Mein olympischer Brand

Ein fragwürdiger Hindernislauf durch griechische Tavernen samt Happy End am Frühstücksbuffet.

Text von Christian Seiler Illustration von Markus Roost

Dabei war ich eigentlich happy. Was sage ich: ich war ergriffen. Meine Vorstellung davon, dass sich ein Stück Land, das tausend Jahre lang als heilig gegolten hatte, auch tausendfünfhundert Jahre später so anfühlen muss, hatte sich bestätigt, hatte mich beeindruckt, hatte mich verzaubert.

Ich saß unter einem blühenden Judasbaum in der Palästra, dem exklusivsten Klub, in dem man zu Zeiten der antiken Olympischen Spiele Mitglied sein konnte, und genoss den sanften Wind, der über die Steinlandschaften der Ausgrabungen strich und mir das Gesicht streichelte. Ich war mild gestimmt. Ich schaute in den Himmel. Sah, wie die Wolken zogen. Stellte mir vor, wie aus der Perspektive, die ich gerade einnahm, wohl ein Himmel ausgesehen hatte, auf dem sich jederzeit Zeus, der Göttervater, zeigen konnte, um mit Blitzen um sich zu werfen, weil ihm eine Laus über die Leber gelaufen war.

Es beruhigte mich sehr, dass es Zeus nicht gibt, aber es gefiel mir, von ihm zu träumen. Ich schloss die Augen. Ich legte mich in die Wiese. In dem Gebäude, in dessen ehemaligem Innenhof ich mich gerade befand, waren während der Spiele der Antike Sportler, Künstler und Intellektuelle zusammengekommen. Neben den Räumen, wo die Ringer ihre Körper mit Öl eingerieben hatten, um sich anschließend im Sand zu wälzen und sich auf diese Weise angreifbar zu machen, befanden sich die Ruheräume der Musiker, und mir gefiel die Vorstellung, dass ein zünftiger Ringkampf von den Melodien eines improvisierenden Flötisten begleitet wurde, und dass man nachher, nachdem Schweiß und Sand mit Schabsteinen vom Körper entfernt worden waren, ein gepflegtes Gespräch unter klugen Köpfen führte, ein Stück Käse verzehrte und hie und da in den Himmel schaute, ob Zeus eh gut aufgelegt war oder die Seinen mit einem schrillen Pfiff zur Ordnung rief.

Ich musste eingeschlafen sein. Als ich meine Augen aufschlug, stand ein korpulenter Herr in kurzen Hosen vor mir, der gerade ein zweites Mal in seine Trillerpfeife blies und sichtlich Vergnügen daran hatte, meine angstgeweiteten Augen zu betrachten. Er zeigte streng in Richtung Ausgang und teilte mir mit, dass es drei Uhr Nachmittags war.

„We close. Please go.“

Das Ausgrabungsgelände der Antiken Olympischen Spiele in Olympia ist weitläufig. Die Palästra liegt ein bisschen abseits des Schnellwanderpfades jener High-Speed-Touristen, die vom Eingang ins Stadion hetzen, dort an der Start- und Ziellinie Fotos in Olympiasiegerpose aufnehmen und sich mit einem Kranz aus Olivenästchen um die Birne zurück zum Busparkplatz trollen. Ich hatte also noch ein bisschen Zeit, um der Aufforderung des Kustoden zu folgen und an den Resten des Gymnasions vorbei zum Ausgang zu schlendern, wo man freilich schon auf mich wartete.

Tür zu, Riegel vor, Abflug: die olympische Belegschaft hatte genug für heute.

Olympia liegt im Westen des Peloponnes. Der Ort selbst ist winzig: ein geometrisch angelegtes Stück Infrastruktur, von dem aus der Heilige Hain bewirtschaftet wird, wo während mehr als tausend Jahren die glamourösesten Sport- und Gesellschaftsereignisse ihrer Zeit stattgefunden hatten und die Welt sich ein Stelldichein gab – jene Welt jedenfalls, die von den Griechen nicht für Barbaren gehalten wurde (das bedeutete, dass vor allem Griechen aus allen Teilen des Landes anwesend waren; später kamen Exponenten des mächtigen Römischen Reichs dazu und Abgesandte aus den Kolonien). Eine Reihe von Katastrophen, zuerst politische, dann natürliche, sorgten dafür, dass Olympia mit seinen prachtvollen, machtvollen Sportanlagen und Heiligtümern verlassen und zerstört wurde, schließlich in Vergessenheit geriet und erst vor knapp 200 Jahren wiederentdeckt und schließlich Schritt für Schritt ausgegraben wurde (und wird, auch wenn sich die griechische Krise nicht gut auf die Gehaltszahlungen an Archäologen auswirkt).

Mit Respekt hatte ich gerade noch die Anlage des Leonidaion betrachtet, eine Art antikes Luxushotel, wo die Granden ihrer Zeit abstiegen und sich standesgerecht betten und pflegen lassen konnten.

Interessantes Stichwort.

Ruhe.

Verpflegung.

Dann befielen mich Zweifel.

Vor allem dem Thema der Verköstigung sah ich mit Skepsis entgegen, hatte mir doch selbst der Grieche, mein alter Freund, eingeschärft, nur in Restaurants zu speisen, die er mir persönlich ans Herz legen würde. Das klang gut, aber natürlich war der Grieche, mit dem ich schöne Reisen nach Schweden und nach Norditalien unternommen hatte, ausgerechnet in Griechenland nicht zur Stelle, und als ich ihn endlich am Handy erwischte, fragte er mich bloß kurz angebunden, was ich in Griechenland eigentlich verloren hätte, und als ich begann, ihm von meiner neu entdeckten Liebe zur Antike vorzuschwärmen, legte er einfach auf und beantwortete meine Anrufe nicht mehr.

Also tat ich etwas Unüberlegtes, was mir gerade originell schien: Ich machte mich auf die Suche nach einem Griechischen Salat. Wo, wenn nicht hier.

Wie oft hatte ich schon Griechischen Salat gegessen und mir angesichts der Mischung oft geschmackloser Gurken, fader Tomaten, wässrigem Paprika und messerscharfer, roter Zwiebeln den Kopf darüber zerbrochen, wie dieser Salat wohl in gut schmecken könnte, vom zementartigen Schafskäse aus der Fabrik einmal abgesehen, der zu allem Überfluss mit einer jämmerlichen, mediterranen Gewürzmischung bestreut ist, die aussieht wie Sägespäne, aber nicht so gut schmeckt.

So was, dachte ich mir, lassen sich die Griechen unter Garantie nicht bieten – das wäre schließlich so, als würde in Wien panierter Karton als Wiener Schnitzel verkauft – wobei, hm, sobald ich mir das bildlich vorzustellen begann, kam mir der Gedanke auch schon nicht mehr so absurd vor.

„Ancient Olympia“ – wie man diesen Ort korrekt buchstabiert, lernte ich, als ich ihn auf dem Flughafen von Athen in das Navigationssystem meines Leihwagens eingeben wollte und mit „Oympia“ allein kläglich scheiterte – ist frei von internationalen Fast Food-Ketten oder deren einheimischem Echo. Es gab also keine Kebap-Stände, keinen Mister Lee und keine McDonalds-Filialen, dafür jede Menge Geschäfte mit Statuetten von nackten Olympiadiskuswerfern, Best-of-CDs von Mikis Theodorakis und jeder Menge Literatur zur Antike, in allen Sprachen. Und Eis. Soft-Ice vom griechischen Langnese-Ableger. In den Tavernen wurde lokaler Wein oder Flaschenbier ausgeschenkt. Die Küche bot all das, was man sich unter griechischer Küche vorgestellt (und ein bisschen gefürchtet) hatte: Griechischen Salat, Tsatsiki, Suvlaki, Moussaka und alle Arten von gegrilltem Fleisch vom Holzkohlengrill.

Das hielt ich zuerst einmal für eine gute Nachricht.

Ich fragte bei mehreren Vertrauenspersonen (sofern man den Portier meines Dreisternhotels und seine allesamt in der Gastronomie beschäftigten Geschwister und Neffen als Vertrauenspersonen bezeichnen will) um Tipps für die besten Lokale der Region, und die meisten fragten mich, warum ich nicht im Hotel Halbpension bestellt hatte. Ich musste ihnen ihre Empfehlungen regelrecht aus der Nase ziehen, ja, ich will typisches Tavernenessen, nein, ich habe keine Lust auf ein Pastabuffet im Hotel Hercules.

Schließlich war ich mit drei Adressen ausgestattet. Ich mache es kurz. Ich aß, einmal in Kréstena, einmal in Linaria, einmal im Küstenort Katákolo (wo ich die Gaststube des „erstklassigen Fischrestaurants“ ausschließlich mit Landgängern eines Kreuzfahrtschiffs teilte, die sich nach ein, zwei Bier schallend Sorgen darüber machten, ob ihr Kapitän seine Schaluppe beim Auslaufen ebenso flach legen würde wie der Kollege in Italien).

Sagen wir so: dass die Griechischen Salate an allen Orten ähnlich angerichtet waren, überraschte mich weniger, als dass sie identisch mit dem waren, was ich als fehlerhafte Raubkopie dieses Gerichts in schlechten Lokalen Mitteleuropas eingeschätzt hatte. Industriekäse, geschmackloses Gemüse, nämliche böse Gewürzmischung. Einzig der Wirt in Linaria, Inhaber eines weithin bekannten Lokals mit Schwerpunkt Hühnergrill, servierte mir den Salat mit einer vollständigen, aufgeschnittenen roten Zwiebel, so dass ich nachts mit belegtem Gaumen aus dem Schlaf hoch schreckte und um Wasser bettelte.

Der Rest? Das gegrillte Huhn war die beste Speise weit und breit, wenn auch heftig versalzen. Das Moussaka kam aus der Mikrowelle, war heiß wie die Hölle und fett wie Aphrodite’s Child. Der Fisch war von der Kohle, auf der er gegrillt worden war, nicht zu unterscheiden, ehrlich. Die Souvlaki vom Schwein rochen nach Schweinestall und hatten eine Konsistenz, dass ich, der von sich stolz und mutig behauptet, alles zu essen oder wenigstens ausgiebig zu probieren, meine Serviette über den mehr oder weniger unberührten Spieß breitete, um nicht des arroganten Ekels (oder umgekehrt) verdächtigt zu werden.

Die Tavernisten revanchierten sich, indem sie einfach meine Teller nicht abräumten. Ich trank Bier und starrte auf den Fernseher, wo gerade ein Spiel zwischen zwei Mannschaften übertragen wurde, deren Namen ich nicht decodieren konnte.

Ich schickte dem Griechen eine SMS: „Du Hund“.

Er antwortete augenblicklich: „Gerade griechisch gekocht. Wo in Hellas treibst du dich eigentlich herum, Malaka? Kali nichta“.

Weil mich seine gute Laune sauer machte, wollte ich wissen, was er denn gekocht hatte. Ich hatte die geringe Hoffnung, dass er gerade an einem Spieß mit fettem, grauslichen Fleisch nagte, was mir als einzige Form der Solidaritätserklärung 
erträglich schien.

„Oh“, antwortete der Grieche. „Cheeseballs, Hummus, Tsatsiki, 
Meatballs mit Feta, homemade. Lass es Dir gut gehen. Jamas.“

Ich hasste ihn. Aus Zorn und Verlegenheit verputzte ich die übriggebliebenen roten Zwiebeln meines Griechischen Salats und fand mich nachts einmal mehr kniend vor der Minibar wieder, fluchend, dass kein Wasser nachgefüllt worden war.

„Ein Lokal“, tippte ich in meine mitternächtliche SMS an den Griechen. „Nenn mir ein einziges Lokal, wo das Essen okay ist. Vor mir aus auch einen Chinesen.“

Wieder antwortete er sofort, und zwar ganz gegen seine Veranlagung ausgesprochen lyrisch: „Christian, in Südkreta findet man, glaube mir, Tavernen mit großartiger, traditioneller kretischer Küche. Und selbst die allfälligen griechischen Klassiker sind dort genießbar. Zum Beispiel am Hauptplatz in Sivas, oder Fische und Meeresfrüchte im Delphinion in Kalamaki, alte regionale Spezialitäten in einer kleinen, äußerlich unspektakulären Taverne in Petrokefali und fantastische, zumeist wild gewachsene Kräuter (duftiger habe ich sie noch nie erlebt), außerdem Kräutermischungen, Gewürze, Salze, Tees, allerlei getrocknete Früchte etc. in Kouses, in einem wunderbaren kleinen Laden namens ,Botano‘, mit dem sich ein ehemaliger griechischer Manager seinen Lebenstraum erfüllt hat (einen Eindruck davon bekommt man auf www.botano.gr). Geschichtsträchtige Ausgrabungsstätten gibt es sowieso. Und das alles noch dazu am Fuße des Psiloritis, dem höchsten Berg auf Kreta. Also bevor Du das nächste Mal nach Griechenland fährst. Ruf einfach an ;-)“

Ruf einfach an, schrieb er. Ruf einfach an. Und gab mir Tipps für das Südburgenland, während ich in Vorarlberg herumruderte. Außerdem wusste er, wie allergisch ich auf alle Sorten von SMS-Smileys bin. Ich kochte.

„Trottel“, smste ich zurück. „Kretin“.

Die Antwort hieß: „Kali orexi“, und ich war bloß froh, dass ich nicht verstand, was das hieß.

Dass meine kulinarische Bilanz in Griechenland trotzdem okay ausfiel, lag am Frühstück, bzw. dem griechischen Joghurt, den es zum Frühstück gab. Dieser Joghurt, mit Honig zu einer Creme angerührt, war ein Beweis für die Existenz einer dafür zuständigen Gottheit, die ihr Interesse an der Menschheit noch nicht verloren hatte. Mich überraschte das nicht. Ich befand mich schließlich in der Nähe des Olympischen Heiligtums.

Joghurt ist sowieso ein Geschenk des Himmels. Griechischer Joghurt ist mehr als das: eine Delikatesse, eine Ahnung dessen, was ein simples Alltagslebensmittel sein kann, wenn es nicht der Industrie, den Gesundheitsaposteln oder den Marketingabteilungen der Funktionsfoodfuzzis überlassen wird.

Griechischer Joghurt ist von cremiger Konsistenz und einer säuerlichen Würze, von einer Festigkeit des Körpers und hohem spezifischen Gewicht, von einem deutlich höheren Fettgehalt als der bei uns gebräuchliche Joghurt (ich spreche dabei von dem mit 3,6 Prozent Fettgehalt, nicht von den Kastrationsjoghurten mit 0,1 Prozent Fett: Ich bin gegen diese entrechteten Lebensmittel. Sie schmecken nach nichts, gar nichts, und wer glaubt, dass er mit fettarmem Joghurt etwas für seine Figur tut, dem ist auch nicht zu helfen. Er soll lieber zehn Minuten länger joggen und dafür Freude am Essen haben).

In meinem Hotel gab es nämlichen Joghurt in großen Gefäßen. Ich durfte mich selbst bedienen und tat das mit dem Heißhunger dessen, der am Abend davor nicht genug zu essen gekriegt hat. Joghurt mit Honig oder Joghurt mit Nüssen und Honig diente mir als Frühstück und Dessert, aber auch als kulinarisches Prozac gegen die Verheerungen der restlichen Tavernenküche.

Griechischer Joghurt hat einen Fettanteil von etwa zehn Prozent. Das hat nichts mit der Qualität der Milch zu tun. Griechische Kühe lassen sich auch nicht fetter melken als ihre Schwägerinnen und Kusinen im Emmental oder Pinzgau, sondern mit der Produktionsweise, wie Joghurt erzeugt wird.

Zur Rekapitulation: Joghurt entsteht bei der bakteriell bedingten Verdickung von Milch (es ist übrigens gar kein Problem, Joghurt selbst herzustellen – warme Milch von etwa vierzig bis fünfzig Grad, zwei Löffel Ihres Lieblingsjoghurts, das Ganze ab in eine Thermoskanne, sechs Stunden stehen lassen, fertig).

Der Unterschied zwischen alpinem und griechischem Joghurt besteht vor allem darin, dass im Süden (also auch in der Türkei, die aber auch über ihre Joghurterzeugung hinaus eine anbetungswürdige Küche besitzt) der Joghurt, bevor er ins Glas oder den Becher kommt, noch einmal einem Produktionsschritt unterzogen wird, wenn auch einem maximal simplen: Der Joghurt wird in einem feinen Sieb zum Abtropfen abgelegt, so dass sich die darin enthaltene Molke verabschiedet und der verbleibende Stoff eine festere, cremigere Konsistenz annimmt.

In unseren Supermärkten gibt es griechischen Joghurt in konventionellen und Bio-Ausfertigungen. Ich finde sie besser als den ganzen Magerjoghurtkram, aber geschmacklich nicht überzeugend. Deshalb befolgte ich auch den Rat des Griechen, der mir mit empathischer Arroganz auch noch seinen Lieblingstrick smste: „Kauf das beste Joghurt, das du kriegen kannst, schütte es auf eine Windel und binde die Windel ein paar Stunden an den Hahn deiner Abwasch. Du wirst staunen.“

Nachdem ich noch keine Windeln zu Hause habe, nahm ich ein feines Sieb und – wartete. Wartete eine, zwei, drei Stunden. Dann staunte ich. Im Sieb fand sich ungefähr die Hälfte des ursprünglichen Volumens, eine feine Creme, die ich mit Honig zu einem wunderbaren, schönen und feinen Dessert anrührte und statt eines Mittagessens zu mir nahm.

Nur um Missverständnissen vorzubeugen: Es war wunderschön in Griechenland. Die Berge Arkadiens, die ich durchquerte, zeigten ihre paradiesische Schönheit, und das Meer war blau und die Sonne war warm. Ich fotografierte ohne Unterlass und schickte die Bilder per Handy dem Griechen, der in Hamburg saß und fror.

Das war meine Rache, und sie schmeckte so süß wie Joghurt mit 
Honig.