In den falschen Tropen

Freundschaftliche Tage in Meran. Plus ein historischer Anlauf durch Graubünden.

Text von Christian Seiler / Illustration von Markus Roost

Gerade, als ich wieder einmal sehr zufrieden mit meinem Dauerdiktum war, dass es überall am schönsten ist, kam mir Meran dazwischen. Ein Zufall führte mich in die Stadt, wenn es ein Zufall ist, dass man den Inhaber eines wundervollen Hotels in einem anderen wundervollen Hotel ganz woanders kennenlernt und außerdem von gewöhnlich gut informierten Personen dauernd ausgerichtet bekommt, dass du kein kompletter Mensch bist, wenn du nicht mindestens einmal im Leben im Ottmanngut abgestiegen bist.

Ich muss, sorry, ein bisschen ausholen. Denn bevor ich von Vorarlberg – das Treffen mit Martin Kirchlechner, dem Inhaber des Ottmanngut, fand im Hirschen in Schwarzenberg statt – nach Südtirol reisen konnte, verschlug es mich in den äußersten Osten der Schweiz, ins Engadin. In Müstair, nur ein paar Minuten von der italienischen Grenze entfernt, war ich in einem ziemlich abgefahrenen Haus zu Gast, in einem Haus, das eine so lange Geschichte der Gastfreundschaft erzählt, dass ich mich so jung fühlte wie schon lange nicht mehr.

Die Chasa Chalavaina ist ein mächtiger Bau auf der Plaz Grond, nur ein paar Schritte vom berühmten Benediktiner-kloster St. Johann entfernt, das Müstair immerhin in den Rang eines UNESCO-Weltkulturerbes gehoben hat. Ich finde ja, dass dem Chalavaina ein bisschen was von diesem Ruhm gebührt, aber ich greife vor. Das spirituelle Zentrum des Chalavaina ist die aus Zirbenholz gezimmerte Stube. Ich beneide alle, die das Erlebnis, diese Stube zu betreten, noch vor sich haben. Es ist, nur damit wir uns nicht falsch verstehen, keine spektakuläre Tischlerarbeit in dem Sinn, dass sich gestaltungswütige ­Virtuosen ihres Handwerks mit viel Dekor und Schrummschrumm hier ausgetobt hätten. Es besticht gerade das Einfache, Selbstverständliche, das den Charakter der Stube ausmacht, in der das Abend­essen und das Frühstück genossen werden (aber eher nicht zur selben Zeit, keine Angst). Jedes Brett sitzt an seinem Platz, die Decke ist durch große Quadrate ge­gliedert, und der schönste Tisch der Stube steht unter einem lässig gezimmerten ­Bogen, in dem sich allerlei Läden und Winkel verstecken. Spielkarten? Schnapsflaschen? Ich habe nicht gewagt, es herauszufinden.

Die Kanten der Tische sind von den Unterarmen vieler Generationen von Wirtshaussitzern abgerundet. Die Schönheit dieses Verschleißes inszenieren die Wirte mit schmalen handgewebten Stoffbahnen aus der nahen Weberei Tessanda. Ein paar freche, wahrscheinlich vom Rotwein befeuerte Kritzeleien haben der Holztäfelung Vergänglichkeiten eingeschrieben, und ich saß mit vor Zufriedenheit etwas dümmlichem Blick da, sog das Ambiente ganz selbstvergessen in mich auf, trank mein Bier von der Bieraria Tschlin und vergaß darüber sogar, die Speisekarte zu lesen, ein Fehler, der mir wirklich nicht oft passiert.

Ich halte es für durchaus wahrscheinlich, dass mich die überaus freundliche Kellnerin, eine Stammkraft aus dem nahen Südtirol, für, sagen wir, merkwürdig hielt. Sie musste mich daran erinnern, dass ich zum Essen gekommen war. Ich machte den schwachen Start wett, indem ich großzügig bestellte, eine Strategie, die sich als segensreich erwies, weil das Essen von Küchenchef Olivier Thialer hervorragend war, einfach, deftig und sehr gut abgeschmeckt. Allerdings warne ich davor, die Portionen zu unterschätzen. Ich musste am ersten Abend, nachdem ich zur Vorspeise den marinierten Saibling und als Hauptgericht die Capuns gegessen hatte, einen Spaziergang bis zur Staatsgrenze machen, um bereit für die Nachtruhe zu sein, und tränke ich Schnaps, ich hätte noch einen genommen. Allerdings muss ich zugeben, dass ich zum Dessert auch noch die Topfenknödel gegessen hatte.

Nun blickt das Chalavaina auf eine Tradition von nicht weniger als 770 Jahren zurück und gilt als mutmaßlich ältestes Hotel der Schweiz. Es bestand die akute Gefahr, dass es dieser Tage wie sein Nachbarhaus auf dem Plaz Grond, der Tschierv, leer stehen könnte. Jon Fasser, der langjährige Besitzer, führte das Haus noch im hohen Alter, aber die Nachfolge blieb ungeklärt. Daher bildete sich aus der Mitte der Gesellschaft eine Initiative, die es nicht hinnehmen wollte, dass das Chalavaina zusperrt. Seit Ende 2021 ist die Stiftung Chasa Chalavaina Eigentümerin des Hotels mit seinen 18 Zimmern, der unglaublichen Stube und der vom Ruß schwarz gefärbten Küche. Sie hat bei der nötigen Renovierung Sensibilität bewiesen, indem sie so wenig wie möglich veränderte, das jedoch mit historischem Verständnis und viel Geschmack (der durch eine Zusammenarbeit mit der ETH Zürich auch wissenschaftlich abgesichert wurde).

So entstand am historischen Ort keine mit Luxus vollgestopfte, den geschichtlichen Schein zele­brierende Hülle, sondern ein Haus, an dem man ablesen kann, was die Essenz von Herbergen war, ist und sein wird. Vom kleinen Einzelzimmer mit WC am Gang bis zu den historischen Gemächern des Pfarrers samt Terrasse mit Blick auf den Plaz Grond ist alles vorhanden, übrigens zu mehr als zugänglichen Preisen, aber das nur nebenbei. Aber wenn ihr es euch aussuchen wollt: Bezieht die Gemächer des Pfarrers, sie haben ein Alzerl mehr Klasse und Überschwang als die anderen Zimmer.

Am zweiten Abend aß ich übrigens Gnocchi mit einem fabelhaften Rehragout und trank einen Pinot noir aus der Bündner Herrschaft, und zwar am schönsten Tisch der Stube. Es war ein Erlebnis schwebender Zeitlosigkeit an einem Ort, wo die Zeit abgeschafft ist, wenigstens manchmal und wenigstens ein bisschen. Vom Münstertal fuhr ich durchs Vinschgau weiter nach Meran. Natürlich hatte ich Meran schon vorher gelegentlich besucht, aber diesmal schwebte ich mitten in den goldenen Herbst hinein, der in Meran so besonders ist, weil das außergewöhnlich milde Klima nicht nur die steilen Weinberge so fulminant einfärbt, sondern auch die botanischen Kontraste so hell beleuchtet. In den Gärten Merans wachsen nicht nur alle möglichen Obstbäume, sondern auch Pinien, Himalaya-Zedern, Korkeichen, Ölbäume, Eukalyptus, Bambusarten und Magnolien, Agaven, Aloen und Feigenkakteen. Mediterrane, ja, tropische Pflanzen zeigen sich Hand in Hand mit alpiner Flora.

Der schönste dieser Gärten ist der des Ottmannguts, meines Ziels. Hier strecken nicht nur die Pinien und Palmen ihre eleganten Kronen Richtung Himmel, hier wachsen unzählige Zitrusfrüchte und verströmen ihren betörenden Duft – so betörend, dass ich es tatsächlich übers Herz bringe, das depperte Wort „betörend“ in den Mund zu nehmen und sogar aufzuschreiben. Zwischen den Palmen stehen die Tische, an denen im Sommer das Frühstück serviert wird, und wenn man Glück hat, lässt sich eine der drei Schildkröten sehen, die hier wohnen. Eine heißt Helmut, die anderen beiden Namen habe ich vergessen.

An der Längsseite des Gartens befinden sich die Orangerie, die auch als Wintergarten dient, und der Frühstücksraum des Hotels, wo regelmäßig auch Abendessen und Veranstaltungen stattfinden. An der Breitseite die mächtige Eingangstür, wo mich Martin Kirchlechner willkommen heißt. Der ist, genau, der Mann, den ich im Hirschen kennengelernt habe und der das Haus seit einigen Jahren führt. Zuerst zeigt mir Martin den Frühstücksraum. Als ich den ersten Schritt hineinsetzte, hatte ich für den Bruchteil einer Sekunde eine Panik­attacke. Ich dachte, ich steige ins Leere und hatte zwölf Tausendstelsekunden Zeit, mich ernsthaft zu fürchten. Als mich Martin darauf hinwies, dass ich nicht erschrecken müsse, hatte ich schon selbst begriffen, dass hier nur eine Glasscheibe über dem Kellerabgrund lag. Danke für die Warnung, Puls 150.

Aber ich beruhigte mich schnell, denn Schönheit hat bekanntlich etwas Sedierendes. Und an Schönheit ist dieser Ort tatsächlich nicht arm. In der Ecke des Raums steht ein Flügel, an den Wänden sind Bücherregale und Bilder, in der Fensterlaibung ein Plattenspieler mit einer ganzen Reihe von Neuerscheinungen auf Vinyl, Schwerpunkt klassischer Jazz. „Du darfst“, antwortete Martin auf die Frage, ob auch Gäste das Gerät bedienen dürfen, worauf ich sofort ausprobierte, wie laut die Anlage sich aufdrehen lässt, um meinerseits Martin zu erschrecken. Er nahm es cool. Führte mich durch den Frühstücksraum, zeigte mir die Orangerie und erzählte mir von der Geschichte des Hauses. Erste urkundliche Erwähnung im Jahr 1290. Übernahme durch die Familie Kirchlechner 1850. Grundsätzliche Renovierung und Ausgestaltung zum Hotel in der heutigen Form 2010/11.

Ich ging durchs Haus und staunte, fast hätte ich gesagt: Ich war überwältigt. Das Ottmanngut ist das zweite Haus, das ich innerhalb weniger Tage kennenlerne, das mit sicherer Hand auf sich selbst zurückgeführt wurde, ohne der Versuchung zu erliegen, alle möglichen Spielarten modernen Luxus unters Dach zu stopfen. Das Ottmanngut hat keinen Spa, keine Sauna, keine Fernseher, keine Zimmertelefone, keine Fernbedienungen für die Fensterverdunklung, kein wie auch immer geartetes Chichi. Stattdessen bietet es schlichte Schönheit, historische Purezza, Geschmack, Atmosphäre und Herzensbildung. Ich seufzte zufrieden. „Brauchst du was zu trinken?“, fragte Martin besorgt. „Ja“, sagte ich. „Pinot nero.“

Dann redeten wir eben noch ein paar Stunden, und irgendwann zog ich mich in mein herrliches Zimmer ohne Telefon, ohne Minibar und ohne Fernseher zurück, und als ich unter der weißen Tuchent aufwachte, schaute ich durch mein Fenster in eine Szenerie, wie sie auch der große Henri Rousseau nicht schöner hätte malen können. Vor mir der Stamm und die Blätter einer Palme, auf denen das Sonnenlicht tanzte, und ich war so frisch, dass mir glatt diese Zeile eingefallen wäre: „… und trommelt auch der Regen in den Tropen Neuguineas die Mangoblätter wund …“ Aber das hatte ja schon André Heller für mich ­erledigt.

Ich ging frühstücken. Das Frühstück folgt wie alles im Ottmanngut einer eigenen Ordnung. Es wird in drei Gängen serviert, zuerst Brot, Marmelade – die Pfirsichmarmelade war herausragend – und Käse, dann ein süßer, dann ein herzhafter Gang. Satt blieb ich sitzen, pflückte mir das eine oder andere Buch aus der Hotelbibliothek, lernte zum Beispiel, das Meran jahrhundertelang die Hauptstadt von Tirol gewesen war (während Innsbruck diesen Titel erst seit 1849 trägt) und dachte ein bisschen über die Frage nach, ob es für uns Österreicher besser wäre, wenn Südtirol nicht Teil Italiens geworden wäre. Fazit: für uns vielleicht, für Süd­tirol sicher nicht. Dann wagte ich mich wieder an den Plattenspieler, legte ein Album von Kenny Burrell auf und genoss das Gefühl, zu Hause zu sein. Zu Hause auf Zeit, das ja, aber zu Hause.

Ich traf Freunde. Im Ottmanngut ist es eh schon leicht, Menschen zu treffen, die Freunde werden, aber ich meine Freunde, die schon vorher meine Freunde gewesen waren, zum Beispiel Don Alfonso, der seinerseits im Paznaun ein Hotel betreibt und dessen Sohn ein ungemein begabter und inzwischen hochdekorierter Koch ist, ich verrate nur so viel: Signature Dish ist Saibling mit Enzianschaum. Schon hatte mich Don Alfonso zum Essen eingeladen. Er bestand darauf, mir die Tiroler Küche vom Süden aus zu erklären, und das gelang ihm auch. Ich bekam ein vorbildlich mit dem Messer geschnittenes Beef Tatar, dann eine Suppe mit zauberhaft flaumigem Speckknödel, und weil Don Alfonso das Gefühl hatte, das könne unmöglich für eine ganze Mahlzeit reichen, gab es anschließend noch eine Schlachtplatte mit Ripperl, Blut- und Leberwurst und abschließend eine Kastanientorte.

Spät an diesem Abend zog ich mich auf mein Zimmer ohne Telefon, ohne Minibar und ohne Fernseher zurück, und für einen kurzen Moment, nämlich knapp, bevor ich einschlief, bedauerte ich, dass es kein Telefon gab, mit dem ich mich erkundigen könnte, wo in der Minibar der Schnaps versteckt ist. Am nächsten Tag zog ich meine mich kurierenden Runden durch die Kurstadt. Ging der Passer, dem Fluss, der Meran durchquert, entlang, schaute mir die Wandelhalle an, in der die schönsten Dörfer und Städte Südtirols künstlerisch verewigt sind, ging über die Postbrücke, um das Denkmal der Kaiserin Elisabeth zu besichtigen, wieder zurück zum Kurhaus, wo auf der Rückseite ein Delikatessengeschäft namens Pur auch ein paar Tische stehen hat, wo ich einen Kaffee trank, Hunger hatte ich noch keinen.

Martin hatte mich kulinarisch aufmunitioniert, ich wusste also, wo ich mittagessen würde. Es beruhigt mich, wenn ich schon am Vormittag weiß, wo ich mittags satt sein werde. Vorher stieg ich aber noch nach Obermais hinauf, wo sich gerade die Schönen und Reichen von Meran ansiedeln, und besuchte den Monocle Shop, den Tyler Brûlé, der Gründer des gleichnamigen Magazins, aufgesperrt hatte, als er selbst in Obermais wohnte (inzwischen ist er nach Zürich weitergezogen). Monocle Shops – und ich denke vor allem an den in Zürich – sind ja normalerweise Orte, wo es zu den ausgesucht schönen Waren auch Bonusportionen an Arroganz abzuholen gibt, aber hier ist das genau umgekehrt. Linda Egger, die Chefin des Ladens, verwickelte mich in ein derart freundschaftliches, ausuferndes und interessantes Gespräch, dass ich fast zu spät zu Mainardo gekommen wäre.

Eines muss ich voranschicken: In dieser Trattoria herrscht ein strenges Regiment. Das Paar, das ein paar Minuten nach mir, also kurz nach 14 Uhr, zur Tür herein drängte, bekam nichts mehr zu essen. Ich gerade noch, und das war ein großes Glück. Denn die heutige Vorspeise, die Scarole stufate, war eine echte Offenbarung. Es handelt sich dabei um ein neapolitanisches Gericht, für das Endivien mit Anchovis, Petersilie, Kapern, Bröseln, Rosinen und Pinienkernen ­geschmort werden. Im Mainardo nahmen sie statt Pinienkernen Walnusskerne und platzierten die Endivie auf einer frisch gebackenen Focaccia. Als ich den ersten Bissen nahm, hatte ich das bekannte Gefühl kulinarischen Taumels, wenn für einen Moment Ort, Zeit, Stimmung und Geschmack auf vollkommene Weise übereinstimmen.

„Irgendwas nicht in Ordnung?“ Die Kellnerin dachte, mir ginge es nicht gut, weil ich blöd grinsend vor mich hinstarrte, weil ich versuchte, all die wundervollen Schichten von Geschmack nachzuvoll-ziehen, die diesem supereinfachen Gericht innewohnen. „Im Gegenteil“, sagte ich. „Zu wenig?“, fragte sie entgeistert, weil sie mich offenbar nicht verstand – und verschwand. Ich hatte also zwei Portionen Scarole stufate gegessen, als die Pasta kam, eine goldgelbe Carbonara, die wirklich gut, aber für mich nicht mehr zu bewältigen war. Als ich bei der Hälfte aufgab, baute sich die Chefin vor mir auf, klein, aber energisch, die Arme angriffslustig auf die Hüften gestützt.

„Ich hab es gleich gesehen“, sagte sie. „Was?“, fragte ich verunsichert. „Dass du nicht aufessen wirst.“ Ich nahm’s als Kompliment und musste mit ihr darum kämpfen, die nicht vollständig aufgezehrten Spaghetti bezahlen zu dürfen. Als ich später an der Flusspromenade in einem Café namens Darling saß, traf ich zum dritten Mal an diesem Tag auf Martin. „Das ist so“, sagte er, „in Meran trifft man sich zwangsläufig“ – diesmal in Begleitung von Ethel Hoon und Jakob Zeller, die gerade erst vom Arlberg nach Meran übersiedelt waren.

Wir tranken Kaffee und Limonade und erfuhren, dass das Paar, das bis zum September das spektakuläre Restaurant Klösterle in Lech geführt hatte, ein Jahr in Meran Auszeit macht und dann in Eppan ein neues Restaurant eröffnen wird. In der Zwischenzeit lancieren Jakob und Ethel mit amerikanischen Partnern eine Hot Sauce namens „Stuzzi“, ich bekam ein Probefläschchen und kann nur sagen: Respekt, hier ist sich endlich einmal der Spagat zwischen Schärfe und Geschmack nicht zugunsten eines eindrucksvollen Scoville-Werts ausgegangen. Abends erholte ich mich mit einem Fläschchen Pinot nero von Lageder und der Gitarre von Kenny Burrell im Ottmanngut.

Am nächsten Tag wanderte ich von Töll, einem Dörfchen an der Straße zum Reschenpass, nach Meran hinunter. Auf dem Algunder Waalweg, einem schmalen Wanderweg, der entlang alter Bewässerungskanäle führt, ging ich durch Weinberge und Apfelplantagen, an kleinen Verkaufsstellen vorbei, wo man Obst und Saft kaufen konnte, bestaunte nicht nur die alpinen Palmen, sondern auch Agaven, Kaki- und Kiwibäume. Über die Serpentinen des Tappeinerwegs stieg ich ins Stadtzentrum ab, weil ich natürlich noch einmal bei Mainardo Scarole stufate essen wollte, aber Ihr ahnt es bereits: Es war 14.01 Uhr, als ich schweißnass an der Eingangstür ankam, und während das Lokal noch brechend voll, also zweifellos in Betrieb war, hatte die Küche bereits die Schotten dicht ­gemacht. Ich weinte ein paar bittere Tränen, schickte mich dann aber in mein Schicksal. Immerhin, dachte ich mir, würde ich beim Abendessen nicht bereuen müssen, zu viel mittaggegessen zu haben.

Martin hatte mir für den Abend das Restaurant Meteo ans Herz gelegt, und das war ein ziemlich guter Tipp. Er hatte mir auch kryptisch mitgeteilt, dass die Chefin „eine Persönlichkeit“ sei, sich aber ausgeschwiegen, als ich ihn um Präzisierung bat. Um hier keinen Cliffhanger zu produzieren: Agata Erlacher weiß einfach ziemlich genau, was gut ist, und dieses Wissen gibt sie ungefiltert an ihre Gäste weiter. So kam ich unter anderem in den Genuss einer kleinen Portion hausgemachter Tagliatelle mit 24-Stunden-Ragù, einer Fleischsauce, die mindestens 24 Stunden auf dem Herd steht und deren Geschmack, um endlich ein bisschen pathetisch zu werden, wirklich vollkommen – nein, nicht betörend – ist. Nachher kam ein Bein vom Bio-Huhn, mit Salzzitronen geschmort, auch das war ganz exquisit, und nur das Dessert, das Schokolade-Sablés konstruktiv mit Zitrusgeschmäckern kombinierte, fiel in die Abteilung Hyperkreativität. Die Weine, die Agata zu den Gerichten kombinierte, waren ungewöhnlich, aber köstlich; und auf den Tellern meiner Freunde, die ich aus dem Ottmanngut mit­gebracht hatte, sah ich auch nur Erfreuliches, geschmorte Paprika, scharfen Karfiol, Pasta mit Tomaten und Ziegenkäse.

Als wir später durch die Stadt spazierten, die Lauben begutachteten und nicht ganz sicher waren, ob wir nicht vielleicht doch noch auf ein letztes Achtel irgendwo einkehren würden, kamen wir schließlich in der Via Verdi an, wo vor einem Klostergebäude ein Bildstock steht. Der ist dem Andenken des (schätzungsweise) Urururgroß­vaters von Martin Kirchlechner gewidmet, der im Jahr 1866 diese Stelle gewählt hatte, um die Himmelfahrt anzutreten. Wir saßen dann noch ein bisschen im kühlen Garten des Ottmannguts, nahmen noch einen Schluck zum Blue-Note-Sound des Plattenspielers – und ja, natürlich erschrak ich wieder über das Loch im Boden. Aber nicht sehr.

Später auf meinem Zimmer notierte ich, was ich aus gelebter Praxis über diesen fabelhaften Ort zu sagen habe: „Es ist ein Hotel, das man fast nicht verlassen möchte, weil es so ma­gnetisch zum Verweilen einlädt. Inhaber und Personal sind von persönlich gestrickter Freundlichkeit. Die Soft Power des Ottmannguts ist überragend, aber das soll die Schönheit des Hauses nicht wegreden. Es atmet etwas Aristokratisches, aber ohne jede Arroganz, und trifft im Spiel zwischen Vergangenheit und Gegenwart genau den richtigen Ton.“ Dann schlafe ich ein, um im Gemälde von Henri Rousseau frisch zu erwachen. —

Adressen

Chasa Chalavaina
www.hotelchalavaina.ch

Ottmanngut
ottmanngut.it

Pur
pursuedtirol.com

Mainardo
Meinhardstraße 19 39012 Meran
T +39/345/157 54 12

Café Darling
cafedarling.business.site

Meteo
cometometeobaby.it

Chasa Chalavaina: 770 Jahre Geschichte und Hoteltradition, dazu sehr heutige Gerichte von Oliver Thialer (u.)
© Rufino Emmenegger
© Mayk Wendt
© Mayk Wendt
Im Garten des Ottmannguts gedeihen alpine und mediterrane neben tropischen Pflanzen. Unzählige Zi­trusbäume duften betörend, und drei Schildkröten leben auch hier.
© Rene Riller
Das Ottmanngut: pittoreske Naturlage und ein Frühstück (u.), das in drei Gängen serviert und idealerweise im Garten eingenommen wird – ­unter Palmen
© Katharina Maria Zimmermann
© Cornelius Klimt
Meran: eine Stadtansicht mit Fluss, Alpen und Palmen, in goldenes Herbstlicht getaucht
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