Im Knast
Die besten denkbaren Nächte im Charlottenburger Gefängnis. Und ein langer Ausbruch durch Berlins beste Restaurants und andere Tränken.
Von der Kantstraße aus ist das Hotel genauso wenig zu sehen, wie früher das Charlottenburger Frauengefängnis nicht von der Straße aus zu sehen gewesen war. Das Gefängnis verbarg sich hinter dem Amtsgericht im Hinterhof, so wie sich heute das Hotel Wilmina im Hinterhof verbirgt. Deshalb sehe ich auch nur das ehemalige Gerichtsgebäude, sozusagen das Straßenlokal des neuen Hotels, mit seiner weißen Fassade und dem barocken First, das 1896 in der Nähe des Lietzensees errichtet worden ist. Das Haus verströmt Eleganz und eine gewisse Autorität. Das Gefängnis aus rotem Backstein und seiner ziemlich abgefahrenen Geschichte befindet sich im Hinterhof. Ich muss zuerst einchecken und mir die Zutrittsberechtigung holen, um die schweren Tore öffnen zu dürfen und meine Penthouse-Suite zu beziehen.
Es ist eine ungewöhnliche Geschichte, wie aus einem Knast ein neues Boutique-Hotel im alten Westberlin entstand. Das Haus ist eine Schönheit, das schon; vor allem jetzt, nachdem seine Vorzüge von den großartigen Architekten Grüntuch Ernst gefühlvoll herausgearbeitet und mit klugen, geschmackvollen Eingriffen ergänzt wurden. Die Herrschaften sind keine Unbekannten. Sie hatten bereits mit dem Umbau einer jüdischen Mädchenschule in Berlin Mitte zum Pauly Saal, einem zwischenzeitlich zu Recht angesagten Restaurant, das die Pandemie leider nicht überstanden hat, ihre Meisterschaft bewiesen. Das Charlottenburger Frauengefängnis erwies sich als eine noch weit umfangreichere Aufgabe, einerseits, weil das Bauvorhaben enorm war, andererseits, weil die Umdeutung des historischen Orts einen ganz besonderen Umgang mit der alten Substanz erfordert. Dazu kam, dass die ursprünglichen Auftraggeber der Architekten während der Umbauarbeiten entnervt absprangen, sodass Grüntuch Ernst plötzlich die Möglichkeit bekamen, das Haus selbst zu erwerben und zu betreiben. So entstand das Hotel Wilmina, das vor wenigen Wochen seine Pforten für den Publikumsverkehr geöffnet hat.
Ich trete, nachdem das gusseiserne Eingangstor mit einem satten Geräusch hinter mir ins Schloss gefallen ist, in einen Garten, dessen tiefgrüner Bewuchs aus Efeu und Schattengewächsen Feuchtigkeit und Kühle verströmt, ein wohltuender farblicher Kontrast zu dem Schlösschen aus roten Backsteinen, das fünf Stockwerke in die Höhe wächst. Die Fenster der ehemaligen Zellen sind noch immer vergittert. Das Ensemble hat seine institutionelle Strenge bewahrt. Kaum trete ich ein, fallen mir die ausgesucht eleganten Baustoffe und Möbel auf – und natürlich die Nonchalance, mit der die einstige Gefängnisarchitektur beibehalten und doch verändert wurde: Gang, Zelle, Gang, Zelle, Gang, Zelle. Eine dieser Zellen ist im Originalzustand belassen worden, die anderen wurden geschickt zusammengelegt und in komfortable Räume verwandelt, wobei die – Empfehlung! – „Gartenzimmer“ nicht aus Zellen, sondern aus Verwaltungsräumen entstanden. Überall finden sich Zitate aus dem früheren Gefängnisalltag, niedrige Durchgänge, originale Zellentüren, strenge Umgänge, von denen aus alle Zellen-, äh, Zimmertüren im Blick sind. Im zweiten Stock steht zwischen begeisterten Philodendren ein Loungestuhl aus Korbgeflecht, eine ironisch-elegante Umdeutung eines Beobachtungspostens.
Für die neuen Penthouse-Zimmer haben die Architekten dem Altbau einen Stock aufgesetzt, sodass zusätzlich eine ätherische Dachterrasse entstand, wo sich auch ein kleines Schwimmbad befindet. Dieses war, als ich einzog, noch nicht eingelassen. Vom Dach aus ein herrlicher Blick über das Ensemble, in den Garten und über die benachbarten Dächer von Charlottenburg.
Ich hatte für den Abend einen Tisch im hauseigenen Restaurant Lovis bestellt, aber bis dahin war noch Zeit. Also machte ich eine Runde um den Block. Seit auf der Kantstraße Tempo dreißig herrscht, Bäume und eine Rabatte am Mittelstreifen aufgestellt wurden, ist die Nachbarschaft deutlich attraktiver geworden. Vor den Kneipen – etwas weiter stadteinwärts die asiatischen Lokale des Duc-Imperiums, davon später – ufern die Schanigärten aus, ein nicht mehr rückgängig zu machender Segen der Corona-Liberalisierungen. Auf dem Amtsgerichtsplatz hat ein rosafarbener französischer Kiosk namens Crêplala aufgemacht, wo ich stilbewusst einen Pastis trinke, den ersten seit Jahren, denn Pastis trinke ich nur in Frankreich und am Amtsgerichtsplatz, dann gehe ich die Leonhardtstraße hinunter Richtung Stuttgarter Platz, auf den XXL-Trottoirs ein Lokal neben dem anderen, ein österreichischer Greißler, den ich hier in der Fremde gleich ganz verliebt anschaue, das Restaurant Bruderherz, die Bluebird Eistörtchen Manufaktur – auf solche Namen kommen sie bekanntlich nur in Berlin. Auf der anderen Straßenseite die berühmte Buchhandlung Hacker und Presting, der Stuttgarter Platz, von seinen Bewohnern liebevoll „Stutti“ genannt, ein einziger Wirtshausgarten, in dem sich eigentlich nur die Kellner auskennen. Wenn du Pech hast, bestellst du eine Portion Spaghetti und kriegst ein Nasigoreng, und ja, vielleicht ist das eh ein Glück.
Als ich von meinem kleinen Ausflug ins Hotel zurückkehre, setze ich mich ein bisschen in die großzügige Lounge, die wie der Frühstücksraum auch mit reichlich interessanter Literatur ausgestattet ist. In der tiefen Ruhe des sparsam möblierten Raums fällt mir plötzlich ein, wo ich schon einmal auf das Charlottenburger Frauengefängnis gestoßen bin, nämlich in dem Buch Harro und Libertas von Norman Ohler. Ohler erzählt darin die dramatische Geschichte des glamourösen Ehepaars Schulze-Boysen, das aus der Mitte der deutschen Gesellschaft Widerstand gegen die Nazis leistete. Die Gruppe flog 1942 auf, und Libertas wurde, um auf ihren Prozess zu warten, in das Frauengefängnis eingeliefert, in dessen Erdgeschoß ich jetzt darauf warte, dass ich mich langsam fürs Restaurant fertig machen darf. Natürlich endete die Geschichte tragisch. Libertas Schulze-Boysen, die Enkelin des Fürsten Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, wurde am 22. Dezember 1942 in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee hingerichtet, eine Stunde nach ihrem Mann Harro.
Es ist eines der Schicksale, die für immer mit diesem Ort verknotet sind. Es gibt zahllose andere, nicht weniger dramatische, über die vielleicht kein Buch geschrieben wurde. Was aber macht Geschichte mit einem Ort? Verändert sie, wenn schon nicht die architektonische, so doch die psychologische Statik? Wohnen in den Mauern zweifelhafte Energien und werden sie, jetzt zum Beispiel, durch eine heitere, hedonistische Verwendung des Hauses sozusagen ausgeräuchert? Ein Gefängnis ist schließlich nur so lange ein Gefängnis, solange jemand anderer als ich die Tür meines Zimmers zusperrt.
Das Restaurant Lovis ist in der ehemaligen Schleuse der Strafanstalt untergebracht. Der Raum ist, es gibt keinen anderen Begriff dafür, prachtvoll. Von der Decke hängen Kaskaden kleiner Kugellampen, die dem Raum etwas Träumerisches verleihen, und durch ein großes, breites Fenster fällt der Blick hinaus in den wilden Garten.
Küchenchefin im Lovis ist Sophia Rudolph, eine Berlinerin, die am Institut Paul Bocuse studiert und bei Alain Ducasse in Monte-Carlo gearbeitet hatte, bevor sie nach Berlin zurückkehrte und nach Stationen bei Marco Müller und als Küchenchefin im Panama das Lovis übernahm.
Natürlich bestelle ich das Menü, und das erweist sich als geniale Idee. Nicht nur, dass die kleinen, elegant angerichteten Portionen erstklassig abgeschmeckt sind, das Lovis meint es ernst mit dem in der Spitzengastronomie zehntausendfach geäußerten Stoßgebet, man möge uns Gäste nicht bis obenhin vollstopfen, sodass spätestens beim Hauptgericht nur noch Messer und Gabel dafür zuständig sind, den Teller zu leeren, keinesfalls aber Durst oder Hunger.
Einem Radieschensalat mit Bärlauch und getrockneter Tomate folgen „Petits pois à la française“, ein wundervolles Erbsengericht mit geräucherter Karotte, dann ein gebackenes Onsenei mit einem Caesar Dressing, anschließend mein Gericht des Tages, ein einzelner Pilz-Raviolo mit Frühlingslauch, grünem Spargel und Gremolata-Jus. Täuschen Sie sich also nicht, wenn Sie erfahren, dass ich auch den Rosa Lammrücken bestellt habe, denn erst dieser half mir vom erwartungsvollen Dem-nächsten-Gang-Entgegenfiebern in den elementaren Zustand zufriedener Sattheit. Das köstliche Dessert aus Rhabarber, Fenchel, Limette und Estragon machte einen Punkt darauf.
Ich schlief nach dem Genuss dieses zeitgemäßen, leichten Menüs ganz hervorragend, vielleicht auch, weil ich eine Flasche Riesling von Georg Breuer geleert hatte, und ich kann berichten, dass mich nachts weder trübe Gedanken noch Gespenster heimsuchten. Das war wichtig, denn ich hatte in Berlin einiges vor.
Zum Beispiel trieb ich mich ein paar Tage in Charlottenburg herum. Frühstückte in der winzigen Espressobar in der Mommsenstraße 4, wo der Kaffee hervorragend ist und Inhaber Reza Daei Nabi, der andernorts in der Bar Brass übrigens hervorragend kocht, täglich frische Törtchen bäckt, die höchsten Ansprüchen genügen und meinen schon lange.
Ich kehrte bei Duc Ngos Funky Fisch ein, einem Vietnamesen an der Kantstraße, der für alle möglichen kulinarischen Scherze zu haben ist und dabei den perfekten Spagat zwischen angeregter, lockerer Atmosphäre und hervorragendem asiatischen Comfort Food schafft. Ich aß Kabeljau in zartem Tempurateig, Ceviche vom Weißfisch und einen köstlichen Thunfisch mit einem grünen Risotto.
An der Paris Bar verzweifelte ich diesmal. Eine Schwadron von B-Promis, angeführt vom sogenannten Modedesigner Harald Glööckler, machte die Benützung des für mich vorgesehenen Tisches unmöglich. Dafür fiel mir wieder ein, wie Stars von Dschungelcampkaliber in der Schweiz genannt werden: Bratwurst-Prominenz. Um keinen Begriff beneide ich unseren westlichen Nachbarn mehr.
Etwas Gutes hatte die Flucht aus der Paris Bar natürlich auch. Ich verlief mich in der Nähe des Savignyplatzes und wurde am Ufer einer herrlichen Bumsen namens Diener Tattersall in der Grolmanstraße angespült, wo ich Zeuge wurde, wie an diesem Abend die Zeit stillstand. Studentinnen und Studenten sangen Geburtstagslieder, die ich das letzte Mal gehört hatte, als ich meinen zweijährigen Sohn im Kindergarten abgeholt hatte, das Bier war ölig, und es gab Ouzo – Ouzo trinke ich normalerweise nur in Griechenland oder im Diener Tattersall. So wurde ich heiter, studierte die Schwarz-Weiß-Bilder an den Wänden, die Boxer zeigten und Prominente, die ich nicht kannte, lernte Menschen kennen, und irgendwann spät, der unglaublich reservierte Kellner hatte die Reserviertheit aufgegeben und holte sogar den Koch in die Küche zurück, damit er uns Blut- und Leberwurst mit Sauerkraut und Kartoffeln zubereiten konnte, sang ich mit den Studentinnen und Studenten und lobte den Glööckler, weil er mich verjagt und in die Jagdgründe meiner neuen Freunde getrieben hatte.
Weil ihr fragt: Müsste ich den Diener Tattersall ins Wienerische übersetzen, würden wir wahrscheinlich beim Café Bendl ankommen oder vielleicht beim Café Anzengruber, wenn gerade einmal nur Prominente da sind, von denen ich noch nie gehört habe.
Tags darauf, nach einem langen, traumlosen Schlaf, einem späten Frühstück in der Espressobar in der Mommsenstraße und einem Ausflug in die Neue Nationalgalerie, das eben wiedereröffnete Museumsprunkstück von Mies van der Rohe am Potsdamer Platz, speiste ich bei Tim Raue.
Nicht, dass man in der Rudi-Dutschke-Straße einfach vorbeigeht und sich etwas zu essen bestellt – es braucht eine ziemlich lange Anlaufzeit, um bei Tim Raue einen Tisch zu bekommen. Ein Glück, dass ich ausnahmsweise daran gedacht und noch mehr Glück beim Auswahlverfahren gehabt hatte: Einen Platz bei Tim Raue zu bekommen, ist ungefähr so schwierig, wie in Wien zum Medizinstudium zugelassen zu werden.
Zuerst die Frage, ob mir Stäbchen recht sind. Ja, mir sind Stäbchen recht, auch wenn ich die Frage in einem deutschen Sternerestaurant auf den ersten Blick ungewöhnlich finde. Ungewöhnlicher ist nur, dass Tim Raue keine Hemmungen hatte, schon bei der Gründung seines Berliner Hauses vor mehr als zehn Jahren gegen den regionalistisch-saisonbewussten Megatrend der zeitgemäßen Spitzenkulinarik ein so glamouröses, globalistisches Ausrufezeichen zu setzen. In seinem Restaurant in Kreuzberg kombiniert er hochklassige Lebensmittel aus der ganzen Welt mit einer panasiatischen Gewürzwelt und formt sie selbstbewusst zu Einzelstücken.
Tim Raue ist einem breiten Publikum vor allem als Tim von Tim & Tim aus dem Fernsehen bekannt – Tim Raue und Tim Mälzer treten regelmäßig gemeinsam im VOX-Erfolgsformat Kitchen Impossible auf, und auch in mehreren anderen Kochsendungen ist Raue Stammgast. In seiner Selbstdarstellung verweist der Urberliner Raue gern darauf, dass er in seinem Kreuzberger Kiez Mitglied einer Gang gewesen sei und seinen Rang im deutschen Sozialwesen mit einer großen Klappe und flinken Fäusten definieren musste. Heute dient ihm als Waffe allein sein Mundwerk. Er beherrscht, wenn es sein muss, und es muss oft sein, ein ziemlich zupackendes Vokabular.
Die Küche in Tim Raues Flagship-Restaurant – er betreibt daneben noch eine Reihe einfacherer Lokale – nimmt die Lautstärke ihres Chefs auf, auf ihre Weise. Es kommt ein ganzer Teller mit Snacks, die auf den ersten Blick wenig spektakulär wirken, aber bereits ein ausgewachsenes Gewürzarsenal präsentieren: hauchdünn geschnittener Schweinebauch-Szechuan, fett, fruchtig und scharf, Pulpo, gefüllte Edamame, ein Stück Scampi mit Szechuanpfeffer, auf dessen „betäubende“ Wirkung mich der Service bereits vorausblickend einstimmt.
Schon dieses Vorspeisenassortiment zeigt: Die Kunst dieser Küche besteht darin, mit grellen Farben geschmackvoll zu malen. Das ist durchaus bildlich zu verstehen, wenn zum Beispiel zum ersten Gang – Imperial-Kaviar auf einem Gurkengelee und Sprottenschaum – ein Plastiklöffel und eine Kunststoffgabel in Leuchtfarben serviert werden, um das sehr salzige, dabei aber sehr raffinierte Gericht – die Deftigkeit der Sprotten harmoniert großartig mit der Breite der Gurke, der kontrastierenden Dillcreme und den Sensationen der aufplatzenden Fischeier – restlos aus dem Teller zu entfernen.
Der Zander, der jetzt folgt, war zwölf Stunden in Sangohachi, einer japanischen Reispaste, eingelegt und kommt jetzt gedämpft mit grünem Rettich und Sake in einer atemberaubenden Beurre blanc – eines der wenigen Gerichte, das nicht mit Schärfe und Kraft, sondern mit Subtilität besticht. Von der Beurre blanc hätte ich übrigens noch gerne Nachschlag gehabt, aber ich habe mich eh schon weit hinausgelehnt, indem ich zusätzlich zum Menü noch Tim Raues Signature Dish, die Pekingente, bestellte – mit Supplements habe ich ja gerade erst gute Erfahrungen gemacht.
Der Kaisergranat mit einer vietnamesischen Nuoc-Mam-Sauce, wie sie gern als Dip zu Sommerrollen serviert wird, ist auf köstliche Weise spicy. Schärfe bei Tim Raue ist immer mit Geschmack, nie mit purer Explosivität verbunden, dafür sorgt die Auswahl der richtigen Herkünfte genauso wie die souveräne Dosierung. Vielleicht mein Lieblingsgang ist der Dim-Sum-Reisteig mit Schwarzer Trüffel und Topinambur, übrigens nicht zu Teigtaschen verarbeitet, sondern zu dicken Nudelsträngen, die mit Creme und Sauce eine echte Freude für kindliche Gemüter sind (ja, mich).
Es gibt noch Wangen vom Wagyu-Beef mit einer koreanischen Gochujang-Paste, einem fermentierten Reisprodukt, die mit Finesse gewürzt, mir aber fast schon zu viel sind – der einzige Nachteil bei einer klassischen Menü-Dramaturgie, als deren Höhepunkt Fleischgerichte auftreten. Und dann trifft erst die Pekingente ein, ein Gericht, das ich ein anderes Mal essen möchte, wenn ich Hunger habe. Wobei: Die irisierende Suppe vom Entenklein mit Zitronenblatt, Chawanmushi und Bambuspilz holt mich wieder zurück zu den Lebenden, was gut ist, weil ich sonst das fantastische Kiwi-Dessert – mit Kokosnuss und Shiso – verpasst hätte.
Als ich das Restaurant verlasse, bin ich irgendwie glücklich. Satt, klar. Aber auch aufgeregt und voll von Eindrücken wie nach dem Besuch einer Opernaufführung mit den ganz großen Stimmen, für einen Moment in einer anderen Welt, im Ausnahmezustand. Das lohnt die Kosten, die hoch sind, weil es zeigt, was diese Art von Gastronomie kann, wenn sie hält, was sie verspricht: Sie schafft Augenblicke, die kostbar sind, und von denen können wir gerade durchaus welche brauchen, zum Ausschneiden und an den Kühlschrank Picken.
Obwohl ich mithilfe von Sommelier Raphael Reichardt rechtschaffen zu trinken bekommen habe, zieht es mich nicht nach Hause in den Knast, sondern ein paar Straßen weiter zu Johannes Schellhorn in die Bar Freundschaft.
Ich kenne Johannes schon hübsch ein paar Jahre, ein Mal hat er mich beim Bergsteigen zerstört, und ich verdanke ihm einen der besten Abende mit gefüllten Gläsern. Besagter Abend trug sich im Seehof in Goldegg zu, am ersten Tag, als die Gastronomie nach, wie es sich für mich anfühlte, jahrelanger Corona-Sperrstunde wieder aufsperren durfte. Johannes, dessen Einfluss auf der Seehof-Weinkarte inzwischen unverkennbar, und zwar unverkennbar positiv, ist, machte eine Flasche Wein nach der anderen auf und schenkte sie an blöd vor sich hin strahlende Menschen aus, die erstens zutiefst gerührt waren, weil sie wieder miteinander am Tisch sitzen durften, zweitens aber zur Kenntnis nahmen, dass ein Wein schöner als der nächste war – am Ende der Liturgie traten zwei Engel in Gestalt von reifen Barolos auf, von Giovanni Canonica und Lorenzo Accomasso, und die Freude über diese Epiphanien trug mich auch jetzt, mit vollem Magen, in die Mittelstraße, wo Johannes Schellhorn und sein Partner Willi Schlögl ihre Tränke angesiedelt haben.
Ich tat also an diesem Abend, was ich am liebsten tue. Stand satt an einer langen Theke – eigentlich besteht das Lokal ausschließlich aus Theke, ein Konzept, dem ich einiges abgewinnen kann – und ließ mir von Johannes Wein einschenken, den dieser für mich auswählte. Er kennt meine Vorliebe für elegante, fein gewirkte Getränke und hat mich mit keinem Glas enttäuscht. Sicher, man kann sich in der Freundschaft auch mit der Weinkarte vergnügen, wenn man etwas zum Lesen braucht, aber die beste Bestellung lautet unter Garantie: Bitte, Herr Schellhorn, danke, Herr Schellhorn.
Außerdem steckte mir Johannes am Ende des Abends die Adresse eines chinesischen Restaurants zu, an dem ich, wie er prophezeite, meine Freude haben würde. Und so geschah es, schon tags darauf.
Besagtes Lokal befindet sich in der Nähe des Adenauerplatzes in der Eisenzahnstraße und trägt den verhängnisvollen Namen Hot Spot. Ich meine, waren Sie schon jemals in einem Wirtshaus, das Hot Spot heißt? Ich dachte zuerst, ich hätte mich verlesen und die Hütte heißt wenigstens Hot Pot, obwohl mir keineswegs der Sinn nach einem chinesischen Fondue stand, aber die Wirklichkeit war stärker als meine Bedenken. Hot Spot bleibt Hot Spot, und ich blätterte die vorschriftsmäßig laminierte Speisekarte durch, die noch dicker ist als die im Restaurant Shanghai in Wien, und das will etwas heißen. Allerdings war etwa die Hälfte der Positionen nicht den Speisen, sondern den Getränken gewidmet. Johannes – der das Hot Spot ungefähr so einmoderiert hatte: „Wenn du alte Rieslinge saufen willst, gehst du zum Chinesen“ – behielt recht: Ich fand hinter den Seiten mit Wulong- und Ginsengtee den heißen Stoff und bestellte, obwohl es Weine von Markus Molitor, Dr. Loosen und Horst Sauer im Offenausschank gab, eine Flasche Riesling Aulerde vom Weingut Wittmann aus Rheinhessen zu einem absolut überzeugenden Preis. Würde ich in Fußgängerdistanz vom Hot Spot wohnen, wäre es unter Garantie mein persönlicher Hot Spot, für Vormittags-, Nachmittags- und Abendrieslinge.
Ja. Das Essen ist auch okay.
Am Abend vor meiner Abreise ging ich ins Grill Royal. Es war ein Sonntag, ich war mit Freunden unterwegs und freute mich auf einen Abend in einer Umgebung, die eine gewisse Selbstverständlichkeit versprach, kein Essen, dem man mehr Aufmerksamkeit als nötig widmen muss, keine Getränke, die keinen anderen Gesprächsstoff als sich selbst zulassen, nicht viel mehr als eine warme Mahlzeit in ansprechender Umgebung.
Natürlich kam es anders. Ich meine, ich weiß schon, dass Stammgäste in ihrem Stammlokal eine bevorzugte Behandlung erfahren, aber ich kann auch nichts dafür, wenn die Typen am Eingang mit meiner Fresse nichts anfangen können und mich – es war eh schon fast 21 Uhr – eine halbe Stunde auf den Tisch warten lassen, obwohl die Hütte maximal zu zwei Dritteln gefüllt war. Wahrscheinlich wäre mir ohne diese Zwangspause wurscht gewesen, dass die Steaks, die immerhin über fünfzig Euro kosten, nicht auf den Punkt, sondern very well-done gebraten waren, aber beim Warten war mir eingefallen, dass ich vor ein paar Jahren knapp nach der Eröffnung in die Charlottenburger Filiale Le Petit Royal eingeladen war, nämlich von einem sehr beliebten Grill Royal-Regular, der sich anschließend entschuldigte und die Zeche übernahm, weil er sich für das Chaos in der Küche und auf unseren Tellern so geschämt hatte.
Als Vorspeise hatte ich übrigens einen Hummersalat bestellt. Das zarte Fleisch des unglücklichen Tiers war zwischen Salatherzen versteckt und mit einer so fetten und aufdringlichen Sauce – sie sollte das Motiv des Caesar Salad aufnehmen – übergossen, dass es mir wahrscheinlich nicht aufgefallen wäre, wenn der Hummer durch Tofu ersetzt oder gleich ganz weggelassen worden wäre.
Sonst kann ich über nichts klagen. Unser Kellner am Tisch war souverän und lustig, die Fritten waren der Tagessieger, und die Weine waren anständig. Wir zahlten zu viert 450 Euro und hatten, als wir später der Spree entlang Richtung Friedrichstraße spazierten, etwas zu lachen. Das nächste Mal besuche ich das Grill Royal nur in Begleitung eines Stammgasts, den ich persönlich zu Verantwortung ziehen kann, wenn die Mahlzeit wieder an der Katastrophe schrammt. Freiwillige dürfen mir gerne Terminvorschläge schicken. —
Adressen
Lovis im Hotel Wilmina, wilmina.com
Crêplala, creplala.de
Bar Brass, barbrass.de
Funky Fisch, funky-fisch.de
Diener Tattersall, diener-berlin.de
Restaurant Tim Raue, tim-raue.com
Bar Freundschaft, istdeinbesterfreund.com
Chinarestaurant Hot Spot, restaurant-hotspot.de
Grill Royal, grillroyal.com