Mojito, Ceviche und die Wiedergeburt des Größten

Magische Tage in Cartagena. Ein Besuch in Kolumbiens schönster Hafenstadt unter Berücksichtigung von rohem Fisch, würzigen Getränken und dem Buch der Bücher.

Text von Christian Seiler · Illustration von Markus Roost

Macondo war damals ein Dorf von zwanzig Häusern aus Lehm und Bambus am Ufer eines Flusses mit kristallklarem Wasser, das dahineilte durch ein Bett aus geschliffenen Steinen, weiß und riesig wie prähistorische Eier. Die Welt war noch so jung, dass viele Dinge des Namens entbehrten, und um sie zu benennen, musste man mit den Fingern auf sie deuten.“

Ich hatte mir natürlich Hundert Jahre Einsamkeit auf den Kindle geladen, als ich Cartagena ansteuerte, auch wenn ich den epochalen Roman von Gabriel García Márquez in zweifelhafter Erinnerung hatte. Beim ersten Lesen war er mir als zu lang, schwermütig und ausschweifend ­erschienen, ich hatte den Bahnsteig neundreiviertel nicht gefunden, von dem aus ich vielleicht in die magische Welt des Obersten Aureliano Buendía abgefahren wäre.

Aber seit ich wusste, dass das Macondo aus Hundert Jahre Einsamkeit eine reale Entsprechung hat, den Küstenort Cartagena, malerisch gelegen an der nordöstlichen Karibikküste Kolumbiens, las ich das Buch von Neuem, aufmerksam und irgendwie aufgeregt. Klar, es gibt auch die Theorie, dass mit Macondo Aracataca gemeint sei, der Geburtsort von Márquez, aber diese Möglichkeit kam fürs Erste nicht in Betracht.

In Hundert Jahre Einsamkeit geistern so viele magische Figuren durch die Seiten, dass ich nicht ausschließen wollte, dass die eine oder andere gerade auf Urlaub in der realen Welt sein könnte. García Márquez hatte schließlich selbst in Cartagena gewohnt, wenn er nicht gerade mit Fidel Castro Tischtennis spielte oder in Oslo Nobelpreise entgegennahm. Ich würde mir sein Haus anschauen, hatte ich mir vorgenommen, mich mit dem Rücken an seine Mauern lehnen und die Augen schließen, um zu spüren, ob es etwas zu spüren gibt. Das war mein Plan A für Cartagena.

Ich hatte noch die Pläne B und C. Don Beda hatte mir schließlich ein paar Tipps mit auf den Weg gegeben, die sich auf wundersame Weise mit den Empfehlungen trafen, die Signora Monica mit auf die Reise genommen hatte. Signora Monica ist eine Stimmungsreisende, wie ich noch keine getroffen habe. Sie kon­trolliert Hotels, die für einen Aufenthalt in Frage kommen, mit der Akribie einer Truppeninspektorin, die gerade Quartiere für den Generalstab in Beschlag nimmt. Sie wünscht alle Zimmer zu sehen, und wenn das Zimmer, das ihr als das beste erscheint, zufällig bereits besetzt ist, verfügt sie die Aus- oder Umquartierung der anmaßenden Gäste, die zuerst da gewesen sind. Ich kann jedem von euch empfehlen, in ihrer Gesellschaft zu reisen, denn da sie ohne jeden Zweifel das beste Zimmer kennt und für sich beansprucht, weiß sie auch, welches Zimmer das zweitbeste ist, und das bleibt, wenn ihr schnell und skrupellos genug seid, für euch.

Das zweitbeste Zimmer im Hotel Quadrifolio lag im Erdgeschoss des ehemaligen Kolonialhauses an der Carrera 5. Das Fenster eröffnete den Blick auf das kleine Schwimmbad, das in den kleineren der beiden Innenhöfe gebaut worden war. Das Bett war groß, breit und besaß andeutungsweise einen Himmel, freilich ­ohne Stoff. Die Möbel waren von unaufdringlicher, aber ausgesuchter Schönheit. Das verschwenderisch große Badezimmer mündete in einen kleinen, privaten Hof, von dem aus man den Himmel sehen konnte.

In Wandnischen saßen kleine Figuren aus Holz.

Ihre Gesichter waren schmal und schwarz, hohe Backenknochen, stechender Blick. Die eine Statuette, deren Aufgabe es war, das Bett nicht aus den Augen zu lassen, sagte, als ich das Zimmer bezog, laut und deutlich: „Don Christo, ich heiße Sie willkommen!“ Keine Ahnung, wo der Typ Deutsch gelernt hat.

Plan B, das beste Hotel am Platz zu beziehen, war ­also erledigt, und ich neigte voreilig dazu, auch schon daran zu glauben, dass ich den ersten Grenzgänger zwischen Macondo und Cartagena kennengelernt hatte. Da sollte ich freilich noch eines besseren belehrt werden.

Das Zimmer von Signora Monica war übrigens eine Pracht. Es lag im ersten Stock und kannte alle Spiel­arten des Halbschattens, wie er in der Karibik verbreitet und kostbar ist. Auch das konnte man ganz einfach auf die Genialität von José Arcadio Buendía zurückführen, wenn man die entsprechende Textstelle aus Hundert Jahre Einsamkeit kennt: „José Arcadio Buendía, der unternehmungsfreudigste Mann, der je im Dorf gesehen worden war, hatte die Siedlung so geplant, dass man von jedem der Häuser den Fluss erreichen und mit gleicher Mühe Wasser schöpfen konnte, er hatte auch die Straßen so geschickt gezogen, dass in der Stunde der größten Hitze kein Haus mehr Sonne empfing als ein anderes. In wenigen Jahren war Macondo das ordentlichste und arbeitsamste Dorf von all denen, die seine dreihundert Einwohner bisher gekannt hatten. Es war wahrlich ein glücklicher Ort, in dem niemand älter als dreißig Jahre und in dem noch niemand gestorben war.“

Tatsächlich ist der Grundriss Cartagenas von den dicken, hohen, begehbaren Stadtmauern bestimmt, welche die Form eines Pentagramms besitzen und die streng geometrisch organisierte Altstadt umgeben. Von der nördlichen Seite dieser Stadtmauer hat man einen großartigen Blick aufs Meer, woher ein warmer Wind weht.

Eine riesige kolumbianische Fahne knattert, und ein vernünftiger Unternehmer hatte das dringende Bedürfnis, an dieser denkwürdigen Stelle zu stehen, aufs Meer hinauszuschauen und dazu einen Drink zu nehmen, klug antizipiert. Das Café del Mar, tagsüber der prallen ­Hitze ausgesetzt und daher unbewohnbar, öffnet in den Zeiten der Dämmerung und serviert Bier, Cocktails, Snacks und laute, pulsierende Popmusik – ein buntes, vielgestaltiges Paket an Stimmungen.

Es ist die Stunde, wenn draußen am Meer die Fischkutter ihre Funzeln einschalten, die Wolkenkratzer von der nahen Halbinsel Bocagrande Haltung annehmen und die Kirchen der Altstadt zuckerlrosa illuminiert werden, als hätte Jeff Koons persönlich das ­Beleuchtungskonzept besorgt. Ton in Ton defilieren ein Zuckerwatteverkäufer und die Abendrotwölkchen, und das erste Bier wird ohne Umschweife gegen das zweite eingetauscht, leicht und mit dem sublimen Geschmack von Zitronen, animierend und narkotisierend zugleich.

Denn es ist heiß. Es ist feucht. Auch wenn du nicht schwitzt, liegt ein feuchter Film auf deiner Haut, wobei das theoretisch ist. Du schwitzt nämlich hundertprozentig, und wenn nicht vor, dann sicher nach dem zweiten Bier.
Signora Monica wusste es wieder einmal besser. Sie bestellte Sprudel, kleine Einheiten, eiskalt, aber ohne Eis. Ich begriff zwar nicht, wie sie das anstellte, aber die Bedienung, zuständig für vielleicht zweihundert Sonnenuntergangstrinker, sah bereits am sich kräuselnden Schwung von Signora Monicas Lippen, dass sie ein neues Getränk wünschte, während die amerikanischen Backpacker noch immer verzweifelt versuchten, die Aufmerksamkeit der Waitress auf sich zu lenken.

Dann tauchten wir in den Abend ein. Er war bunt wie die Fassaden der Häuser, an deren Pforten gusseiserne Beschläge prangten, ein Poseidon, ein Seepferd, ein Krokodil – alles Chiffren für die Verbündeten der Gegenwelt, die ihrem Haus zur Seite stehen. Die meisten Häuser hatten nur ein Stockwerk, nur wenige ein zweites. „An der Art und Weise, wie im Oberstock die Balkone und Veranden getischlert sind, kann man erkennen, ob die Besitzer mit den Franzosen oder den Spaniern sympathisierten“, erklärte mir Signora Monica. Keine Ahnung, wo sie diese Informationen wieder erhalten hatte.

Wir wollten im La Vitrola essen. Don Beda hatte mir gesagt, dass man nirgends besser esse als hier, er empfehle mir, jeden Tag im La Vitrola zu essen und nur die Mojitos woanders einzunehmen.

Ich schätze sein Urteil. Don Beda ist unbestechlich, er subtrahiert alle Reize wie Geschirr, Licht, Freundlichkeit des Personals und Bequemlichkeit des Sitzens von der Substanz dessen, was auf den Tisch kommt und bewertet den Saldo. Das Essen muss pur, schlank und transparent sein, sonst fällt es augenblicklich aus der Gnade. Das passiert oft, eigentlich fast immer.

Aber im La Vitrola gab es keinen Tisch. Obwohl die schöne Concierge aus dem Quadrifolio sich am Telefon sichtlich Mühe gab, fiel das Ergebnis negativ aus.

„Leider“, sagte die Concierge. „Ausgebucht. Heute ausgebucht, morgen ausgebucht, übermorgen ausgebucht.“

„Trotzdem danke“, sagte Signora Monica und seufzte: „Amateurin …“

„Was machen wir jetzt?“, fragte ich.

„Was wohl“, meinte Signora Monica, „wir essen im La Vitrola.“

Das funktionierte so: Wir schlenderten durch die Altstadt, gaben der enormen Bronzestatue von Fernando Botero, die auf der Plaza Santo Domingo eine liegende Nackte darstellt, einen Klaps aufs Hinterteil und bogen in die Calle Baloco ein, wo La Vitrola etwas abseits vom Geschehen in der Nähe der Stadtmauer liegt. Als wir ankamen, ­befahl mir Signora Monica, auf der Straße stehen zu bleiben und mich ruhig zu verhalten, und betrat das Restaurant, wo ein livrierter Kellner sie in Empfang nahm. Dann schloss sich die Tür, ich ging zweimal auf und ab, ehe sich die Tür wieder öffnete und der Chef des Hauses nach mir rief: „Señor, Ihr Tisch ist fertig!“

Natürlich fragte ich Signora Monica, wie sie das hingekriegt hatte, dass wir nicht nur einen Tisch, sondern den besten Tisch für sechs Personen bekamen, von dem aus man einerseits das ganze Restaurant im Blick hatte, andererseits auch die lang gestreckte Bar, wo gerade eine komplette Salsaband Aufstellung nahm, um sich für den Ansturm der Abendgäste zu formieren. Aber sie lächelte nur und ersparte mir die Abfuhr. Man muss sich zu helfen wissen, sagte das Lächeln. Wie man sich zu helfen wissen muss, verriet das Lächeln nicht.

Dann begann die Musik.

Die Band kam aus Kuba, sie spielte zum Aufwärmen „Chan Chan“, den Gassenhauer, den vor zwanzig Jahren der „Buena Vista Social Club“ rund um die Welt geschickt hat.

Das ganze Lokal schien den Rhythmus ganz selbstverständlich zu inhalieren. Musik ist in Cartagena allgegenwärtig. Auf der Straße steuern dich zuweilen lustige, hagere Typen mit verkehrt herum aufgesetzten Baseballmützen an, schalten einen Lautsprecher ein, den sie unter dem Arm tragen, und beginnen zum Rhythmus zu rappen.

Ich verstand zwar nichts außer „Cartagena“ und „cool“, aber das reichte für ein vernünftiges Trinkgeld. Wieder deutete alles auf Macondo: „Junge Männer und Frauen, die nur ihre eigene Sprache sprachen, schöne Menschenkinder mit olivfarbener Haut und klugen Händen, deren Tänze und Musik auf den Straßen einen Wirbel ausgelassenster Fröhlichkeit entfesselten.“ Zur Vorspeise gab es Ceviche. In Cartagena gibt es überall Ceviche, an vielen Ecken der Stadt befinden sich Cevicherien, wo nichts anderes serviert wird als roher Fisch mit einem scharfen, fruchtigen Dressing, wobei sich nie voraussagen lässt, mit wie viel Schärfe der Koch seine „Leche de Tigre“, die Mischung aus Limette, Chili, Fischstücken, Gewürzen und Öl, anrührt, um dem Fisch oder den Meeresfrüchten die richtige Würze mit auf den Weg zu geben.

Es gab rohen Thunfisch, rohen Pulpo, rohen Zacken­barsch, rohe Krabben. Dann aß ich zwei Portionen von der Avocado mit Salsa Roja. Dann die kleinen, knusprig frittierten Pulpos mit Tomaten und Basilikum. Als Hauptspeise wurde das Filet vom Mero, dem Zackenbarsch, in den verschiedensten Variationen angeboten, mit Kräutern, Weißweinreduktion, Ingwersauce und Garam Masala. Ich nahm es mit Langostinos und Krustentiersauce, das funktionierte gut.

Außerdem hatten die Typen von La Vitrola – auf Deutsch: Die Jukebox – ein Händchen für starke Getränke. Sie schüttelten die Mojitos nur so aus dem Ärmel, und ich muss zugeben, dass ich mich zunehmend wohlfühlte, tief in meinem Stuhl hockend, die Ärmel des weißen Hemds aufgekrempelt, die Sängerin der Salsaband im Visier, die gerade den nächste kubanischen Hadern anstimmte, und den lang anhaltenden Geschmack der etwas scharfen Sauce auf dem Gaumen, die meinen Mero begleitet hatte.

Ich betrachtete die Bilder an der Wand. Sie zeigten Menschen, deren selbstgewisses Lächeln darauf schließen ließ, dass sie berühmt waren. Man sah Häuser, wie sie in Cartagena, vielleicht aber auch in Havanna stehen konnten, und mir fiel die Geschichte ein, die Don Beda erzählt hatte. Im La Vitrola hatten sich stets alle getroffen, die woanders heftig ­abgestritten hätten, einander überhaupt zu kennen. Politiker, Militärs, Botschafter und Helden der Unterwelt.

Tatsächlich hatte sich dieses zur Diskretion verpflichtete Wissen in den Gesichtern der Kellner und Pikkolos eingegraben. Es gibt nichts, was wir noch nicht gesehen haben, sagte ihr nachsichtiges Lächeln, und das animierte mich natürlich, noch einen dritten Mojito zu nehmen. Als ich etwas später zu mir kam, holte mich Signora Monica gerade aus dem Schwimmbad im Quadrifolio.

„Du hast getanzt“, sagte sie mir zur Erklärung, warum sie mich offensichtlich abgeführt und in den Pool gesteckt hatte. „Es war nicht zum Ansehen.“

In der Nacht träumte ich von fliegenden Eidechsen. In der Früh stand ich auf, bevor die Sonne aufgegangen war, und machte mich auf den Weg zum Haus von Gabriel García Márquez. Das Haus liegt hinter ­einer hohen, ziegelsteinroten Mauer direkt an der Stadtmauer von Cartagena, allerdings an einer Stelle, wo die Stadtmauer niedrig und der Blick auf das karibische Meer unverstellt ist. Es ist eines der wenigen Häuser, deren Herkunft ganz offensichtlich nicht historisch ist. Terrassen und ­Veranden sind postmodern übereinander gestapelt. Auf dem Dach befindet sich eine mit Stahlgeländern gesicherte Terrasse samt Strohdach und Palme, sodass ich gar nicht anders konnte als mir vorzustellen, wie der große Schriftsteller und Moralist sich dort oben räkelte, nachdem er auf­gestanden war, seinen ersten Kaffee nahm, die erste Zigarette rauchte und den Blick über den vertrauten und doch stets neuen Horizontbogen des Ozeans schweifen ließ – jenes Ozeans, den auch ich gerade betrachtete.

Wie ich es mir vorgenommen hatte, ging ich zum Haus von García Márquez und lehnte mich an die Mauer. Dann schloss ich die Augen, um zu spüren, ob von der angenehm kühlen, ziegelsteinroten Mauer mehr ausging als bloß das kinetische Gefühl der Stützung.

„Buooh.“

Ich riss die Augen auf, weil mich ein metallisches Geräusch aus meinen Gedanken holte.

„Buohhwohwoh …“

Das blecherne Geräusch verwandelte sich in eine Melodie. Die zarten Farben des frühen Morgens wurden von der Sonne auf­gelöst, deren Strahlen just in diesem Moment die Stadtmauer erreichten. Dort stand ein junger Mann im gestreiften T-Shirt und übte Posaune. Er spielte eine schöne, sehnsuchtsvolle Melodie, die mich verzauberte. Dann setzte er, mitten im Melodiebogen, das Instrument ab, warf mir einen kecken Blick zu, lachte laut und verschwand.

In den Gassen hatten inzwischen fahrende Händler ihre Stände aufgebaut. Ich kaufte mir für ein paar Pesos eine Mango, die der Verkäufer kunstvoll schälte und in Stücke schnitt, bevor er sie mir in einem Plastikbecher überreichte.

Die Mango war reif und schmeckte süß und mollig. An anderen Ständen kochten die Verkäuferinnen Reis, der gezuckert und in Bananenblätter eingeschlagen wurde. An einzelnen Ständen, wo es Suppe gab, drängten sich die Menschen, die augenscheinlich auf dem Weg zur Arbeit waren. Wo die längste Schlange stand, frittierte der Verkäufer runde Fladen aus Maismehl im heißen Öl, dazu gab es Saft von vollreifen Melonen.

Ich streifte durch die Straßen Cartagenas und konnte die Melodie der Posaune nicht vergessen. Auf den Plätzen, die von riesigen, mehrstämmigen Bäumen überschattet wurden, waren die besten Plätze im Schatten schon besetzt. Alte Männer spielten Schach. Händler drängten sich mit ihren Wägelchen zusammen. Menschen schauten in die Luft oder lasen die Zeitung. Touristen checkten den Stadtplan auf ihren Handys. Es herrschte akustischer Waffenstillstand, vor allem, weil die Hip-Hopper mit ihrem Transistorschlagzeug noch nicht unterwegs waren.

Natürlich hatte Signora Monica eine Idee fürs Mittagessen. Im Santa Clara, das seit ein paar Jahren zur Sofitel-Gruppe gehört, gab es einen Innenhof, der weniger wie ein Garten, sondern eher wie ein notdürftig gezähmtes Stück Dschungel wirkte. Palmen, Bananenstauden und jede Menge exotischer Farne und Blumen belebten den Innenhof. Er wurde von einem bequemen Gang umgeben, dessen Boden geziegelt und pittoresk mit schweren Kolonialmöbeln vollgestellt war.

Dort gab es niedrige Tische und mit erdfarbenen Polstern belegte Bänke, wo die eleganten Kellner Mojitos servierten und perlende Getränke ohne Eis. Wenn man mit Signora Monica unterwegs ist, werden dort auch kleine Teller mit so wunderbarer gewürzter Ceviche serviert, dass man die im La Vitrola getrost vergessen kann.

Ich erzählte von dem Posaunenmann und ließ mich auslachen. In den Wipfeln der Palmen schrieen Papageien. Der frühe Nachmittag nahm Gestalt an – grüne Palmen, grüne Mojitos –, und unterschied sich nicht besonders von dem Traum der letzten Nacht, außer dass es bunte Vögel waren, die durch das Grün flatterten, und keine glänzenden Eidechsen.

Cartagena ist eine Schönheit, deren Zauber aus der Balance zwischen Mystik, Historie und Farbenpracht besteht. Bogotá war hingegen schwarz gewesen, schwere Steinbauten, riesige Plätze, wuchtige Architekturen selbst im historischen Viertel. Das reiche Angebot an lateinamerikanischen Restaurants wurde von der Warnung überschattet, dass es später am Abend alles andere als sicher sei, allein durch die Straßen zu ziehen, eventuell noch benebelt durch den Genuss von einer Flasche Wein oder ein paar Bieren. Bogotá ist keine Mojito-Stadt. Die kolumbianische Hauptstadt liegt auf 2.600 Meter, das Wetter ist alles andere als tropisch, die Temperaturen liegen immer an der Grenze zur Ungemütlichkeit.

Auch Santa Marta hatte wenig Charme. Die ­Ferienmetropole, von der aus Wanderungen in den Dschungel oder Expeditionen in die Bananenplantagen beginnen, ist nicht viel mehr als eine Ansammlung von Hochhäusern an einem karibischen Strand. Klar, um fünf Uhr früh kommen die Fischer vom Meer zurück und verkaufen ihren frischen Fang am Strand an die Einheimischen. Sie bevölkern den makellosen Sandstrand, solange die Sonne noch nicht über die Berge gestiegen ist und die Szenerie augenblicklich in ein drückendes Glutnest verwandelt.

Ich hatte mir in Bogotá das historische Viertel erwandert und einen Besuch im Goldmuseum gegönnt, das mit der Schönheit seiner aztekischen Exponate alle Vorstellungen sprengt. Ich hatte in Santa Marta Einblick in die Produktionsweise der Bananen gewonnen, die wir uns, ohne einen Gedanken an Herkunft und Herstellungsweise zu verschwenden, täglich aus dem Supermarkt holen. Ich war auf den Sommersitz eines Plantagenbosses eingeladen worden, der ziemlich eindeutig nach James Bond aussah, und ließ mich von den Eskorten des Sicherheitsdienstes immer wieder daran erinnern, dass der Friede zwischen Regierung und den Rebellen der FARC noch sehr neu und noch nicht gefestigt ist.

Die Fahrt nach Cartagena war die Apotheose der Reise. Signora Monica hatte einen Kleinbus bestellt, mit dem wir die 400 Kilometer von Santa Marta nach Cartagena fuhren. Und weil sie wusste, wie die Bluetooth-Funktion des Autoradios zu bedienen ist, verschaffte sie uns zum Anblick unbevölkerter Küstenkilometer, Slums und Mangrovenwälder einen Soundtrack von Hubert von Goisern, was für interkulturelle Grundierung sorgte.

Ich hockte inzwischen auf meinem Sitz in der letzten Reihe und studierte Hundert Jahre Einsamkeit. Irgendwie wusste ich, dass ich in Cartagena etwas Besonderes, etwas Unvergessliches erleben würde.

Abends gingen wir mit einer großen Gesellschaft ins Donjuán. Es gab Ceviche vom Seebarsch und vom Pulpo mit gelben Paprika und frischer Kokosmilch, ein Gedicht. Auch das Tataki vom Rinderfilet mit Tamarinde und Ponzusauce hatte ziemlich Kraft. Dann nahm ich den gegrillten Seebarsch mit Zitronenrisotto und frischem Parmesan. Das Gericht hatte eine südeuropäische Aura. Juan Felipe Camacho, der junge Küchenchef, hat also nicht umsonst in San Sebastián bei Juan Mari Arzak gelernt. Er hat dessen Präzision karibisiert und füllt das schöne, abwechselnd mit schwarzen und weißen Kacheln geflieste Lokal, wo die Stimmung ohnehin hohe Wellen schlägt, mit handfester Qualität.

Als wir das Lokal gegen Mitternacht verließen, standen neue Hip-Hopper vor der Tür, die bisher besten, die wir gesehen hatten. Sie waren zu viert, und sie waren so eifersüchtig auf die Soli ihrer Kollegen, dass sie Gas gaben, als gäbe es kein Morgen. Das ist in Cartagena, wo die Realität ein bisschen schief hängt, allerdings sowieso stets eine Option.

Die nächsten Tage verbrachte ich zwischen dem Santa Clara und den verschiedensten Futtertrögen. Einmal verköstigte ich mich an der Fritteuse einer bunt gekleideten Garköchin von außerhalb, die köstliche, mit Faschiertem gefüllte Enchiladas produzierte, ein anderes Mal aß ich bei Juan del Mar an der Plazuela de San Diego mehrere Portionen Ceviche, die auf großen Tellern in Fischform serviert wurden.

Und natürlich las ich weiter in Hundert Jahre Einsamkeit. Längst hatte ich das Hotel Makondo entdeckt, an dessen Fassade der Kopf von Ga­briel García Márquez in grotesker Größe abgebildet war, samt einem für das Hotel brauchbaren Zitat: „Ningún lugar en la vida es más triste que una cama vacía.“ – „Kein Platz im Leben ist trauriger als ein leeres Bett.“ Ich bezog das vor allem auf die Vermieter von Betten, aber vielleicht hat es der große Gabo auch ganz anders gemeint.

Ich hörte Hip-Hopper. Ich nahm in jeder der zahlreichen Havanna-Bars einen Mojito, selbst in der, die draußen auf der Fassade einen lebensgroßen Lenin appliziert hatte. Ich saß mit den Einheimischen unter den vielstämmigen Bäumen auf den heißen, staubigen Plätzen und trank Cola oder Bier. Ich schaute Halbwüchsigen dabei zu, wie sie in der Mittagshitze Fußball spielten, und anderen, wie sie in einem Pavillon an der Stadtmauer Salsa tanzten. Ich las. Ich saß. Ich folgte dem Ruf von Signora Monica, wenn sie mich per SMS ins Santa Clara befahl, um ihr Gesellschaft bei einem Sprudelgetränk zu leisten.

Als ich an meinem letzten Tag in Cartagena wieder einmal durch die Stadt streifte, fiel mir plötzlich auf, dass die Straßen voller waren als sonst. Auch waren nicht die üblichen Shortträger mit ihren T-Shirts vom Hard Rock Cafe unterwegs, sondern Einheimische, die sich ganz offensichtlich herausgeputzt hatten. Sie trugen weiße Hemden und helle Hosen, manche hatten ihre Latschen und Flip-Flops ­sogar gegen geschlossenes Schuhwerk getauscht. Es hätte mich nicht gewundert, wenn die Menschenmenge die Catedral de Santa Catalina de Alejandría de Carta­gena de Indias angesteuert hätte, diese große, kitschige Kirche, die sich der Formel-1-Fahrer Juan Pablo Montoya für seine Hochzeit gemietet hatte.

Aber die Menschen strebten in die entgegengesetzte Richtung, nicht ins Zentrum, sondern zur Stadtmauer, wo das Teatro Heredia steht. Aber auch das Teatro gab keine Vorstellung, sondern die Menschen gingen weiter zum ehemaligen Kloster La Merced, das inzwischen mehrere Universitätsinstitute beherbergt.

Vor La Merced war eine Absperrung aufgestellt worden. Polizisten kontrollierten, ob die Menschen, die in den Innenhof des Klosters wollten, eine gültige Einladung besaßen. Ich hatte keine Ahnung, worum es ging, aber ich ließ mich mit den Einheimischen Richtung Kontrollposten treiben. Im Inneren von La Merced, soviel konnte ich sehen, nahm eine Militärmusik Aufstellung. Etwa 200 Stühle waren im Karree aufgestellt. Zwischen Publikum und der Musik befand sich ein verhülltes Etwas, um das sich alles zu drehen schien. Das Gefühl, dass ich dieses Etwas auf keinen Fall versäumen durfte, wurde plötzlich drängend.

Als vielleicht noch vier oder fünf Menschen vor mir an der Reihe waren, begann die Musik zu spielen, etwas Feierliches, Beschwingtes. Die Menschen nahmen Haltung an. Es war die Nationalhymne Kolumbiens.

In diesem Augenblick spürte ich etwas Magisches: Ein Blatt Papier glitt von hinten in meine Hand. Als ich das Kärtchen überrascht anschaute, konnte ich meinen Namen lesen und die Überschrift: „Invitación“. Es war meine Eintrittskarte zu diesem Staatsakt.

Ich drehte mich um, um mich bei dem merkwürdigen Geist zu bedanken, der das Unwahrscheinlichste Wirklichkeit hatte werden lassen, aber hinter mir stand kein Geist, sondern Signora Monica.

Natürlich sagte sie nicht, wo sie die Einladung her hatte. Sie sagte nur: „Beeil dich“, und schubste mich zur Kontrolle, wo ich bereits an der Reihe war.

Wir kamen genau in dem Moment, als sich die Anwesenden, welche die Hymne mit der Hand auf dem Herzen mitgesungen hatten, wieder setzten. Wir hatten Plätze in der zweiten Reihe, vor uns Menschen mit Orden am Revers und andere mit feinen Gesichtszügen, der Auszeichnung, die ein Leben voller Interesse und Neugier verleiht.

Es folgten Reden. Ich verstand kein Wort, außer, dass hier jemand zur letzten Ruhe gebettet würde. Der Rektor der Universität hielt eine kleine Urne. Erst als die Stele, in der die Urne beigesetzt werden sollte, endlich enthüllt wurde, ­begriff ich: Das war die Asche von Gabriel García Márquez, der 2014 in Mexico City gestorben war und immer davon gesprochen hatte, nach Cartagena zurückkehren zu wollen.

Heute war das der Fall. Die Hälfte der Asche war nach Hause gekommen. Mercedes Bacha, seine Witwe, saß in der ersten Reihe, neben ihren Söhnen Gonzalo und Rodrigo, Schriftstellern, Politikern, Prominenten  – und uns. Nachdem die Urne ihren Platz gefunden hatte, wurde die Büste von Gabos Charakterkopf enthüllt, die Kate Murray, eine britische Bildhauerin, geschaffen hatte.

Dann schwebten von der Galerie der Universität tausende gelbe Schmetterlinge. Es war ein Bild, das allen Anwesenden ein magisches Lächeln aufs Gesicht zauberte, und mir fiel der Satz von Gabo ein, den ich gelesen hatte, bevor es mich nach Cartagena verschlagen hatte:„Kaum war ich innerhalb der Festungsmauern, lag die Stadt im malven­farbenen Sechs-Uhr-Abendlicht in alter Pracht vor mir, und das Gefühl überkam mich, wiedergeboren zu sein.“

Und ich war Zeuge dieser Wiedergeburt.