nicht Wáchau, gekeltert. Die High-End-Weine bekommen schließlich die berühmte, unprätentiöse Verpackung. Nur ein kleines Etikett in blau (Pinot) oder gelb (Chardonnay), auf dem der handgeschriebene Schriftzug mit dem bekannten Namen und die nötigsten Informationen stehen, schmückt die dickwandige Burgunderflasche.

Alles andere darf als bekannt vorausgesetzt werden.

Im Windschatten der Gantenbeins hat sich in der Bündner Herrschaft eine nächste Generation talentierter Weinbauern etabliert. Unterschied zu Daniel und Martha: Sie sind keine Weltstars.

Aber Georg Fromm aus Malans wurde in der Schweiz bereits zum Winzer des Jahres gewählt. Das Weingut Ciprian aus Zizers ist vom Hobbyprojekt zum dezidierten Garagenweingut aufgestiegen. Christian Herrmann und Martin Donatsch aus Fläsch strahlen mit ihren Blauburgundern weit über die Region hinaus. Peter Wegelin vom Scadenagut in Malans experimentiert fruchtbar mit Syrah. Thomas Studach aus Malans fabriziert als One-Man-Show einen hervorragenden Pinot Gris und wundersam eleganten Pinot Noir. Andrea Davaz aus Fläsch macht neben seinem intensiven Pinot auch einen frischen Sauvignon blanc. Annatina Pelizzatti aus Jenins produziert wenige, besonders würzige Pinots. Das Schlossgut Salenegg in Maienfeld wartet mit durchaus altmodischen, fruchtigen, süffigen Blauburgundern auf. Die Liste ließe sich fast beliebig fortsetzen, und ich hatte, nachdem ich von überall ein bisschen probiert hatte, ein etwas hohles Gefühl im Oberbauch.

Zeit, etwas zu essen.

Andreas Caminada, drei Michelin-Sterne, vier Gault Millau-Hauben, führt in „Schloss Schauenstein“ das am höchsten bewertete Restaurant der deutschen Schweiz. Ich kannte Caminada nicht, nur das Bild, das in der Öffentlichkeit von ihm kursiert. Gut aussehender, junger Mann, Doppelgänger des Wiener Maßschuhfabrikanten Markus Scheer, Werbeträger für zahlreiche Firmen, mulitpler Shooting Star.

Soviel Marketingpower machte mich ein wenig skeptisch, als ich die Stiegen nach Schloss Schauenstein hinaufstieg. Sehr hohe Erwartungen, gebrochen durch ein allzu glattes Image.

Aber dieses flaue Gefühl hielt nicht lange an.

Es war später Vormittag. Caminada nahm mich selbst in Empfang. Wir kamen ins Gespräch. Wir setzten uns draußen auf die Schlossterrasse, wo der warme Wind, der die Reben der Bündner Herrschaft so gern streichelt, für angenehme Wärme sorgte. Caminada verströmte keinen Hauch von Arroganz oder Eitelkeit. Er erzählte sachlich, beiläufig und nicht unwitzig aus der Geschichte des Hauses.

Als wir auf seine kulinarische Philosophie zu sprechen kamen, hatte er keine Lust aufs Theoretisieren. Er sagte bloß, dass er sich bei der Auswahl seiner Speisen und Produkte nicht von Dogmen leiten lassen wolle. Regionalität zum Beispiel sei für ihn eine Entscheidungshilfe, aber kein Ausschließungsgrund. Caminada betonte, dass es ihm keineswegs um Konzeptkulinarik gehe – er erwähnte René Redzepi und dessen „Nordic Cuisine“ nicht, muss ihn aber gemeint haben – sondern darum, dass in seiner „eher klassischen Küche“ ein roter Faden zu erkennen sei. Noch wichtiger sei nur, sagte er, dass jedes einzelne Gericht, das er aus der Küche schicke, yummy sei: dass es richtig gut schmecke.

Das Wort passte auffällig schlecht in den eleganten, aufgeladenen Kontext des Schlosses. Aber es hat eine Schlüsselfunktion für das Verständnis von Andreas Caminada. Das wurde mir spätestens klar, als seine enorm verbindliche Brigade wenig später begann, mir die ersten „Snacks“ zu servieren: ein Gurken-Macaron; eine mit Mais-Molke-Essenz gefüllte Kugel samt einem Happen Thunfisch; ein glasiges Stück Forelle mit Gurke; etwas Gänseleber mit Aprikose; eine Entenleber auf einem zitronigen Cookie mit Maiseis und einen überdimensionalen Hummerchip – Hummerchip! – mit einem Tupfen Mayonnaise.

Es war der Moment, in dem ich alle Vorurteile, die ich die Stiegen hinaufgeschleppt hatte, vergaß. Schon der süß-herbe Maisgeschmack des Aperó-Kügelchens, das man am Gaumen zerdrückt, war weniger ein zarter Händedruck als vielmehr ein kräftiger Schlag auf die Schulter. Wie auch bei den Geflügellebern gingen Salzigkeit, Süße und Säure, jeweils ziemlich hoch dosiert, ihre verblüffende Verbindung ein. Man darf sich, wollte man den Geschmack der Caminada-Küche in Kunstwerke übersetzen, keine geschmackvolle Gouache von Degas vorstellen, sondern eher die Farbenpracht der Landschaftsbilder von Ernst Ludwig Kirchner, plakativ, stark, zupackend – und auf attraktive Weise ein bisschen irre.

In perfektem Takt erreichten mich jetzt Speisen.

Eine gebratene und marinierte Makrele mit Kohlrabi, Wasabi, Mayonnaise, Meringue und Radieschen; die ohnehin schon kräftigen Aromen der Makrele und der Radieschenscheibe wurden von etwas Essig noch einmal aufgetunt. Der Geschmack blieb am Gaumen stehen wie ein exzellenter Wein – nur schärfer, voluminöser. Senf und Blumenkohl gingen eine Mésalliance ein, die durch verschiedene Aggregatzustände wanderte.

Schließlich tauchte Caminada selbst noch einmal auf, um ein Gericht vorbeizubringen, das er erst ein paar Tage später auf die Karte setzen wollte: eine tiefgrüne Suppe aus frischen Kräutern – Estragon, Basilikum, Kerbel, Petersilie, Koriander, Bärlauch –, die er schockgefroren, pulverisiert oder gehackt und „ganz einfach“, sagte er, mit Bouillon und etwas Sahne aufgemixt hatte. „Schmeckt doch nach Frühling“, grinste er. Dann ließ er mich allein.

Ich war fast bestürzt, wie gut jede einzelne Speise schmeckte. Die Suppe zum Beispiel bot ein infernalisches Für-, Mit- und Gegeneinander von bitteren, scharfen und minzigen Aromen, die sich in der eleganten Grundwürze der Bouillon wild entfalten konnten. Ich notierte mir: „C. geht weit“, und da hatte ich noch gar nicht die Forelle probiert, die mit rustikaler, erdiger roter Bete auf einem Lichtblitze aussendenden iPad serviert wurde – ein Präsentationsscherz, wie ihn auch
Juan Mari Arzak in San Sebastian verwendet und auf den ich leichten Herzens verzichten könnte. Anders als bei Arzak war die Präsentation aber nicht die Hauptsache. Ich hätte diese Forelle auch von einem Bierdeckel gegessen und mich über den Mut Caminadas gefreut, jeden charakteristischen Eigengeschmack kunstfertig mit Salz oder Säure zu verstärken und auf diese Weise zu steigern, zuzuspitzen und über sich hinaus treten zu lassen – in mutiger, heikler Balance, die vertrauten Aromen am Rand des Wahrnehmungsspektrums und die gemeinsame Wirkung als Sensation in dessen Zentrum.

Es passierte exakt das, was der britische Schriftsteller John Lanchester in seinem Roman „Die Lust und ihr Preis“ so hinreißend zusammengefasst hat. Es gibt, so Lanchester, geschmackliche „Kombinationen, deren Beziehung nicht lediglich komplementärer Natur ist, sondern von einer höheren Schicksalhaftigkeit zu künden scheint – von einem Geschmack, den nur Gott erfunden haben kann. Solche Kombinationen besitzen alle Eigenschaften einer logischen Entdeckung: Eier mit Speck, Reis mit Sojasauce, Sauternes mit Gänseleber, weiße Trüffeln mit Pasta, Beefsteak mit Pommes frites, Erdbeeren mit Sahne (…); für den leidenschaftlichen Erforscher der Sinne wird das erste Erleben jeder dieser Kombinationen Auswirkungen haben, die sich denen der Entdeckung eines neuen Planeten durch einen Astronomen vergleichen lassen.“

Ich saß also an meinem Tisch in Speisesaal zwei von Schloss Schauenstein und machte meine ersten Schritte auf dem Planeten Caminada. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, zugegeben. Aber ein großer Schritt für mich. Außerdem notierte ich einen Tipp für Gott: Wenn du die Liste von oben fortschreiben willst, musst du hier bloß für 249 Franken einen Lunch bestellen.

Ich beschloss wiederzukommen.

Ein paar Monate später spazierte ich an einem Samstagmorgen mit Andreas Caminada durch die Innenstadt von Chur, wo in den engen Gassen ein herrlicher Wochenmarkt stattfindet.

Caminada wurde regelrecht gemästet. Am Stand vom Geissenhof musste er ein Stückchen Käse probieren, bei den Jägern von der Hirschsalsiz, bei jedem zweiten Bauern vom Trockenfleisch, vom Schinken, von den Würsten. „Gut“, sagte er auf Rätoromanisch, „bun“. Während er kaute und anerkennend nickte, sagt er auch manchmal „sehr gut“. Hie und da ließ er sich etwas einpacken, danke, bitte. Er bewegte sich durch die Menschenmassen wie ein Politiker. Nur auf den Schnaps, der ihm angeboten wurde, verzichtete er lachend. Und gewählt werden wollte er auch nicht.

Natürlich wurde Caminada auf dem idyllischen Wochenmarkt von Chur als der Star wahrgenommen, der von den Seiten der Klatschpresse für einmal ins echte Leben hinuntersteigt. Einerseits. Andererseits vermittelt er jederzeit die Gewissheit, dass er sicher nicht auf den Seiten der Illustrierten zu Hause ist, sondern hier.

Caminada, Jahrgang 1977, stammt aus Sagogn, absolvierte seine Kochlehre im benachbarten Laax und arbeitete auf verschiedenen Stationen, als Pâtissier, Beilagenkoch und Chef Tournant in Klosters und Bregenz. Bei Claus-Peter Lumpp in Baiersbronn lernte er als Tournant seine erste Dreisternküche kennen. Bei Hans-Peter

Hussong in Uetikon am See führte er als Küchenchef die erste eigene Brigade.

Als Caminada 26 war, ging er vom Zürichsee zurück nach Graubünden und machte sich selbstständig. Gemeinsam mit seiner damaligen Partnerin Sieglinde Zottmaier pachtete er das „Obere Schloss“ in Fürstenau, 329 Einwohner, ausgestattet mit dem Stadtrecht und nach Selbstauskunft „die kleinste Stadt der Welt“.

Das Schloss mit seinem markanten, viereckigen Turm stammt zum größten Teil aus dem 17. Jahrhundert. Als Caminada einzog, ließ er sich von dem kargen, aber ausdrucksstarken Gemäuer dazu inspirieren, seinen zukünftigen Gästen „ein Gesamterlebnis“ bieten zu wollen. Er startete den Betrieb von „Schloss Schauenstein“ mit vier Mitarbeitern. Sterne waren weder Ziel noch Thema. Das Schloss wurde komplementär zur klassischen Zeitlosigkeit der Räume modern möbliert. Am Eröffnungstag war die Personalnot so groß, dass Caminadas Vater Fridolin die Küche entern musste, um seinem Sohn beim Abwaschen zu helfen (seither kommt er jeden Samstag zum Essen).

Die Tage begannen um sieben Uhr früh und endeten nachts um drei. Nach vier Jahren verließ Sieglinde Zottmaier Betrieb und Beziehung – sie habe die Dekadenz der Gastronomie satt gehabt, schreibt sie auf ihrem Profil von permacultureglobal.com – und wechselte in die Landwirtschaft. Caminada brauchte drei Angestellte, um sie ersetzen zu können, und betont noch heute, wie wichtig Sieglinde für das Gelingen des Projekts gewesen sei. Im selben Jahr wurde er zum ersten Mal von Gault Millau zum „Koch des Jahres“ gewählt. Zwei Jahre später bekam er die Auszeichnung ein zweites Mal. Der Michelin gab ihm 2004 den ersten und 2007 den zweiten Stern. Seit 2010 sind es drei.

Caminada trägt ein T-Shirt, eng sitzende schwarze Jeans und Sneakers. Der Bart ist etwas länger geworden als früher, am Kinn sprießen graue Haare. Sein Gang ist aufrecht und elastisch, er könnte auch Sportlehrer sein. Er hat gute Laune, wie meistens. Wenn er mit den Einheimischen spricht, verströmt er etwas Warmherziges. Der Südtiroler Roland Trettl, der mit Caminada für dessen Gastpräsenz im Hangar-7 in Salzburg zusammen arbeitete, sagt: „Andreas ist einfach authentisch. Du kannst ihn überall hinstellen, er bleibt immer er selbst.“

Nach dem Rundgang über den Markt musste Caminada in seinem Auto Platz machen. Der Audi A5, fast schon ein Rennauto, war mit Kinderkram und sonstigen Habseligkeiten vollgestopft. Caminada hat geheiratet. Mit seiner Frau Sarah hat er seit letztem Jahr ein Baby.

„Jetzt holen wir die beste Salsiz, die es gibt“, sagte Caminada ungeachtet der Tatsache, dass im Kofferraum bereits ein Dutzend Würste lag. Über Staubstraßen holperten wir zu einem hoch gelegenen Bauernhof, an dessen Stallgebäude ein kleiner Hofladen angeschlossen ist. Herrlicher Blick über das Tal, im Hintergrund der verschneite Piz Beverin. Alles gut.

Nicht alles gut. Ein neuer Pächter hat übernommen. Es gab nur noch Restposten besagter Salsiz. Caminada kaufte alle. Zurück im Auto fluchte er. Er hat es nicht gern, wenn er von seiner Versorgungskette abgeschnitten wird, auch wenn ein Stück Salsiz nichts ist, was er im Restaurant servieren würde: er selbst macht keinen Unterschied zwischen Delikatessen erster oder zweiter Ordnung. Spontan fing er von alten Erdbeersorten zu schwärmen an, wie er im Garten des Schlosses neuerdings welche anbaut. Weich und sehr aromatisch müssen sie direkt aus dem Garten auf den Teller kommen, weil sie sonst zu Matsch werden.

„Braucht man mehr als das?“, fragte er rhetorisch und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Vielleicht noch ein bisschen Rahm dazu.“

Der Mann muss John Lanchester gelesen haben.

Manchmal kann man Andreas Caminada auch beim Spielen zusehen. Dem Architekten Gion A. Caminada hat er ein eigenes Gericht gewidmet, eine Hommage an die Schlichtheit der Bündner Architektur. Dafür baut er aus Kalbsschwanzessenz, Rauchspeckparfait und Rollgerstevinaigrette ein kleines Dorf auf, dessen Häuser wie aus der DKT-Schachtel wirken und ein bisschen albern auf dem Teller stehen. Die Einzelteile schmecken freilich so gut, dass sich auch Gion A.
Caminada die Pointe gefallen lassen wird.

Caminada ist kein Traditionalist, der am liebsten auf dem Holzherd kocht. Er verwendet Küchentechnik, wo sie ihm nützt. Das Zerlegen, die Dekonstruktion von Produkten, und eine Idee, sie neu zusammenzusetzen, hilft ihm dabei, seine Geschmacksideen durch verschiedene Texturen wandern zu lassen und sie doppelt, dreifach interessant zu machen. Solange das Ergebnis yummy ist, darf der Schockfroster genauso zum Einsatz kommen wie jedes andere High-Tech-Teil. Caminada macht keine Philosophie daraus: Er macht aber auch aus dem Gegenteil keine Philosophie. Er ist kein Theoretiker. Er schreibt keine Pamphlete. In Zeiten, wo viele Köche als Intellektuelle, Künstler oder politische Veränderer auftreten, mag dieser kulinarische Pragmatismus nur wie ein Aspekt scheinen – aber es ist der zentrale Aspekt. Es muss schmecken – und es muss ökonomisch funktionieren.

Schloss Schauenstein liegt nicht im direkten Einzugsgebiet einer größeren Stadt. Zürich ist fast eineinhalb Stunden entfernt, Como zwei, Basel und Mailand zweieinhalb, Bern fast drei. Man fährt nicht schnell einmal zum Abendessen hierher. Täglich können maximal 60 Personen im Schloss essen (Lunch und Dinner zusammengerechnet), und die Rechnung geht nur auf, wenn diese Plätze auch tatsächlich besetzt sind. Die Präsenz in den Medien hilft Caminada, den Druck auf diese Plätze gleichbleibend hoch zu halten. Sein Status in der Öffentlichkeit verschafft ihm Spielraum. Caminada konnte sich seine Meriten nie damit verdienen, dass er eine Materialschlacht anzettelte. Die Unterstützung, die die Konkurrenz nicht braucht, holt er sich aber genauso pragmatisch von externen Partnern, wie er in der Küche Gebrauch von allem macht, was ein Gericht dynamisch, spitz, kraftvoll werden lässt. Er ist nicht nur ein moderner Koch, sondern auch ein moderner Unternehmer.

Blieb die Frage, ob das zweite Essen in Schauenstein noch einmal so ein Erweckungserlebnis sein konnte wie das erste. Ich hatte, ich gebe es zu, Angst, dass die Kugel aus dem Lauf sein könnte.

Aber das stimmt nicht. Yummy ist eine mächtige Kraft. Und den wirklich erschöpfenden Überblick über die Bündner Weine habe ich genau seit damals. —

Schlossgasse 1
CH-7414 Fürstenau
Tel.: +41/(0)81/632 10 80
www.schauenstein.ch
www.andreascaminada.com

Gantenbein Wein
Martha & Daniel Gantenbein
Ausserdorf 38
CH-7306 Fläsch
Tel.: +41/(0)81/302 47 88
www.gantenbeinwein.com