Lima. Im Zentrum der Vielfalt

Die Küche Perus ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Evolution. Derzeit zählen die Restaurants in Lima zu den meistgefeierten der Welt.

Foto von Mérito
Text von Georges Desrues

Wer außerhalb des südlichen Sommers und ohne Vorwarnung nach Lima reist, wird sich wundern, wie grau und feucht der Himmel hier die meiste Zeit ist. Schuld an Nebel und Nieselregen trägt die Lage der peruanischen Hauptstadt an der Pazifikküste und am kalten Humboldtstrom, der hier auf die heiße Luft aus der Wüste trifft, die sich östlich der Stadt erstreckt. Womit das düstere Küstenwetter auch daran erinnert, dass Peru landschaftlich noch viel mehr zu bieten hat als die dramatischen Anden-Panoramen, die einem bei Erwähnung des Landesnamens durch den Kopf gehen.

„Es gibt nicht nur ein einziges Peru, sondern gleich mehrere – und noch viel mehr, wenn wir von Lebensmitteln und Küchenstilen sprechen“, sagt Virgilio Martínez. Ein Land der Vielfalt sei das seine, schwärmt der 45-jährige Küchenchef, der Vielfalt der Pflanzen und Tiere, der Geschmäcker und Aromen, aber auch der Kulturen und Essgewohnheiten. „Man kann das Land in drei Überregionen gliedern, die unterschiedlicher nicht sein könnten und selbst jeweils in etliche Subregionen unterteilbar sind“, fährt Martínez fort. Die drei großen Landschaftszonen sind die Pazifikküste im Westen, die Gebirgskette der Anden im Zentrum und der Regenwald im Osten. Jede mit ihren ganz eigenen Klimata, ihrer eigenen Fauna und Flora.

Central, The World’s Nr. 1
Lebensmittel und Einflüsse aus allen Teilen des Landes fließen in der Hauptstadt Lima zusammen, die dank des sehr jugendlich wirkenden Martínez und einer ganzen Heerschar weiterer talentierter Köche heute zu Hotspots der internationalen Kulinarikszene zählt. Letzten Sommer wurde Martínez’ Restaurant Central im The World’s 50 Best Restaurants-Ranking zur Nummer eins der Welt gekürt. Gelegen ist es in einem freundlichen Viertel namens Barranco, das in gewisser Weise als Hub der lokalen Gastroszene gelten kann. Das Lokal betritt man durch einen üppigen Garten und gelangt zu einem Stehtisch, auf dem einige der mehrheitlich exotischen, fallweise nie gesehenen Zutaten präsentiert und erklärt werden, die Martínez aus allen Teilen des Landes bezieht.

Darunter Flusskrebse, Fische sowie seltene Pflanzen und Gewürze aus den Regen- und Nebelwäldern des Amazonasgebiets; bizarr geformte bunte Kartoffelsorten sowie Fleisch von Lamas und Alpakas aus dem Hochland der Anden; dann wieder imposante Seeigel und sonstiges exotisches Meeresgetier aus dem Pazifischen Ozean wie auch tropische Früchte von dessen Küste. Zutaten, die vom Küchenchef und seinem versierten Souschef, dem Koreaner Sang Jeong, mit viel Können und Präzision zube­reitet, kreativ kombiniert und mit einem ausgeprägtem Gefühl für Ästhetik angerichtet werden.

Auf der Menükarte wird die jeweilige Seehöhe der Hauptzutat eines jedes Gerichts angegeben. Serviert wird auf Tischen, die mit spektakulär gestalteten Tischplatten bestückt sind. Für zusätzliches Spektakel sorgt die Tischdekoration, die im Central nahezu bei jedem Gang wechselt. So werden die allermeisten Speisen hier von eindrucksvollen Objekten begleitet, die zwar auf den Tisch gestellt werden, nicht aber zum Verzehr gedacht sind. Im Fall eines Gerichts aus verschiedenen Algenarten, über die getrockneter Oktopus gehobelt wurde, ist das zum Beispiel der imposante ganze Oktopus selbst, der vor die Schüssel mit dem optisch nicht sonderlich eindrucksvollen Algengericht platziert wird. Ein Filet von einem Amazonas-Fisch namens Pacu indessen wird ­neben gleich drei gen Himmel gerichteten Fischköpfen angerichtet. Nach Auskunft des Servicepersonals dienen die Gegenstände dazu, dem Gast die exotischen Zutaten besser vor Augen zu führen. Dass eine derartige Tischdekoration sich auch auf Instagram gut macht, ist vermutlich eine willkommene Nebenerscheinung. Das gilt auch für den Nachspeisengang, der aus mehreren Bestandteilen der Kakaofrucht besteht und für den die unterschiedlichen Teller, Schälchen und Näpfe so präzise über die unebene und vielfärbige Tischplatte verteilt werden, dass diese, von oben betrachtet, wie ein abstraktes Gemälde wirken.

Kjolle, die tolle Alternative
Im selben Gebäude wie das Central, einem ehemaligen Kulturzentrum, ist auch das Restaurant Kjolle untergebracht. Geleitet wird es von Martínez’ Ehefrau Pía León. Hier ist die Atmosphäre entspannter, das Preisniveau niedriger, die Küche wirkt intuitiver und spontaner als im Central. Als Bistro oder Zweitrestaurant kann man das Kjolle dennoch nicht bezeichnen. Dafür ist Leóns Küche zu persönlichkeitsgeprägt, ihr Stil viel zu eigenständig. Wenngleich sich auch hier akribisch gesourcte Zutaten und Aromen aus allen Ecken des Landes zu einem kulinarischen Erlebnis der exotischen und besonderen Art vermischen. Wie etwa im Fall einer Ceviche, also eines typischen Gerichts von der Pazifikküste, das León mit Pakay aufmotzt, einer intensiv-aromatischen Frucht, die ihrerseits aus dem Amazonas stammt.

Ceviche, aber richtig
Womit wir beim peruanischen Nationalgericht angelangt sind. Ceviche (bisweilen auch Cebiche geschrieben) bekommt man in Lima nicht nur in den darauf spezialisierten Cevicherias, sondern in so gut wie jedem Lokal. Unter den Cevicherias ist die vermutlich spektakulärste das La Mar („Die See“), das zum Imperium des Starkochs Gastón Acurio – gewissermaßen der Übervater der peruanischen ­Fine-Dining-Szene – gehört. Für den Gast aus Übersee ist der Besuch des La Mar ein regelrechtes Erlebnis. Die Stimmung ist ausgelassen, der Lärmpegel beeindruckend, der Service gleichermaßen flink wie aufmerksam. Man sitzt an Tischen oder an einem langen Tresen, auf dem sich Berge von weitgehend unbekanntem Meerestier türmen. Darunter kindskopfgroße Seeigel, breitmäulige sogenannte Froschfische, pechschwarze Mangroven-Venusmuscheln, gewaltige Seezungen oder scharfzahnige Drachenköpfe mit Glupschaugen, die den Gast von ihrem Bett aus Crushed Ice zu betrachten scheinen.

Das alles kann, ähnlich wie in einer Pizzeria, nach Belieben kombiniert und als Ceviche geordert werden. Woraufhin das Team hinter dem Tresen das Fleisch des rohen Meeresgetiers einige Minuten in einer Marinade namens Leche de tigre (Tigermilch) aus Limette, Zwiebeln und Chili ziehen lässt und serviert. „In früheren Zeiten wurden Fisch und Meeresfrüchte noch viel länger mariniert. Aber heutzutage verkürzt man den Prozess, um dem Fisch mehr ­Eigengeschmack zu belassen“, erklärt Küchenchef Javier Vazquez, ein schwerer junger Mann mit Bart und umgedrehter Baseballkappe, der lokale Meeresfrüchte kennt und erklären kann wie kein Zweiter.

Wieso das La Mar, so wie nahezu alle Cevicherias, bereits am Nachmittag schließt, ist nicht ganz durchschaubar – zumal das Lokal dann noch steckvoll ist. Als Grund wird meistens die Frische des Fisches angegeben, die abends nicht mehr gewährleistet werden könne. Was angesichts moderner Kühlmethoden dann doch etwas abenteuerlich erscheint. Gleich gegenüber des La Mar bietet ein gleichermaßen einfaches wie mythisches Lokal eine weitere Spezialität an, die beinahe im selben Grad als Nationalgericht gilt wie die Ceviche. Bei Tía („Tante“) Grimanesa – da sind sich viele Limeños einig – gibt’s die besten Anticuchos der Stadt. Dabei handelt es sich um marinierte Rinderherzen, die auf metallene Spieße gesteckt und über Holzkohlen gegrillt werden. Offenbar sind sowohl Gericht als auch Name vorkolumbianischen Ursprungs. Allerdings wurden bei den Inkas, mangels Rinder, wohl Lama- oder ­Alpakaherzen durchspießt.

Die Japan-Connection
Ein weiteres Grundelement der peruanischen Küchenvielfalt ist der bedeutende Einfluss Japans. Zurückzuführen ist er zum einen auf die alten Handelsrouten, die die spanischen Kolonien dies- und jenseits des Pazifiks verbanden. Aber auch auf eine Einwanderungswelle gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Berühmtester Vertreter dieses genuin peruanischen Stils ist Mitsuharu „Micha“ Tsumura, ein Kind des Landes mit japanischen Vorfahren, das sich in seinem Restaurant Maido wie kein anderer darauf versteht, die zwei Welten zu verbinden. Wie etwa mit Gyoza vom Meerschweinchen, Nigiri aus Jakobsmuscheln mit schwarzem Chili oder mit Reis mit Seeigel, den er mit Körnern von Jungmais und mit Avocadocreme garniert. Für diese wirklich sehr gelungene Nikkei-Küche wurde das Maido zwei Jahre in Folge zum besten Restaurant im Ranking Latin America’s 50 Best Restaurants gekürt.

Eine weitere Einwanderungswelle brachte in den letzten Jahren Millionen Venezolaner aller sozialer Schichten ins Land. Einer von ihnen ist Juan Luis Martínez, der 2018 im hippen Viertel Barranco sein genauso winziges wie stark angesagtes Lokal Mérito eröffnete. Dort sitzt man in cool designtem Ambiente aus Holz, Stein und Sichtbeton an einem der nur vier Tische oder aber am Küchentresen und sieht dem Küchenchef und seinem jungen Team dabei zu, wie sie peruanische mit venezolanischer Küche verbinden. Wie etwa im Fall von Gerichten wie glaciertem Schweinebauch mit Arepa (einem venezolanischen Maisfladen) oder gegrilltem Maiskolben mit gelbem Chili und Käse aus den Llanos (dem venezolanischen Weideland). Und somit die enorme Vielfalt Perus zusätzlich mit ­Elementen aus dem Karibik- und Orinoco-Land Venezuela bereichern. —

WAS MAN ISST

Ceviche
Perus bedeutendster Beitrag zur Weltküche: Roher Fisch wird in Leche de tigre mariniert und mit Zwiebeln, Chili und sonstigen Gemüsen serviert.

Leche de tigre
Marinade der Ceviche, in der Regel bestehend aus Limettensaft, Fischfond, Chili, Zwiebel und Koriander

Tiradito
Roher Fisch wird – im Unterschied zur Ceviche – nicht ­mariniert, sondern erst vor dem Servieren mit Sauce (wie etwa Leche de tigre) übergossen.

Nikkei-Küche
Fusion aus peruanischer und japanischer Küche

Chifa
Fusion aus chinesischer und peruanischer Küche

Causa
Ziemlich allgegenwärtiges Gericht, das aus zwei Schichten Erdäpfelpüree besteht und mit Shrimpscocktail, Thunfisch, Hühner- oder sonstigem Fleisch gefüllt und aufwendig dekoriert wird

Ají Amarillo
Trotz seines Namens („Gelber Chili“) eher orangefarbener Chili und wohl essenziellste Zutat der peruanischen Küche

Rocoto
Meistens knallroter und stets rundlicher Chili, der gerne gefüllt wird, dabei tückischerweise wie ein Paprika aussieht, aber bedeutend schärfer ist

Anticucho
Pikant marinierte Ochsenherzen, die zuerst romantisch durchspießt und ­danach über Holzkohlen gegrillt werden

Cuy
Meerschweinchen. Wird traditionell einfach knusprig gebraten, findet sich aber zunehmend auch kreativ neu interpretiert

WO MAN ISST

Central
Diesjährige Nummer eins auf der Liste der „50 besten Restaurants der Welt“. Küchenchef Virgilio Martínez überzeugt mit exotischen Zutaten, präzisen Garzeiten, kreativen Kombinationen und spektakulären Präsentationen. Ein eindrucksvolles Fine-Dining-Erlebnis in Form einer Reise durch die landschaftliche, kulturelle und kulturlandschaftliche Vielfalt Perus.
centralrestaurante.com.pe/default.html

Kjolle
Von Küchenchefin Pía León geführtes Restaurant mit sanfteren Preisen und gelösterer Atmosphäre, aber weitest-gehend gleichwertiger Qualität wie das Central ihres Ehemannes Virgilio Martínez.
kjolle.com/default.html

Astrid y Gaston
Ursprungsort des peruanischen Fine-­Dining-Wunders, das der Küchenchef und Nationalheld Gastón Acurio gemeinsam mit seiner Frau, der Patissière Astrid Gutsche, vor bald 30 Jahren eröffnete.
astridygaston.com

Mayta
Fine-Dining-Restaurant mit eindrucks-vollem, sehr üppigem Dekor und genauso üppig präsentierter, ambitionierter Küche, die auf peruanischen Zutaten basiert.
maytalima.com

Merito
Winziges und toll designtes Restaurant des begabten Venezolaners Juan Luis Martínez, untergebracht in einem Kolonialgebäude im Ausgehviertel Barranco.
meritorestaurante.com

Maido
Hochburg der sogenannten Nikkei-­Küche, in der peruanische mit ­japanischen Einflüssen fusionieren.
maido.pe

Cebicheria La Mar
Spektakuläres Fischrestaurant Gastón Acurios mit Unmengen an exotischen Meerestieren und ausgelassener Stimmung. Nur mittags geöffnet.
lamarcebicheria.com/es/Lima

Juanito de Barranco
Historische Bar im Ausgehviertel Barranco und guter Ort für Pisco Sour.
facebook.com/eljuanitodebarranco

Canta Rana
Alteingesessenes Gasthaus und eines der besten für traditionelle peruanische Küche.Genova 101, Barranco 15063T +51/923 84 10 16

Bar Cordano
Denkmalgeschützes Café-Restaurant im zentralen Regierungsviertel.Jr. Áncash 202, Lima 15001T +51/14 26 00 72

Museo Larco
Café-RestaurantGepflegtes Essen im bezaubernden Park des mehr als sehenswerten archäologischen Museo Larco.
cafe.museolarco.org

Virgilio Martínez, seine Frau Pía León, sein Souschef Sang Jeong und Mitarbeiter im Eingang des Central
© Daniel Silva
Aufwendig inszenierte Gerichte aus exotischen Zutaten im Central, dem derzeit „besten Restaurant der Welt“
© Gustavo Vivanco
Die ständig gut besuchte wie gut sortierte Cebicheria La Mar von Gastón Acurio.
© Georges Desrues
Ceviche vom pazifischen Seeigel
© Georges Desrues
Küchenchefin Pía León betreibt ihr Restaurant Kjolle im selben Gebäude wie ihr Mann Virgilio Martínez sein Central.
© Gustavo Vivanco
Juan Luis Mártinez bereichert in seinem Lokal Mérito die peruanische Küche mit Zubereitungsarten aus seiner Heimat.
© Mérito
© Mérito