Kreuzfahrt ins Glück

Oder: Dass es sich lohnt, Vorurteile über Bord zu werfen

Text von Eva Rossmann · Illustration von Eva Vasari

Fünftausend Menschen, die täglich im Durchschnitt drei Mal gut gefüttert werden sollen. Ich habe vor, diesen Durchschnitt zu senken. Wissend, dass andere zwischen den Mahlzeiten beim Kuchenbuffet zuschlagen werden. Ich bin auf einem Kreuzfahrtschiff. Auf einem wirklich großen. Der Costa Diadema. Übrigens zum ersten Mal in meinem Leben. Weil an sich bin ich für das Individuelle. Auch, was Reisen und ganz besonders, was Essen angeht. Man kann beinahe sagen, ich bin diesbezüglich ein Snob. Kein noch so gut geführtes Hotel, in dem ich Halbpension ­nehme. Sicher gibt es in der Nähe ein kleines Lokal mit regionaler Küche. Muss nicht auf Hauben- oder Sterneniveau sein, aber authentisch.

Ich werde auf dem Schiff frühstücken. Ein paar Bissen, um für die Landausflüge gestärkt zu sein. Deswegen sind wir hier. Um einige, auch kulinarisch, hochinteressante Städte des westlichen Mittelmeers zu sehen. Oder wiederzusehen. Das Schiff ist ein schwimmendes Hotel, und genau so werde ich es behandeln.

Nach der „Einschiffung“ und der entspannt individuellen Begrüßung durch die deutschsprachige Betreuerin (wir waren in Civitavecchia bloß zu sechst aus deutschen Ländern zugestiegen), ein Rundgang durch das beachtlich bunte, glitzernde Riesenschiff. Hauptbars und Themenbars. Wir werden später erkunden, was das bedeutet. Hauptrestaurants und ein paar kleinere andere, bei denen man aufzahlen muss. Ich habe den Ehrgeiz, für Gerda und Joschi, beste Freunde und Winzer, Ernest (den Mann, mit dem ich nicht nur mein Leben, sondern auch den Zugang zur Gastronomie teile – einmal abgesehen davon, dass er leidenschaftlicher Gast ist und nie in die Küche möchte) und mich einen „schönen Tisch“ zu erbeuten. Ich ­kenne sie aus unserer kleinen, hier kommt sie mir winzig klein vor, Alten Schule: die Gäste, die den „schönen Tisch“ wollen. Meistens Menschen, denen dann ohnehin keiner schön genug ist, egal, ob er in einer Ecke (eben, der ist in einer Ecke!) oder schön zentral (etwas ruhiger wäre schön gewesen!), am Fenster (hier zieht es etwas!) oder bei der Innenwand (wir hätten gerne aufs Weinviertel geschaut) steht. Ich habe für das Vierer-Deck, ganz hinten, pardon, das heißt Heck, vorreserviert. Sie haben uns in der Mitte, am Zehner-Deck, dort, wo auch das Frühstücksbuffet angesiedelt ist, eingeteilt. Nachdrückliche Freundlichkeit. Und wir bekommen doch einen auf Deck vier. In einem kleineren Saal und eben beim Heck, damit man rausschauen kann.

Nur dass man am Abend bekanntlich nicht viel sieht, wenn es draußen finster und herinnen hell ist. Und dass wir nicht ganz hinten, sondern ­irgendwo in der dritten Reihe sitzen. Wie die meisten ­anderen auch. Weil der kleinste der Hauptrestaurant­säle eben immer noch Platz für geschätzte fünf-, sechshundert Leute hat. Ach ja, gegessen haben wir auch. Gar nicht übel. Pro Gang drei Speisen zum Auswählen, italienische Küche. Die Pasta war tatsächlich al dente. Sogar ein bisschen zu viel, aber hier geht’s ja nicht um Gastro-Kritik, sondern um einen kulinarischen Erlebnisbericht. Dass die Kellner die Gerichte packenweise auf Tellern mit brauner Plastikcloche herankarren, etwas, das mich verdammt an Krankenhausessen erinnert, hat mit den Entfernungen zur gigantischen Küche zu tun. Ehrlich gestanden will ich gar nicht wissen, aus welchen Riesenbehältern da geschöpft und aufgelegt wird. Etwas später werde ich erfahren, dass täglich dreißigtausend Teller ausgegeben werden. Das Servierpersonal stammt vor allem aus Fernost. Freundlich, eilig, und von der Hoffnung getragen, dass auch diese Schicht vorbeigeht. Ich habe in einer ­Doku gesehen, wie schlecht sie bezahlt werden, nicht nur bei der Costa, sondern auch bei anderen Linien. Die ­übrigens ohnehin nur mehr ganz ­wenigen internationalen Konzernen gehören. Mein Küchenlehrmeister Buchinger ist in den Siebzigerjahren als Schiffskoch durch die ­Karibik geschippert, damals gut bezahlt, dafür gab’s kaum freie Zeit, wenngleich genug Abenteuer. Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls schaffen wir es an diesem Abend nur mit Müh und Not, ein zweites Glas Wein zu bestellen. Egal. Unsere kulinarischen Höhepunkte sollen ­ohnehin auf festem Boden ruhen. Außerdem: Weine gibt es in der Enoteca nicht nur genug, sondern auch in erstaunlicher Auswahl. Und mit professioneller Beratung.

Eine Nacht mit sanftem Geschaukel auf See, dem Frühstück nähern wir uns langsam. Das heißt, dann, wenn die meisten längst in Busse verladen auf ihren organisierten Landtouren unterwegs sind. Ein paar hundert Menschen sind freilich trotzdem noch da. – Kann es sein, es gibt an Bord mehr Individualisten wie uns?

Das Büffet ist vielfältigst. Ununterbrochen wird nachgefüllt, und weil es keine Riesenplatten sind, sieht es auch appetitlich aus. Eine logistische Meisterleistung, da ich als Gast und nicht als Köchin hier bin, gönne ich mir den Luxus, nicht weiter darüber nachzudenken. Die lange Reihe an süßen Verführungen sieht so gut aus, dass ich zumindest ein Croissant al burro nehme. Es ist klein und duftig. Es ist … das beste Croissant, das ich je gegessen habe. Erstaunt sehe ich auf einen Hafen (im Zuge der Reise werde ich drauf kommen, dass – fast – alle Häfen ähnlich aussehen: Fähren, Piers, ­Verladekräne, im Hintergrund ein mehr oder weniger zugebauter Hügel) und auf einen Tischaufsteller: „Taste don’t waste.“ In sechs Sprachen. Darauf wird freundlich erklärt, dass man die „traditionsreiche italienische Küche“ wertschätze und deswegen „vermeiden wir Verschwendung und geben dem Essen die Bedeutung, die es verdient.“ Jeder könne dazu beitragen, „indem Sie beim Genuss unserer Spezialitäten einfach die Ihrem Appetit entsprechenden Mengen wählen“. Und darüber hinaus: „Kleine tägliche Gewohnheiten können ­eine große Veränderung herbeiführen“, es gehe um den „Schutz des Gleich­gewichts“, deswegen unterstütze man auch die „Gärten in Afrika durch die Slow-Food-Stiftung“.

Natürlich können Idioten nicht lesen. Immer wieder sehe ich verlassene Teller, von denen noch eine ganze Familie satt werden hätte können. Aber ich mag die Geste der Costa, bei all den ökologischen Problemen von Kreuzfahrten, bei all den schönen Worten, die es immer zu hinterfragen gilt. Essen ist mehr als mehr, mehr, immer noch mehr.

In Marseille waren wir dann am Sonntag. Natürlich wollte ich Bouillabaisse. Nur dass in Marseille am Sonntag alles geschlossen hat. Abgesehen von den Brasserien, die dann gesteckt voll mit einheimischen Familien sind. Und vom Fischmarkt direkt am Hafen. Warum nur darf ich hier nicht einkaufen? Und selbst kochen? Nach dem Rezept des Kochs, bei dem ich ­meine allererste Bouillabaisse gegessen habe? Ich war neunzehn und auf Ökista-Urlaub in Südfrankreich, er war zu alt, um weiter als Schiffskoch um die Welt zu reisen. Einen Tag später war ich in seiner Küche. Er ­konnte weder Deutsch noch Englisch, ich bloß einige Brocken Französisch. Aber wir haben uns verstanden. Eine echte Bouillabaisse, hat er mir erklärt, ist ein kompliziertes und genau vorgeschriebenes Kunstwerk. Und so soll es auch sein. Sie vereint das Beste aus dem Meer. Es gäbe freilich auch noch ein anderes Rezept, eines, nach dem die Fischer von jeher gekocht haben: Man nimmt dafür die Fische und Meeresfrüchte, die gerade da sind. Und gibt immer noch ein, zwei Fischköpfe extra dazu. Weil die geben den ­Geschmack und haben das beste Fleisch.

Dafür gönnen wir uns am Abend am Schiff das Samsara Restaurant. Die kleine feine Karte bietet italienisch-pazifische ­Fusion. Auch in der Größe entspricht das Lokal solchen, in denen wir freiwillig essen. Marinierte ­Jakobsmuscheln, Crab Cake, die Fischsuppe ist nicht aus Marseille, sondern stammt dem Namen nach aus Hawaii, ist aber trotzdem vom Feinsten. Ich habe schon lange, festes Land miteingeschlossen, nicht mehr so gut gegessen. Und übrigens: Hier haben auch die Kellner Zeit, sie sind gut ausgebildet und schenken mit Freude Wein nach. Ein wahrlich beschwingter Abend, und das lag nicht am Seegang.

Vor Barcelona habe ich dann bloß ein einziges unwiderstehliches Croissant gegessen. Weil ­allein an der Prachtstraße Las Ramblas soll es unzählige Lokale mit Tapas geben. Gemeinsam mit ­vielen, vielen Touristen und Menschen, die man zumindest für Einheimische halten könnte, wandern wir also von der Kolumbus-Statue im Hafen hinauf Richtung Placa de Catalunya. Es gibt neben Blumenständen, falschen ­Luxustaschen, Barcelona-Magneten und einigem mehr tatsächlich zahllose Lokale. Auf den vordersten ­Tischen stehen Liter- und Zweiliterkrüge mit bunten Getränken und Riesenstrohhalmen. Ich will gar nicht wissen, was da drin ist. Sangria, nehme ich an, Caipirinha, ver­mute ich, und anderes giftiges Zeug, mit dem sich Durch­reisende einen nachdrücklichen Rausch ­holen können. Ich will auch nicht ­wissen, wie die dort angepriesenen Tapas schmecken. ­Eigentlich hatte ich ohnehin vor, in die Seitengässchen der Altstadt ab­zuzweigen. Dort warten die kulinarischen Wunder.

Und dort gibt es den berühmtesten Markt von Barcelona: Mercat de la Boqueria. Dass man ihm nahekommt, erkennt man an den Menschenmassen, die sich Richtung Eingang wälzen. Offenbar wissen auch ein paar andere Bescheid. Dafür sind meine Mitreisenden in der nächsten Stunde arm. Ich gehe mit offenem Mund von Stand zu Stand, da wunderbare ­Innereien, Schafköpfe, dort Gewürze, bunt und duftend, in der Mitte Fische, Meeresfrüchte, Austern, hier werden Muscheln, Garnelen, Tintenfische gegrillt, dicht an dicht kann man sie mit einem Glas Wein verkosten, dort gibt es Spießchen mit Pimentos und Würsten. ­Gerdas Einwurf, hier sehe es ein wenig so aus wie am Naschmarkt, kann mich nicht erreichen. Das da ist echt. Besser. Beschwingt ziehe ich weiter, auch wenn in den Seitengassen außer Schatten und Handyshops nicht viel ist, am Hauptplatz gibt es Sonne. Und tatsächlich ein ­Lokal, in dem wir dann Tapas essen. Richtig gut und vielfältig, die gebackenen Tintenfische schon fast magisch knusprig, die Aioli über den Patates selbstgemacht und knoblauchduftend, der Schinken spanischen Legenden würdig.

Ach, und die scharfe Biowurst von Schwarzen Schweinen, die mich in Palma de Mallorca die allzu vielen deutschen Laute rundum vergessen ließ, die Cannoli mit kandierten Orangen in Palermo, die erstaunliche Vorführung „Geheimnisse des Küchenchefs“ auf dem Schiff, bei dem dieser mit seiner Brigade „Mezze Maniche Barilla con Radicchio Trevisano e Taleggio“ zubereitet hat. Zum Ärgernis der Japaner, die sich vor mich gedrängt hatten, hat die Moderatorin bloß italienisch, spanisch, französisch und hin und wieder deutsch gesprochen, und das ohne Pause und kreativ auch mitten im Satz abwechselnd.

Ich hab so einiges gelernt auf dieser Tour. Es lohnt sich, Gewohnheiten und Vorurteile über Bord zu werfen. Es entspannt, nicht immer alles wichtig zu nehmen. Und: Europa ist voller Überraschungen. Auch kulinarisch.

Eva Rossmann war Journalistin, ehe sie mit den Mira-Valensky-Krimis zur Bestseller­autorin wurde. Daneben arbeitet sie als Köchin in Manfred Buchingers Gasthaus Zur Alten Schule.