Löcher, die man essen kann

Er ist der bekannteste Käse der Welt, der am öftesten kopierte und der, von dessen einst glorreichen Ruf nur mehr wenig geblieben ist. Aber ist der Emmentaler tatsächlich nur mehr industrieller Standard, oder kann er noch mehr?

Löcher, die man essen kann

Text von Florian Holzer Fotos: Luzia Ellert
Er ist quasi der VW Golf unter den Käsen – ein Mittelklasse-Produkt, das jeder kennt, das zwar alle Verkaufslisten anführt, mit dem man bei den Spezialisten aber eben wenig Punkte macht. Der Emmentaler ging dank seiner großen Löcher ins Sprichwörtliche ein, auf den Käseplatten der besten Restaurants findet man ihn jedoch selten, dort wird der Käse-Prolo neben Bergkäsen aus bisher unentdeckten Tälern, Tommes aus der Milch von durch Jungfrauen gemolkenen Ziegen, hundertjährigen Stiltons oder Rotschmier-Giganten mit bakteriologischem Gefahrenpotenzial nur ungern geduldet. Der Emmentaler, das ist was fürs Kühlregal im Supermarkt, dünn geschnitten fürs Käsebrot mit ein bisserl Paprika drauf, der richtige Käse, wenn’s nicht nach zu viel schmecken, aber trotzdem so ähnlich wie Käse aussehen soll.
Das war aber keinesfalls immer so, der Emmentaler erlangte seinen Weltruf keineswegs nur dadurch, weil er so leicht aufzuschneiden und so unkompliziert beim Verzehr ist, im Gegenteil, der Emmentaler zählte einmal zu den besten Käsen der Schweiz und damit der Welt.
Seinen Ursprung dürfte der Käse aus dem Tal der Emme im Kanton Bern bereits im 12. Jahrhundert haben, aus dieser Zeit sind Überlieferungen über eine rege Käse-Kultur jedenfalls erhalten. Den Anstoß zur Käserei-Hausse gab jedoch das so genannte "Küherwesen" im 17. und 18. Jahrhundert, ein Erbrecht, nachdem der jüngste Sohn den Hof ungeteilt übernehmen konnte, die älteren Söhne aber auszuzahlen hatte – die dann wiederum mit Investitionskapital ausgestattet waren, aber keinen Grund hatten – für viele eine Ausgangsbasis, Käser zu werden.
Große Talkäsereien und genossenschaftlich organisierte Betriebe prägten ab 1815 das Bild der Schweizer Käse-Szene, moderne Transportmittel ermöglichten den Handel, der Emmentaler ging um die Welt. Und wurde alsbald auch nach Leibeskräften kopiert – und zwar in ganz Europa. Als im Jahre 1882 die Basis eines europäischen Markenschutzrechtes geschaffen wurde, war es für den Emmentaler längst zu spät, den gab es bis dahin schon so ziemlich überall, wo Kühe Milch gaben. Als 1920 schließlich die Käseunion gegründet wurde, eine Art staatliches Käse-Monopol, das sich um Preisgarantien und internationalen Absatz kümmerte, war die Sache längst gegessen, spätere Versuche (der letzte im Jahr 2004), den Emmentaler markenrechtlich zu schützen, scheiterten grandios. 2006 erhielt der Emmentaler immerhin ein AOC-Siegel, AOC-Emmentaler kommen somit ausschließlich aus der Schweiz und werden nach festgesetzten Richtlinien hergestellt.
Was die internationale Konkurrenz allerdings wenig kümmert, da im Laufe der Jahrzehnte längst eigene, regionale Emmentaler-Kopien auf dem Markt positioniert wurden, sei es der österreichische "Bergbaron", der Allgäuer Emmentaler oder die holländischen Massenkäse "Maasdamer" und "Leerdamer". Nicht gerade die beste Voraussetzung für einen guten Käse-Ruf, noch dazu, wo längst nicht alle Länder die Sache mit den Regeln so genau nehmen wie die Schweiz.
Österreich ist ein nicht unwichtiges Emmentaler-Land, der Emmentaler wird von kleineren, größeren und auch sehr großen Käsereien in Österreich produziert. Die größte im Lande ist die Käserei Woerle im Salzburger Flachgau: 45 Millionen Liter Milch pro Jahr, 750 Lieferanten, 92 Millionen Euro Umsatz (Zahlen 2006), 27.500 Tonnen Käse, 40% davon werden exportiert. Der Emmentaler allerdings kaum, erklärt Unternehmenssprecher Gerald Kotzauer, denn da sei man mit einem Käse, für den derart viel Milch benötigt werde (ca. 11 Liter/Kilo) auf Märkten, wo der Liter Milch um gute 10 Cent billiger ist als in Österreich, einfach nicht konkurrenzfähig. Der Markt – wenn auch nur ein inländischer – sei dennoch stabil, der junge, eher neutrale Emmentaler sei bei den Österreichern nach wie vor sehr beliebt: "Der Schweizer Emmentaler brennt auf der Zunge, unserer ist eher mild." Über Produktinnovationen müsse man sich somit keine Gedanken machen, Slices vom Emmentaler ist das jüngste Produkt von Woerle, Convenience sei in Österreich ein echtes Thema.
Jung, neutral, mild – das ist generell der Eindruck, den österreichischer Emmentaler hinterlässt, selbst in Regionen wie dem Bregenzerwald, wo man mit gereiften Bergkäsen ja durchaus ein Käse-affines Publikum abseits des Mainstreams anspricht, geht man beim Emmentaler diesen Weg des geringsten Risikos. Wobei es allerdings auch in Österreich einmal einen Emmentaler gab, der quasi "auf der Zunge brannte": Die Gaishorner Auslese wurde seit 1929 von den Nachfahren Schweizer Immigranten hergestellt, ein exzellenter, komplexer Emmentaler aus erstklassiger Milch und mit mindestens sechsmonatiger Reifung, ein Käse, der alle möglichen Auszeichnungen erhielt und einmal sogar Weltmeister wurde.
Nachdem die kleine Käserei – zwischen 20 und 40 Bauern belieferten die Gaishorner mit Milch – von Agrosserta übernommen wurde, zählten andere Parameter als bisher, die täglich erzeugte Menge von sechs Käse-Laiben wurde als nicht mehr wirtschaftlich erachtet, ein paar Jahre erzeugte und vertrieb man den exzellenten Käse noch in Eigenregie, stellte die Erzeugung im Jahr 2002 allerdings ein. "Wir bekamen einfach keine Silo-freie Milch mehr geliefert", erklärt Karl Mayer, früherer Gesellschafter der Käserei, notwendige Investitionen und der Ruhestand einiger unersetzbarer Mitarbeiter kamen dazu. Die Bauern lieferten fortan an Stainzer Milch, die Käserei fungiert heute als dörfliches Sportzentrum, bei Bergland Milch, gewissermaßen dem Nachfolger der Agrosserta, kann man sich heute nicht einmal mehr an den Namen der Gaishorner Auslese erinnern. Sehr, sehr schade.
Bleibt die klassische Oberg’scheiterl-Frage: Wie kommen eigentlich die Löcher in den Käse? Beim Emmentaler ist das eine relativ klare Sache, sie entstehen durch Propionsäurebakterien, die während der Fermentierung für den Ausstoß von Kohlendioxid und Propionsäure sorgen. Auf 1.000 Liter Milch kommt etwa ein Milliliter dieser Bakterienkultur, ab der sechsten Woche der Fermentation beginnt die Bildung der Löcher, pro Laib (70 bis 110 Kilogramm) rechnet man mit etwa 100 bis 150 Liter Kohlensäure. Die Größe und die Form der Löcher gibt relativ gute Auskunft nicht nur über den Grad der Reifung – größer als fünf Zentimeter sollten sie nicht sein, dann reifte der Käse etwas zu lange, das Idealmaß liegt zwischen drei und fünf Zentimetern im Durchmesser –, sondern auch über den Verlauf des Fermentationsprozesses: Ovale oder sehr ungleichmäßig geformte Löcher besagen, dass da etwas schiefgelaufen ist, zu große Löcher oder gar Risse können Lebensraum für Fremdbakterien darstellen, sehr kleine Löcher besagen, dass die Reifung in einem frühen Stadium abgebrochen wurde und der Käse aller Wahrscheinlichkeit nach noch relativ viel Kohlensäure enthält.
Überhaupt die Reifung: Sie sorgt natürlich – wie bei allen anderen Hartkäsen auch – für die Würze, das Aroma, die Komplexität des Geschmackes. Ob in einem trockenen Raum – helle Rinde –, oder in einem sehr feuchten Raum – dunkle Rinde – gereift, macht ebenfalls einen Unterschied, die Farbe des Käseteiges lässt hingegen mehr auf die Jahreszeit der Herstellung schließen: gelbere Käse mit satter Farbe im Frühling und Sommer, blassere Käse mit elfenbeinartigem Farbton aus der Wintermilch der mit Heu gefütterten Kühe. Wie man während der etwa hundert Tage Mindestreifung mit der Temperatur verfährt, hat natürlich entscheidenden Einfluss auf Fermentation und damit Aroma.
Die Käsung des Emmentalers in Laiben sei allerdings heute schon eine extreme Rarität, meint Gerald Kotzauer von Woerle. Der 80- Kilo-Block ist nun Standard, beim österreichischen Marktführer (40% Marktanteil im Feinkost-Handel) gibt es keine Käselaibe mehr. Auch auf Silo-freie Rohmilch müssen natürlich nur die Schweizer AOC-Erzeuger zurückgreifen. Zusatzstoffe und Konservierungsmittel einzusetzen, ist außerhalb der Schweiz möglich und unterliegt ganz den jeweiligen Herstellungs-Philosophien der einzelnen Käsereien. Dass da in Österreich vielleicht einmal ein Umdenken passiert, ist gerade beim Massenkäse Emmentaler nur schwer vorstellbar, aber wer weiß, hoffen kann man ja immer.