Poesie jenseits des East River
Brooklyn und seine vielen Gesichter: Wie ich lernte Cocktails zu trinken, mit Chassiden zu tanzen und mir Sorgen zu machen, dass ich genug esse, um noch mehr zu trinken.
Text von Christian Seiler · Illustration von Markus Roost
Brooklyns bunteste Tätowierung ist Manhattan.“ Solche ewigen Sätze fielen mir, wenn ich das Gekrakel richtig entziffere, in der Bar des Wythe-Hotels ein, wo ich mich gegen Vorlage meines Führerscheins in Sicherheit gebracht hatte. Das Wythe-Hotel befindet sich in Williamsburg, was wiederum die derzeit schickste Neighborhood von Brooklyn ist, und ich kann feierlich schwören, dass die Aussicht auf die Skyline von Manhattan niemals schöner ist als bei Sonnenuntergang in dieser Bar mit dem etwas dramatischen Namen „The Ides“, nachdem du anderthalb Moscow Mules erledigt hast. Das ist genau der Moment, bevor der letzte halbe Moscow Mule – Wodka, Ginger Beer und Lime – dich erledigt, und du tust gut daran, das Aufwallen deiner Gefühle augenblicklich zu Papier zu bringen.
Weil die Abendsonne taucht Manhattan in diesen magischen Glanz. Das neue World Trade Center erledigt hochtrabend und glamourös seine Pflicht als höchste Hütte New Yorks, das Empire State Building ist immer noch das eleganteste Hochhaus der Stadt, nur an der Madison Avenue ist ein so hohes und gleichzeitig schlankes Gebäude in den Himmel gewachsen, dass man auf die Idee kommen könnte, der Architekt habe beim Lego-Spielen alle seine Steine mit vier Noppen zu einem einzigen Turm verbaut.
Was man so denkt, wenn sich das Abendlicht im Moscow Mule bricht, der jetzt – im Gegensatz zu mir – schon wieder gefährlich leer aussah. Ich dachte mir gerade, was wohl die tiefere Weisheit in dem Spruch sei, den der Chililaden gegenüber dem Hotel auf einem Schild hinaus auf die Straße gestellt hatte: „If you don’t like hot sauce you’re stupid“. Überhaupt setzten diese Schilder, die meisten mit bunten Kreiden bemalt, große, undurchdringliche Wahrheiten in die Welt, wobei, Moment, etwas hatte ich verstanden: Das dicke Gesicht mit der blonden Tolle, das der Zeichner so kommentiert hatte: „The Donald has never touched a drop of booze. Neither did Hitler“.
Wenigstens hier kam ich nicht in schlechte Gesellschaft. Ich leerte den Moscow Mule, schon aus Antifaschismus und um mich als Kritiker von Donald Trump zu erkennen zu geben und summte dazu „Back in the U.S.S.R.“.
Und weil ich dann zum ersten Mal seit langer Zeit auf die Uhr schaute, bemerkte ich, dass ich mich sputen musste, wenn ich meinen Tisch im Traif rechtzeitig erreichen wollte. Ich verabschiedete mich von der Skyline, ließ mich noch einmal vom Chililaden gegenüber beleidigen – sorry, aber ich kann mit Euren Säureattentaten nichts anfangen, Ihr Hot-Sauce-Flaschen, und machte mich dann auf die Suche nach einem Taxi.
Weil eines hatte ich in den Tagen in Brooklyn gelernt. Zwar schauen die Köche und die Kellner aus, als hätten sie bei der Tombola eines Tattoostudios alle den Hauptpreis gewonnen, aber deshalb sind sie nicht minder streng, was Pünktlichkeit bei Reservierungen betrifft. Auch die Hipsterhütten, durch die ich gezogen war, haben in ihren Businessplänen die doppelte oder dreifache Abendbelegung ihrer wenigen Tische vorgesehen, so dass sie die halbe, dreiviertel Stunde, die hierzulande als akademisches Viertel akzeptiert wird, als Abweichung von der Norm betrachten und den Tisch sofort an den nächsten, der fragt, weitergeben.
Und da ist immer ein nächster, der fragt. Denn die bunten Gastronomen haben sehr wohl gelernt, dass akkurates Zeitmanagement dem Businessplan schmeichelt, dass es aber für beschissene Stimmung sorgt, wenn zum Beispiel der Barbereich des Restaurants – und, Freunde, fast jedes dieser Restaurants hat einen Barbereich – verödet und leer ist. Deshalb werden ein paar Tische für Reservierungen freigegeben, andere unterliegen der alten Regel: first come, first serve.
Auf diese Weise hatte ich mir zum Beispiel ein grandioses Abendessen im Willow, 506 Franklin Avenue, eingefangen, direkt bei der Station der A- und der C-Line auf ihrem Weg von den Tiefen Brooklyns hinüber nach Manhattan. Ein winziges Lokal, Bistrotische, stylishe Stühle, großes Schaufenster hinaus auf die Franklin, die Küche so groß wie ein Puppenhaus und das Essen so speziell und überzeugend, dass ich die New Yorker Mode der Farm-to-table-Kulinarik explosionsartig ernst zu nehmen begann. Es gab eine kalte Maissuppe mit Muscheltatar und gewürztem Schweinefett, Sommererbsen mit Zitronenschalen, Kren und Joghurt, eine geräucherte Makrele mit Wassermelone, Tequila und Chili, die besonders grandios war.
Scheiße, dachte ich mir schon nach den ersten Tellern, die Typen meinen es wirklich ernst. Zwar wird das Essen mit lässigem Schick angerichtet, aber die Ideen zu den einzelnen Gerichten sind messerscharf gedacht und gehen auch keinem Aufwand aus dem Weg. Die Makrele zum Beispiel, deftig und fleischig, war mit der süßen Eleganz der Wassermelone in perfekte Übereinstimmung gebracht worden, die Brücke zwischen Aromen wurde von der sanften Säure einer Meyer-Zitrone und dem Kick eines Schusses Tequila geschlagen, aromatisiert mit der Schärfe einer Chilischote. Das war, gemessen an der Winzigkeit der Hütte, schon ziemlich Hollywood.
Und es wurde nicht schlechter. Auch die Saubohnen mit Frischkäse, geriebener Zitronenschale und Lammfonds waren hervorragend, und der Wildschweinbauch mit Haselnüssen und Erbsen trug etwas Kräftiges, aber auch Elegantes zum Essen bei, bevor ich noch ein paar Scheiben vom 75 Tage lang gereiften Rindsfilet verzehrte.
Das Willow war übrigens der kleinere Zwilling von The Pines in Gowanus, 284 3rd Avenue, wo ebenfalls „moderne, amerikanische Küche“ zelebriert wird, was der Sammelbegriff für diesen nur scheinbar unkomplizierten, eklektizistischen Küchenstil ist. Zwillings- und Drillingsauftritte von Restaurants sind hier die Regel. Sobald eine Hütte zu funktionieren beginnt, werden schon Ableger in Erwägung gezogen, und genauso schnell, wie ein gerade noch gehyptes Restaurant plötzlich verschwindet und einem anderen oder einem Barber-Shop oder einem Spezialgeschäft für scharfe Saucen Platz gemacht hat, vermehren sich erfolgreiche Konzepte und probieren neue Standorte aus.
Das Willow zum Beispiel hat ziemlich tief in Brooklyn eine Lockvogel-Funktion übernommen. Rundherum ist von Hipsteristan noch überhaupt nichts zu spüren. Da gibt es Geschäfte für afrikanische Textilien, Reifen oder Alarmanlagen, aber wer weiß. Es ist noch nicht ewig her, dass selbst den Rändern von Brooklyn etwas Verruchtes und Gefährliches anhaftete, dieselbe Stimmung, die sich heute immer weiter nach Osten zurückzieht, dort aber durchaus massiv wird.
Sagen wir so: Zwei Tage, nachdem ich auf der Terrasse des Wythe-Hotels als Aphoristiker debütiert hatte, las ich in der New York Times, dass bei einer Schießerei in Brownsville neun Menschen zu Schaden gekommen seien, zwei davon tödlich, und für einen anderen toten Mann in derselben Woche fehlten sowohl Mörder, Waffe als auch Motiv.
Nun ist Brownsville ein anderes Wort für den sozialen Hinterhof New Yorks. Im MOMA gab es dazu in Form der Ausstellung „Design and the Elastic Mind“ Erklärungsansätze des „Spatial Information Design Labs“. Die kreativen Datensammler zeigten auf einer eindrucksvollen Infographik, dass die am besten alimentierte, städtische „Nachbarschaftseinrichtung“ in Brownsville das Gefängnis ist. Allein für die Bewohner von siebzehn Blocks in Brownsville wurden im Jahr 2003 siebzehn Millionen Dollar ausgegeben – dafür, dass man sie eingesperrt hat. Jedes Haus ist mit den Kosten für seine eingeknasteten Bewohner bezeichnet, was diesen Straßenzügen auch den zynischen Titel „Million Dollar Blocks“ eingetragen hat.
Ich hatte in „Crown Heights“ Quartier bezogen, einer Neighborhood, die sich genau an der Wasserscheide zwischen Gentrifizierung und Million Dollar Blocks befindet. Im Westen grenzt „Crown Heights“ an die Quartiere, die längst zu Manhattan aufgeschlossen haben. Prospect Heights, Park Slopes und Windsor Terrace, die Straßenzüge, die sich um den völlig unterschätzten Prospect Park gruppieren, strahlen teure Gemütlichkeit aus. In den Vorgärten stehen Laufräder aus Vollholz und schicke, dreirädrige Kinderwägen, hie und da sieht man auch ein Rennrad aus dem Wie-werde-ich-Hipster-Katalog. Bürgermeister Di Blasio wohnt hier, viele Familien sind von Manhattan hierhergezogen, und die Immobilienpreise haben sich längst in dieselbe, von der Realität unberührte Umlaufbahn katapultiert wie drüben in Manhattan.
In Crown Heights teilen sich Schwarze, Kariben und Chassiden die Blocks, wobei es erstaunlich ist, wie homogen die einzelnen Straßen besiedelt sind. In meiner unmittelbaren Nachbarschaft hockten Rastas mit eindrucksvollen Dreads und rot-gelb-grünen Wollmützen auf den Stiegen zu ihren Brownstone-Houses. Ihre Zigaretten sahen groß aus und rochen süß, und aus den offenen Fenstern strömte das gleichermaßen monotone wie magische Eins-ZWEI-eins-ZWEI subalterner Reggaemusik. Zwei Ecken weiter befand sich ein netter, aber reichlich abgefuckter Grocery-Store, wo man Bier aus Brooklyn, Wasser in Flaschen, Obst jeder Farbe und Zeitungen in allen Sprachen kaufen konnte. Bei Gloria’s gab es westindisches Huhn und gegrillten Kürbis, und wenn Ben es rechtzeitig aus dem Bett schaffte, gab es gegenüber im Tinto annehmbaren Kaffee, den ich aber lieber draußen auf der Nostrand Avenue zu mir nahm, weil sich Ben im Laden gern ein Frühstück aus verbrannten Kohlblättern zubereitete. Dass ich die lieb gewonnene Gewohnheit, bei Tinto auf der Straße zu sitzen und Crown Heights beim Aufwachen zuzuschauen schließlich aufgab, lag nur daran, dass ein nervöser Taxilenker seinen gelben Chevy-Bus nur zwanzig Meter von mir entfernt mit Karacho in einen Strommast kutschierte, was ich kleinlicherweise persönlich nahm. Der Fahrer musste von der Feuerwehr aus dem Auto geschnitten werden, Ben machte das Geschäft seines Lebens und ich suchte mir, nachdem ich 24 Stunden später zu zittern aufgehört hatte, für die Zukunft ein Café in verkehrsberuhigter Umgebung (und fand es beim östlichen Eingang in den Prospect Park. Es heißt Tip of the Tongue und hat wunderbare Granola und Gäste, die Simenon auf Englisch lesen).
In Brooklyn, nur zwanzig oder dreißig Straßenzüge westlich oder nördlich von den Million Dollar Blocks, findet vieles von dem statt, was wir in den nächsten Jahren als bahnbrechende, kulinarische Neueröffnungen feiern werden. Keine Branche zelebriert hier den eigenen Einfallsreichtum so hemmungslos wie die Gastronomie, und es ist eine schöne, wenn auch unübersichtliche Aufgabe, sich zwischen all den Bistros, Gastropubs und Minirestaurants zurechtzufinden, die in Williamsburg, Park Slope oder Prospect Heights aufsperren und sich ungehemmt vermehren.
Ich kam gerade noch rechtzeitig im Traif an, 229 South Fourth Street, die Musik war laut. Das Konzept des Lokals lautet ziemlich großherzig „Celebrating Pork, Shellfish & globally-inspired Soulfood“, aber ich war vor allem wegen des Kochs hergekommen, der lange bei Daniel Humm im Eleven Madison Park gekocht hatte, der glamourösen Dreisternhütte im Herzen von Manhattan. Er hatte also einen Ruf mitgebracht nach Brooklyn, aber auch Chuzpe.
Denn Traif bezeichnet im Jiddischen bekanntlich alle Speisen, die das Gegenteil von „koscher“ sind, und wie um diesen Ansatz zu unterstreichen, ließ Jason Marcus, Eigentümer und Koch, auch ein herziges Schweinchen ins Glas seiner Eingangstür ätzen. Draußen, vor dem Restaurant, rattert der Expresszug von Manhattan nach Queens über die Brücke, und im Halblicht unter den Stützen treffen sich Chassiden, Punks und Hipster. Traif ist also ein Witz, der durchaus etwas wagt. Jason, der studierter Philosoph und selbst Jude ist, möchte also gerne die Rolle als Bad Boy mit Kochlöffel übernehmen, und zwar mit einiger Konsequenz. Für alle, die den Traif-Witz nicht begreifen, gibt es noch eindeutigere Wir-sind-böse-Botschaften auf der Karte, zum Beispiel die politisch enorm inkorrekten Froschschenkel, die im hier im Buffalo-Style serviert werden, mit groben Brotkrumen paniert (und, falls das jemand wissen möchte: köstlich!).
Als mich der Kellner fragte, ob ich für das Studium der Karte vielleicht einen Cocktail benötige, nickte ich nur etwas blöd. Denn ich hatte kein Wort verstanden. Die Lautstärke war in etwa so hoch wie in der Basstrommel von Keith Moon. Aber der Drink war gut, ich hatte angeblich einen „Thai Old Fashion“ bestellt, der sich aus mit Thai-Tee aromatisiertem Rum, Eis von der Kondensmilch und einem Orangen-Shrub zusammensetzte und mit den beiden Moscow Mules eigenartig interferierte: Anstatt blöde vor mich hin zu brabbeln und die Spucke aus dem Mundwinkel rinnen zu lassen, fühlte ich mich mit einem Mal stocknüchtern, alert – und sehr, sehr hungrig.
Die Küche war direkt hinter der Bar. Drei tätowierte Typen schmissen den Laden, der bis auf den letzten Platz besetzt war (und, Tipp, draußen im Garten um einiges zugänglicher ist als im Restaurant selbst. Du verstehst zum Beispiel was der Kellner zu dir sagt).
Weil ich selbst aber nicht mehr herumschreien wollte, machte ich mit meinem Bleistift, den ich im Wythe-Hotel mitgehen hatte lassen, Kreuzchen neben jedem Gericht, für das ich mich entschieden hatte. Das trug mir zwar einen düsteren Blick des Kellners ein, bewahrte mich aber vor weiteren Missverständnissen.
Die Gerichte wurden serviert, sobald sie fertig waren. Von einer Dinner-Dramaturgie im engeren Sinn merkte ich also nichts, aber ich hatte Spaß mit den panierten Froschschenkeln, ich mochte das außen knusprige und innen cremige Kalbsbries, ich war begeistert von den gebratenen Jakobsmuscheln, die auf einer Mischung aus Risotto und gegrilltem Mais serviert wurden. Die Hühnerleber auf Toast war jetzt nicht unbedingt eine Erleuchtung, aber das Thunfisch-Tatar auf einer frittierten Aubergine machte umso mehr Spaß, so dass ich den Kellner heranwinkte, auf den leeren Teller zeigte und sagte: „One more.“
„No problem“, antwortete der junge Mann, drehte auf dem Absatz um und brachte mir noch einen „Thai Old Fashion“.
Davon ermutigt, wollte ich den Chef kennenlernen.
„Der ist nicht im Haus“, beschied mir der Kellner.
„Freier Tag?“, fragte ich.
„Nein, wir haben nebenan ein neues Restaurant eröffnet“, sagte der Kellner strahlend.
„Einen jüdischen Japaner?“, fragte ich, weil ich gerade unerklärlich witzige Einfälle hatte.
„Nein“, sagte der Kellner, „du musst das Shalom Japan Ecke Fourth Street Rodney Street meinen, aber das gibt es doch schon fast ein Jahr.“
Dann setzte er mich darüber ins Bild, dass Chef Jason ein mexikanisches Restaurant eröffnet habe, wie es keinem echten Japaner jemals einfallen könnte.
Das glaubte ich ihm augenblicklich.
„Es heißt Xixa“, sagte er, „und ist gleich nebenan. Wenn Du noch Lust auf einen Cocktail hast: Sie machen herrliche Cocktails im Xixa.“
Xixa klang wie Shisha. Logisch, dass ich noch auf einen Absacker vorbei schaute. Im Vergleich zum Xixa war die Musik im Traif auf stumm geschaltet, aber die Mezcal-Auswahl war berückend und die gepresste Wassermelone passt perfekt zu irgendetwas anderem. Schade, dass ich meine genauen Aufzeichnungen verloren habe, aber der Abend war noch lange nicht zu Ende. Leider habe ich nur noch eine undeutliche Erinnerung daran, wie ich mit Chassiden tanzte, mit Rastas die Nebelmaschine anwarf und von einer großartigen Bluesband dabei begleitet wurde, wie ich das beste Mundharmonikasolo meines Lebens ablieferte.
Oder so ähnlich.
Die Restaurants, bei denen ich in den nächsten Tagen vorbeischaute, hatten so lustige Namen, dass nicht einmal Berliner Friseure mithalten können. Sie hießen Landhaus at the Woods und Fette Sau, River Styx oder Bolivian Llama Party, was ziemlich sprechende Titel dafür sind, womit man sich die Unterlage für die Cocktails besorgt. Gehobenes, feines Essen bekam ich in der Weinbar „The Four Horsemen“, deutsch „Die apokalyptischen Reiter“, 295 Grand Street, die dem Sänger der Band LCD Soundsystem, James Murphy, gehört. Das beschert der Hütte einiges an Starrummel und unangenehme Sensationstouristen wie mich. Die Küche setzt ganz ähnliche Akzente wie das Willow, eklektizistisch und bunt, aber der fette, triefende Lardo Iberico mit den brasilianischen Nüssen überzeugte mich gänzlich. Ich ließ mich sogar dazu hinreißen, einen kalifornischen Naturwein zu bestellen, vermisste aber den inzwischen schon gewohnten poetischen Impetus, den mir die bunten Getränke mit auf den Weg gaben. Alles, was ich an diesem Abend schrieb, war meine Unterschrift unter die Abrechnung des Uber-Taxis.
Nun erklären dir alle Auskenner Brooklyns, dass du das wahre Ausmaß der Gastrorevolution erst erkennst, wenn du dich quer durch den Markt von Smorgasburg gefressen hast. Das ist der Hipstermarkt, der jeden Samstag an der Waterfront von Williamsburg stattfindet, ein „Woodstock der Foodies“, wie die New York Post angemessen tiefstapelnd geschrieben hat. Mit Blick auf die Skyline versammeln sich hier Anbieter von veganen Shishito-Menüs, von „Schnitzel Sandwiches“, die „Bamberg“, „Sweet Onion“ oder „Grumpy Russian“ heißen (und angeblich die beste Unterlage für den „Moscow Mule“ sind), von glutenfreien und veganen NÜ-Burgern, aber auch von riesigen, handgeschnitzten Fritten und supermayonnaisigen Lobstersemmeln. Es gibt auch Schweizer Bratwürste und Akaziensirupexzesse, vernünftige Cheeseburger und Shrubs aus jedem Obst, das jemals geerntet wurde. Weil ich aber wie gesagt zu 70 Prozent Sensationstourist bin und zu 30 Prozent an die Weisheit der Vielen glaube, stellte ich mich automatisch hinten an der längsten Schlange an, die sich vor einem der Stände gebildet hatte. Der Stand hieß „Ramen Burger“ und ich hatte insgeheim gehofft, dass es sich dabei um einen Titel wie „Leberkäs Pepi“ handeln würde, der von einem burgenländischen Auswanderer namens Bürger nach Shanghai erzählt, wo er die Kunst der perfekten Nudelsuppe erlernt und auf den Hipstermarkt mitgebracht hat. Eine heiße Nudelsuppe wäre jetzt genau das Richtige.
Die Wahrheit war prosaischer. Es gab ein ziemlich fettes Fleischlaberl, das jedoch nicht zwischen frische, an den Schnittflächen angegrillte Buns geklemmt wurde, sondern zwischen zwei gleichgroße Räder, die aus Ramennudeln zusammengepresst worden waren. Wie ich später recherchierte, ist die Gastrokamarilla New Yorks begeistert über die transkontinentale Innovation. Ich hingegen überließ sie, nachdem ich mehr gekostet hatte, als mir wohltun würde, den Möwen und machte mich auf den Weg ins nahe gelegene Wythe-Hotel, um an der Bar zusammenzufassen, was ich inzwischen über die Gastronomie östlich von Manhattan wusste.
Vielleicht, dachte ich, nehme ich auch einen Cocktail.
Hier mein Bericht:
„Die Säulen des Gastropubs, wie es in Brooklyn auf Spitzenniveau zu besichtigen ist:
Erstens: Style. Die Einrichtung muss eigenwillig und gleichzeitig einladend sein. Stilrichtungen werden nach Kräften geschreddert und neu zusammengesetzt, Industrial meets Nordic Design, Architekturführer meets Strandmöbel, alles ist erlaubt, nur nicht die Feststellung: „sieht aus wie …“
Zweitens: Qualität. Der Gestaltungswille der Einrichter wird nur vom Stilwillen der Köche übertroffen (und eventuell von deren Tattoo-Studios). Die Leidenschaft, mit der eine kalte Maissuppe mit Muscheltatar und gewürztem Schweinefett komponiert wurde (Willow), konkurriert mit der Produktexpertise, die den besten Lardo Ibérico mit brasilianischen Nüssen kombinierte („Four Horsemen“). Nichts, was nicht erlaubt, nichts was nicht abgefahren genug sein kann. Für praktisch jedes Gericht gilt dasselbe wie für die Einrichtung: Verboten ist nur, dass man ein Gericht schon einmal so oder so ähnlich irgendwo sonst gegessen hat.
Drittens: Legerezza. Während in der Küche auf Hochdruck gearbeitet wird, versucht der Service den Eindruck größter Leichtigkeit und Verbindlichkeit zu vermitteln. Sharing ist sowieso Pflicht, alle Teller wurden gebracht, wenn der Koch damit fertig war. Die gewohnte Dramaturgie, dass es von der leichten Vorspeise über den Fisch bis zum Fleischgang permanente Steigerungen geben soll ist abgeschafft. Kein einziges Restaurant in Brooklyn, wo die Teller nicht in die Mitte des Tisches gestellt wurden und der Kellner sein „Enjoy“ an alle in der Runde schickte.
Viertens: Party. Das alles mit lauter Musik (nein, noch lauter). Bloß keine Fine-Dining-Atmosphäre.
Deshalb auch fünftens: Es geht mit den Cocktails los, schweift dann zu Naturweinen ab, dann aber geht es mit den Cocktails wirklich los.“
Ende der Aufzeichnungen.
Nur ein rätselhafter Satz steht auf der Rückseite der Rechnung, die ausweist, dass ich mich aufopfernd um Getränke namens „Harvey Wallbanger“ und „Dark and Stormy“ gekümmert hatte: „Manhattans bunteste Tätowierung ist Brooklyn“.
Ich wusste doch, dass an dem Satz etwas faul gewesen war.
Außerdem fand ich die Notizen der Kellnerin, die mir die nun wirklich essentiellsten Tipps für die nächste Woche in Brooklyn auf eine Hundert-Dollar-Note geschrieben hatte. Seid froh, dass man von „Harvey Wallbanger“, einer Mischung aus Reyka Vodka, Orange und Galliano, nun wirklich keinen zweiten trinken kann. Sonst hätte sich der Hunderter samt der Liste mir nichts, dir nichts in Luft aufgelöst. Hier, zum Rausreißen und Weiterrecherchieren, das Substrat meiner übermenschlichen Disziplin.
Best Breakfast
Okonomi, 150 Ainslie Street, Williamsburg
www.okonomibk.com
Best Farm-to-Table
Faro, 436 Jefferson Street, Bushwick
www.farobk.com
Best Food-Truck
Snowday
www.snowdayfoodtruck.com
Best Neighorhood Restaurant
Concord Hill, 374 Graham Avenue, Williamsburg
www.concordhillbk.com
Best Small Plates
Willow, 506 Franklin Avenue, Bedford-Stuyvesant
www.willowbk.com
Best Restaurant Desserts
Semilla, 160 Havemeyer Street, Williamsburg
www.semillabk.com
Best Budget Bites
East Wind Snack Shop,
471 16th Street, Windsor Terrace
www.eastwindsnackshop.com