Mahlzeit, Vietnam
Eine Lesereise zwischen Würsteln mit Stäbchen, Krokodil, Cola-Hühnchen und „Beefsteak“ aus dem Wok
Text von Eva Rossmann · Illustration von Georg Wagenhuber
Alles passiert hier immer. Wir haben auf Minihockern am Gehsteig rohe und frittierte Reisteigrollen gegessen und natürlich Pho, die berühmte Suppe mit allem Möglichen drin, jedenfalls aber Reisnudeln. Pho isst man, so kann man in vielen klugen Vietnam-Büchern lesen, zum Frühstück. Jetzt ist es vier am Nachmittag. Es gibt Pho in Hanoi auch gegen Mitternacht, sowohl am Straßenrand als auch in den kleinen Gaststätten. Das Leben kümmert sich nicht um Reiseführer.
Jetzt gehen wir über die Straße. Mopeds. Es sind hunderte, die unterwegs sind. Sie fahren links und rechts und durcheinander, dazwischen Autos und ab und zu Radfahrer. Vorrang oder Regeln spielen keine Rolle, sonst würde alles zum Stillstand kommen. In Österreich haben die Schwächsten Vorrang (zumindest meistens), in Moskau haben die Stärksten Vorrang (nämlich die Autos), hier gibt’s so etwas wie gleichberechtigten Verkehr. Wir bewegen uns langsam auf die Straße, der Mopedschwarm teilt sich, elegantes Aneinandervorbeigleiten, das nur gestört wird, wenn etwas schiefgeht und doch einer am Boden liegt. Dann bleiben einige stehen, man hilft Fußgänger, Maschine, Fahrer auf, selten passiert viel, rundherum der Schwarm in Bewegung und am Straßenrand Obstverkäuferinnen mit ihren Tragekörben und eine Garküchenbesitzerin, die trotz allem nicht vergisst, die Teigteile im Wok zu wenden.
Wer von jahrtrausendealter Tradition spricht, hat natürlich recht, da gibt’s beim kleinen See in der Mitte von Hanoi ehrwürdige Pagoden und eine Schildkröte, die mehrere hundert Jahre alt sein soll. Fast wär sie übrigens an der miesen Wasserqualität eingegangen, aber dann gab es eine groß angelegte Rettungs- und Erholungsaktion, seither geht es ihr wieder gut und dem Wasser wenigstens ein bisschen besser.
Am Rand des verkehrumbrausten Sees liegt ein Lokal. Servicepersonal altvietnamesisch verkleidet, Schautafeln zu den Gerichten. Aber der Blick ist zauberhaft und wir wollen schließlich was erleben. Eine Reihe russischer Geschäftsleute scheint sich prächtig zu amüsieren, oh weh. Und dann: Bananenblütensalat mit Garnelen, Kohlrabisalat mit getrocknetem Rindfleisch und vielen Kräutern und dazu ihre Würz-Flüssigkeit: Irgendwas säuerlich-leicht Scharfes, dünn und fettfrei und wunderbar. So viele Geschmacksnuancen, frisch, leicht.
Alles passiert hier immer gleich, vielleicht hat es damit zu tun. In der Früh kommen Obst und Gemüse und Fleisch und Meerestiere in die Megastädte, werden gekauft und aufgegessen. Über die unglaubliche Vielfalt von frischen Garnelen, Shrimps und Muscheln fließt auf den Wet Markets Wasser, in Bewegung gehalten von kleinen Pumpen. Die Regierung hat viele dieser Märkte geräumt, erstens sind das wunderbare Plätze, um Wolkenkratzer hochzuziehen, und zweitens hätte man es gerne ein wenig geordneter und daher alles, was international gekühlt wird, auch hier kalt gemacht. Vielleicht aber betreibt ein Cousin des Staatspräsidenten eine Kühlschrankfabrik und will endlich im großen Stil verdienen. Klar ist Vietnam kommunistisch, aber gleichzeitig haben sie sich eben die volle Marktwirtschaft verordnet. Auswirkungen inklusive.
Richtig legal sind auch die vielen Straßenküchen selten. Aber es gibt verschiedene Arten von Polizisten, und wenn einem bloß ein Bezirkspolizist nahe kommt, dann ist man ganz schnell auf der anderen Straßenseite und damit im anderen Bezirk. Man hat ja nicht viel mitzunehmen, wenngleich viel zu verlieren: Weil mehr als einen Kocher, zwei Woks, einige Plastikhocker und vielleicht noch ein wenig Werkzeug besitzen die meisten nicht, aber wenn das beschlagnahmt wird, ist die Existenzgrundlage weg.
Besser haben es jene, die winzige Gassenlokale betreiben. Überlegungen, was „traditionelle“ vietnamesische Küche sei, erübrigen sich auch da. Man verwendet, was man hat, bezieht ein, was man braucht. Selbst die berühmte „Pho“ gibt es erst seit rund hundert Jahren. Damals sind viele Leute vom Land in die Stadt gezogen, hatten keine Küche und mussten eben verköstigt werden. Ob sie sich vom „Pot-au-feu“ ableitet, ist umstritten, jedenfalls waren die Franzosen im Land. Und jetzt verkaufen zierliche Vietnamesinnen in den über eine Stange verbundenen Tragekörben Berge von knusprigen Baguettes. In Paris muss man sich verdammt anstrengen, um da mithalten zu können. Und dann eine der Spezialitäten von Hanoi:
Am Abend in einem Tunnelhaus, das sich dreißig und mehr Meter hinter die Straße zieht. Ein enger Gang vorbei an Zimmern und Wohnungen, an Wäscheleinen und Mopeds und ganz hinten ein kleines Lokal. Es heißt „Bittet“ und das gibt es hier auch zu essen. Die Pommes werden gekonnt im Wok vorblanchiert, für das „Beefsteak“ wird das Rindfleisch zuerst mariniert und dann im Wok gebraten. Man geht durch die Küche in den Gastraum und über uns, auf einer Art von Zwischendeck, in einem Glaskobel wie ein seltener Vogel, hockt eine winzige alte Frau und beobachtet uns und die jungen Frauen am Herd. „Grandma – Chef“, wird uns ein Vietnamese vom Nebentisch einige Zeit später erklären. Von den Betreibern des Lokals spricht keiner eine europäische Sprache, dafür gibt es eine teilweise ins Englische übersetzte Speisekarte und einen Zettel, auf dem man ankreuzen kann, was man gerne hätte. Ernest nimmt die Spezialität des Hauses, ich esse lieber frittierte Krabbe mit knuspriger Zwiebel. Die Fischsuppe davor ist ein Gedicht, als Basis dient ein gut gewürzter Shrimps-Fond. Wein gibt es hier keinen, also bestelle ich ein Glas Hanoi-Wodka. Ich bekomme eine 0,3-l-Flasche. Egal, er kostet ohnehin einen Spottpreis. Jedenfalls amüsiert sich die Serviererin und macht freundliche Zeichen, ich solle nur trinken. Das „Bittet“ ist … mit einem Beefsteak hat es nichts zu tun, es ist durchgebraten, aber ausgesprochen zart und durch die Gewürze doch etwas Besonderes. So gut wie alle im Lokal essen es. Vietnamesische Großfamilien, Paare, ein Tisch, an dem vier Vietnamesen im teuren Design-Businessanzug sitzen.
Klar kann man in den Megacities von Vietnam auch megainternational und megateuer essen gehen, aber die meisten essen hier am liebsten gut.
Zu dicke Menschen scheint es trotzdem nicht zu geben, das hat wohl mit der Art der Küche zu tun, und dann ist da noch etwas: Saigon bei Sonnenaufgang. Musik klingt aus dem Park auf der anderen Straßenseite des Hotels, verschlafen tappe ich auf den Balkon, hunderte Menschen turnen, gehen, laufen, widmen sich in Gruppen oder allein dem traditionellen Qui-Gong. Es dauert ein wenig, bis auch ich meine Runden durch den Park ziehe, der Verkehr hat inzwischen voll eingesetzt, die Musik aus den öffentlichen Lautsprechern ist verstummt, aber noch immer gibt’s zahlreiche Menschen, die morgensportlich unterwegs sind. Der Teich, an dem ich meine Schlussübungen mache, ist mit Algen bedeckt. Naja. Ein Mann schlüpft durch das Eisengeländer und beginnt, etwas von dem grünen Zeug am Wasser zu pflücken. – Soll ich glauben, dass man das essen kann? Nahezu alles ist möglich, sollte ich hier doch endlich gelernt haben.
Eigentlich war ich ja an den Universitäten von Hanoi und Saigon, um über meine Krimis und Österreich zu erzählen, aber das was die Professorinnen und Lektoren am meisten interessiert hat, war das Essen: Was macht die österreichische Küche aus? Wie unterscheidet sie sich von der deutschen und der französischen? Stimmt es, dass ich in einer „Alten Schule“ koche? Warum? Was ist an der vietnamesischen Küche besonders interessant? Wo sind die Gemeinsamkeiten?
Beim anschließenden Fest des Germanistik-Instituts in Hanoi gab es deutsche Würstchen (sie lassen sich hervorragend mit Stäbchen essen), frische Jackfruit, einen köstlichen Salat aus Bambus, Nüssen und frischen Kräutern. Und dazu natürlich Baguette. Den Wein hatten wir mitgebracht. Veltliner warm und im Plastikbecher – alle waren begeistert, ich auch. Erstens war er ja gut und zweitens in Vietnam selten und drittens hat alles zusammen einfach gepasst.
Es gibt übrigens auch vietnamesischen Wein. Der weiße ist irgendwo zwischen Resignation und Körperverletzung, der rote kann, mit einigem Glück, interessant schmecken. Wir haben erst später das Etikett auf der Rückseite gelesen: „Gemacht aus den besten Trauben Vietnams und Maulbeeren.“
Alles ist möglich. Winzige Gässchen, voll mit abgestellten Mopeds und Waren jeder Art, Luxusboutiquen, in denen wir bis auf die superschicken Verkäuferinnen niemanden gesehen haben, Wolkenkratzer und Straßenküchen und neue Megastraßen, so etwas wie Wiener Gürtel mal drei mit Dauerbaustelle – und am Straßenrand Tabletts voll mit getrockneten Wurzeln. Und in den Läden dahinter große Gläser: Eingelegte Schlangen und Eidechsen in verschiedenen Größen. Von der Decke hängen getrocknete Riesenseesterne. Vorsichtig ziehe ich den Fotoapparat aus der Tasche, lächle so asiatisch freundlich wie möglich, erwarte trotzdem, abgewehrt zu werden, ernte einen freundlichen Redeschwall, mit dem man mir offenbar erklären will, wofür welches eingerexte Vieh in der traditionellen Medizin gut sei.
Jahrtausendealte Weisheit in Ho-Chi-Min-City, wie Saigon nun offiziell heißt, gleich an der Straße ins ein- oder zweiundzwanzigste Jahrhundert.
Seit ich in Vietnam war, wünsche ich nur mehr meine Freunde ins Land, wo der Pfeffer wächst. Auch wenn allgemeinhin behauptet wird, dass der des Weltmarktführers Vietnam nicht so besonders gut sei, ich habe es auf der tropischen Insel Phu Quoc anders erlebt. Grob gemahlener schwarzer Pfeffer direkt vom Bauern, eine Duftsymphonie, dahinter ein Feld mit Pfefferpflanzen, die aussehen wie besonders hohe Stangenbohnen. Wenige Kilometer entfernt dann der etwas kräftigere Geruch nach an der Luft reifenden Sardellen. Die braucht man für die berühmte Fischsauce. Nach ein paar Tagen im Land weiß ich längst, was diese wundersame säuerlich-leicht scharfe Würzflüssigkeit ist: Eben Fischsauce aus getrockneten und fermentierten Sardellen, gemischt mit Reisessig, Salz, Zucker, Limette, Chili und noch so einigem anderen, das dann zum jeweiligen Hausgeheimnis gehört.
Man kann die Sauce übrigens am Flughafen in Phu Quoc kaufen. Bloß hängt daneben ein Schild, dass es verboten ist, sie in den Flieger mitzunehmen, man bekomme eine Flasche davon in Ho Chi Minh-City ausgehändigt. Was daran so gefährlich ist, dass man sie nicht – wohlverschweißt, wie ihren bedrohlichen Wein – selbst transportieren darf, habe ich nicht erfahren. Dafür bin ich entzückt dahinter gekommen, dass es genau diese Sauce in Wien im exotischen Supermarkt gleich neben der Hauptbücherei zu kaufen gibt.
Apropos exotisch: Der gegrillte Alligator, den wir in Phu Quoc gegessen haben, hat dem netten Hund der Besitzer viel besser geschmeckt als uns. Was nichts mit der Qualität der Küche zu tun hatte, sondern mit dem Umstand, dass diese Viecher mit dem großen Maul selbst in Vietnam (ich kannte sie bisher nur aus den USA und denen traue ich viele auch kulinarische Schandtaten zu) schmecken wie eine Mischung als altem Huhn und Tintenfisch, der zu lange in der Sonne gelegen ist. Hund gibt’s übrigens nur im Norden Vietnams und im Winter zu essen, Fleischhunde liefern eine Menge Energie – als ich einen Hundefleischstand fotografieren wollte, wurde ich allerdings von der Betreiberin kräftig ausgeschimpft. Man weiß inzwischen, dass die Langnasen nichts davon verstehen, es im besten Fall kurios, im schlimmsten als ein Verbrechen gegen ihre besten Freunde empfinden.
Ansonsten tut man gut daran, sich auf alles einzulassen, was das Land so bietet. Auch auf Colahühnchen.
Der Guide (einst aus Deutschland gekommen und der Liebe wegen geblieben) hat uns erzählt, vor kurzem sei eine Gastrojournalistin aus seiner alten Heimat da gewesen, auf der Suche nach dem wahren Geschmack Vietnams, demnächst werde man über dieses Hendl aus der Altstadt von Hanoi lesen können. Wir jedenfalls haben die Zwerghühnchen schon in der Auslage bewundert: Jedes so, dass die Krallen noch rausschauen, in eine oben offene Coladose gestopft, manche naturfarben, manche seltsamerweise fast schwarz. Im Hinterzimmer auf einem niedrigen Tisch umgeben von Hockern, knusprig frittiertes Baguette, der übliche Teller mit viel frischem Ingwer, Chili, allen möglichen Blättern und Kräutern, kleine Schüsseln mit Naturmeersalz, vermischt mit gestoßenem Pfeffer. Eine Limettenspalte wird darüber gedrückt. Und dann: In der Essschüssel, inzwischen von der Dose befreit, das Hühnchen in einer feinen Suppe mit viel Grünzeug, Goji-Beeren und getrockneter „Apple-Fruit“. Wir lernen, wie man Blätter – sie schmecken ein wenig nach Sauerampfer – , Kräuter, Ingwer, Chili, Brot dazu gibt, das zarte weiche Fleisch mit den Stäbchen von den Knochen zupft und dann vorsichtig in die Salz-Pfeffer-Limetten-Mischung dippt. Es gibt sie, die Geschmacksexplosion: Entzücktes Erstaunen jeder Papille über etwas Unvergleichliches. – Ach ja, das Colahühnchen ist in der Story des deutschen Gastromagazins bis jetzt nicht aufgetaucht, vielleicht war der Chefredaktion der Anblick der Zwerghühner in den Getränkedosen, bei aller Liebe zu Asiatischem, eben doch zu exotisch. Pech gehabt.
Oder, wie Vietnamesen sagen würden, Schicksal. Das spielt im Buddhistischen eine große Rolle. Letztlich sei alles vorbestimmt, aber man kann einiges tun, um Götter und Ahnen friedlich zu stimmen. Deswegen haben Taxifahrer auch gerne kleine Buddha-Statuen auf der Ablage vor der Windschutzscheibe. Sie beeinträchtigen zwar die Sicht, aber wenn man ein guter Mensch ist, dann wird Buddha dafür sorgen, dass man trotzdem heil ans Ziel kommt.
An Straßenecken und in Mauervorsprüngen, umkränzt von unzähligen abgestellten Mopeds, in Läden und der Lobby eines ehemals vornehmen Hotels aus der Kolonialzeit steigt der Duft von Räucherstäbchen zum Himmel. Darunter Opfergaben: Früchte und Süßigkeiten. Man muss den Toten schicken, was sie brauchen. Die Räucherstäbchen dienen quasi als Lift. Wenn sie abgebrannt und das Beamen abgeschlossen ist, darf man die guten Gaben selbst essen. Es greift eben alles ineinander in Vietnam. Immer.