Rochat betreffend

Ein Ausflug nach Crissier in einundzwanzig Gängen und einem Zwetschkenschnaps.

Rochat betreffend

Text: Werner Meisinger
Wir sollten uns nicht zu wichtig nehmen, wenn uns der Platz geliehen wird auf Zeitungs- und Bildschirmseiten oder in Büchern, die andere Menschen kaufen oder besuchen sollen oder die anderen Menschen vor die Tür geworfen werden, damit sie lesen können oder lesen sollen, was wir geschrieben haben. Wir sollten uns nicht derart wichtig nehmen zu meinen, unsere Empfindungen, die aus dem Erlebten oder Erdachten entstehen, oder das Erdachte selbst und die kreuzweisen Reflexionen des Empfundenen oder Erlebten wären von größerem Interesse als ihr Ursprung, nämlich das Material und die Wahrheiten der Welt. Wir sollten uns nicht als so maßgeblich empfinden, dass wir schamlos hinschreiben "ein Gefühl als ob" was gewesen wäre oder "und es erfasst dich" dieses oder jenes mit kaltem Griff oder zarter Hand und geleitet dich zu etwaigen Empfindungen, denn ob und was in dem Fall empfunden werden würde, ist bestenfalls Vermutung, nie mehr als Behauptung, wenn es nicht gar eine Unterstellung ist. Es wird ein jeder, der einen eigenen Empfindungsapparat hat und nicht derart im emotionalen Faulbett liegt, dass er auf Zuruf willfährig empfindet, was ihm von einem unserer Art zu empfinden empfohlen worden ist, sein eigenes Ding empfinden und ergriffen werden, von was und wodurch es ihm gegeben ist – auf der nächtlichen Segelfahrt unter dem Kreuz des Südens, im Anblick einer Fleisch gewordenen Göttin oder eines Krokodils beim Bad im Nil, während der Querung des siebenten Alpengipfels an der Gletschergrenze oder bei all den anderen Angelegenheiten, die dem Vernehmen nach gut für den Blutdruck sind und Botenstoffgeschwader durch den Organismus treiben. Der eine wird entrückt sein von der Erhabenheit eines gewissen Augenblicks und sich scheu umsehen nach den zwölf Aposteln, den anderen wird’s nicht jucken. Von mir aus soll ein jeder denken und empfinden, wie es ihm gefällt. Von mir jedenfalls gibt es keine Ratschläge dazu. Hier jedenfalls nicht, Crissier betreffend. Nur Wahrheiten und Materialbeschreibungen.
In kurzen Worten sei beschrieben, wie es sich mit Crissier verhält, damit ein jeder weiß, wovon die Rede ist. Crissier liegt eine kleine Strecke landeinwärts von Lausanne. Lausanne blickt auf den Genfer See und ist stabil gebaut. Sehr stabil. Man frage mich nicht nach der Geologie der Gegend. Aber wenn vom Oberbau auf den Untergrund geschlossen werden kann, dann steht die Stadt auf sechzig alten Meilen Urgestein. Treibt man sich weiter herum in dieser Südhanglage, die ein literarischer Grobschmied auch schon als "Speckgürtel des Genfer Sees" bezeichnet hat, fährt man also durch das aufgeräumte Weinland und entlang des Ufers, dann werden gut belegte Yachthäfen und Residenzen hinter Klostermauern und dergleichen mehr als Indizien augenfällig, dass die Etappe zwischen Genf und Montreux kein Gebiet des Notstands ist. Die Champagner-Auswahl in den Supermärkten präsentiert sich jedenfalls zufrieden stellend.
In diesem Quadranten also befindet sich Crissier, ein Dorf von großer Unauffälligkeit. Es erlebte, so weit ich es recherchieren konnte, keine Schlachten, war weder Geburtsort leichter Sopranistinnen noch gewichtiger Nobelpreisträger. Crissier kam daher erst Ende der siebziger Jahre in seiner eigenen Bedeutung auf die Landkarten der Geschichte und Kultur.
Es war die Zeit der Revolution.
Ein damals noch "gewisser" Frédy Girardet wurde auf seinen Einkaufsfahrten durch Frankreich vom Licht erhellt und kochte sodann in seinem Restaurant "Hôtel de Ville" in Crissier in einer Art, dass die Guides nichts anderes als Höchstwertungen für angemessen hielten, und der Boulevard seine Superlative mit schwülstigster Poesie ummantelte.
Damit man es recht versteht: Es war noch eine gemäßigtere Zeit als heute. In gesamt Frankreich existierte nicht mehr als eine kleine Hand voll
3-Sterne-Restaurants. Im gesamten Rest der Welt: null. Der junge Guide Gault Millau war längst noch nicht so mildtätig in der Vergabe seiner Ehren, als dass er einem jeden Koch, der korrekt gebratene Schnitzel vorzuweisen hatte, mit Trara unter die Haube holte.
"Hôtel de Ville" zu Crissier wurde als erstes Restaurant außerhalb Frankreichs vom Guide Michelin mit der Salbung von drei Sternen versehen, und Frédy Girardet ward als "Koch des Jahrhunderts" (als dritter nach Paul Bocuse und Joël Robuchon) den irdischen Maßstäben alsbald entrückt.
Crissier hat heute einen nützlichen Kreisverkehr, hatte damals wie heute ein paar plätschernde Brunnen, eine nicht mehr als hübsche Kirche und einen kleinen Platz an einer Straßengabelung. Auf diesem Platz an einer Säule ist eine schwere Tafel angebracht: "Place Frédy Girardet, Cuisinier et Bourgeois d’Honneur".
So weit der historische Unterbau bis 1996. Seither blieb an Crissier das allermeiste unverändert. Unverändert ist die Position des Restaurants als Ort von höchster kulinarischer Kultur. Unverändert sind sein Flair, sein Magnetismus und seine Strahlkraft. 1996 änderte sich lediglich der "Cuisinier" im "Hôtel de Ville". Auf Frédy Girardet folgte Philippe Rochat.
Als "das Antreten eines schweren Erbes" wurde der Start in das neue Zeitalter mit wohlig-schauerlichem Unterton ungezählte Male kommentiert, und die Motive für den kleinen Schauer an Niedergangserwartung liegen auf der Hand.
Erstens der Mythos Girardet: Philippe Rochat stieg ja nicht von einem anderen Stern in dieses Haus herab, um nach dem alten Testament ein neues zu verkünden. Vielmehr stand er schon 16 Jahre im Dienst des Hauses, die letzten sieben als Küchenchef. Im günstigsten Fall erwartete sich die geschmacksdeterminierte Weltgemeinschaft von Philippe Rochat eine unauffällige Verwaltung des Ererbten – denn dass in dieser Basilika zu Crissier über so lange Jahre im verbergenden Schatten der einen Exzellenz eine weitere Persönlichkeit von höchster Ausdrucks- und Gestaltungskraft am liturgischen Werk gewesen wäre – das erschien doch sehr unwahrscheinlich.
Zweitens die Wirtschaftslage: Moderat ausgedrückt – es gab schon günstigere Konjunkturen für das spannende Geschäft mit den allerteuersten Entbehrlichkeiten.
Drittens: Das Konzept des Restaurants.
Man sagt: Philippe Rochat leistet sich die teuerste Brigade der Welt.
Und das für ein Restaurant mit kaum mehr als 50 Plätzen. Das Haus wird von einem Ensemble aus 24 Köchen und nochmals so vielen Fachkräften in Zivil bespielt. Es kann ein Restaurant dieser Größe erwiesenermaßen auch mit weniger Personal betrieben werden. Rochat meint: nicht auf dem Niveau Rochat.
"Niveau Rochat" – auf dieser ausgesetzten Lage befinden sich weltweit nur ganz wenige Restaurants. Die Ultras unter den Rochat-Fans meinen: Dieses eine und kein weiteres. Bei neutralerer Betrachtungsweise käme man wohl auf drei bis sechs.
Die Brigade (das alte Wort aus der Küchensprache gewinnt hier wieder vollen Klang): Vier bis fünf Köche sind in Rochats Küche für die Zubereitung von Gemüse erforderlich. Drei für die Süßspeisen und einer für das Eis. Zwei für die Muscheln und Krustentiere, zwei weitere für den Fisch. Zwei für die Ausfertigung der Vorspeisen. Man braucht einen Bäcker, denn in der hauseigenen Bäckerei wird zwei Mal täglich der Ofen angeheizt. Man braucht Experten für das Braten der Braten und für die Zubereitung von Geflügel. Einen Küchenchef, einen Sous-Chef, einen Mann für alle Fälle. Schließlich den Patron am Pass im reinen Weiß des hohen Priesters. Ernsthafte Männer, zur Zeit drei starke Frauen. Aus der Schweiz, Frankreich, Portugal, Japan und wohl auch anderen Ländern. Ein über die Jahre herangezogener Klangkörper für ein großes kulinarisches Repertoire und schwierigste Partituren, aus dem man keine Stimme streichen kann.
Man braucht nicht sehr schlau zu sein, um zu begreifen, dass die Anzahl der tätigen Personen für die speziellen Qualitäten der Erzeugnisse aus dieser Küche nur die Voraussetzung sind, nicht aber deren Ursprung. Die Gewerken der höheren Gastrosophie haben ihre Stollen bereits tief in das Geheimnisgebirge des Philippe Rochat vorangetrieben und konstatieren unter anderem eine Urkraft, die aus frühen und späteren Schicksalsschlägen genährt wird, einen Urtrieb zur Spitzenleistung, der nicht nur Rochats Berufstätigkeit betrifft, sondern auch in seinen sportlichen Auftritten evident wird, eine naturgegebene Leidenschaft im Streben nach Perfektion. Philippe Rochat ist weder professioneller Radrennfahrer geworden noch Uhrmacher, noch Ingenieur, so hat die Menschheit mehr von ihm. Charismatisch darf man wohl sagen und durchaus mit einem Nachdruck, der aus der Körpersprache kommt und physisch spürbar wird, treibt er ein hoch entwickeltes Gemeinwesen voran, ganz Konzentrat eines Kochs. Philippe Rochat äußert sich zu seinem Antrieb und seinen Energien zurückhaltend. Er sagt: "Mein Lohn sind die glücklichen Augen meiner Gäste." Er sagt auch: "Wir müssen uns stets erneuern." Und somit wollen wir nicht lange theoretisieren.
Die Erneuerung wird im Rhythmus der vier Saisonen des Jahres vollzogen, die jeweils Anlass für neue Speisekarten sind. Zwei Menüs plus etwa vierzig Speisen à la carte. Keine handgeschriebenen Extras, keine tagesmarktbedingten Specials, keine vom Geistesblitz gezündeten Spontankreationen. Dazu ist der Küche von Philippe Rochat zu viel Technik hinterlegt, dafür sind die Ansprüche an die Ausgewogenheit des Geschmacks zu hoch. Was auf die nächste Karte kommt, ist das Ergebnis ernster Entwicklungsarbeit.
Geschmack ist dabei die Maxime. Zwei oder drei Aromen sollen zusammenspielen, sagt Philippe Rochat. Nicht mehr. Nach dieser Grundidee sind seine Kompositionen über die Jahre nicht komplexer geworden, sondern immer nur stringenter. Wäre es nicht so oft schon missbraucht worden, dieses Wort von der Kunst des Weglassens. Wäre nicht Kunst in diesem Zusammenhang ein Wort, mit dem man seinen Ruf gefährdet und sich mittlerweile wie mit "Gourmet" oder gar der "Gaumenfreude" an der Banalität verbrennt, weil eilige Reporter einen jeden tauglichen Küchenhandwerker unverzüglich in den Künstlerstand erheben, allerlei Dosenware unter der Leuchtschrift "Gourmet" durch den Handel segelt und arme Seelen noch den absurdesten Zitronengrasspieß mit Seezungenröllchen und Koriandersauce als Gaumenfreude preisen. Es würde grundsätzlich schon passen, Philippe Rochat als einen solchen Künstler des Weglassens zu bezeichnen, so lang man dabei nur die Grundtonalität beschreiben will, nicht das Gesamtgefüge. Die Konzentration auf wenige Leitaromen nämlich wird bei Rochat von einem lustvollen Hinzutun von Nuancen und einer akribischen Freude an der handwerklichen Verfeinerung begleitet. "Ich liebe auch die Technik", sagt Philippe Rochat, was unter anderem kunsthandwerkliche Vergänglichkeiten wie millimetergenau gelegte Gemüse- und Gewürzdekorationen und fingernagelgroße Petits fours (gefüllte) zur Folge hat.
Ich kam von Südwesten und wurde vom Kellermeister in Obhut genommen. Er geleitete mich auf eine kleine Tour vom Rauchsalon über die Küche durch den Garten zum Kräuterbeet zum Nebenhaus mit der Backstube und so weiter, zu all den Sehenswürdigkeiten, die man einem Gast halt zeigt, der neu ist und interessiert und im kleinen Spaziergang ein wenig Appetit annehmen soll.
Es gelang das insofern, als mir das Mittagsmenü keinesfalls beschwerlich wurde. Eine kleine Bahn vom Taschenkrebsfleisch mit Osieta-Kaviar. Ein wenig Froschschenkel-Frikassee mit Eierschwammerln. Royal Dorade mit Zitrusfruchtschaum und kleinem Gemüse. Kalbsbries mit Erbsen aus der Provence. Ein prachtvolles Gebäude von Erdbeerdessert im eleganten Kelch. Sorbets und Eis. Petits fours. Dazu ein lockerer Schwarm an Weinen aus der Gegend, die nicht auffälliger waren, aber auch nicht weniger gut, als die besseren von uns daheim.
Falls der geneigte Leser an dieser Stelle einen Kommentar der Speisen wünscht, könnte ich in der gebotenen Kürze und im Sinne der eingangs dargelegten Geringschätzung für den Empfindungsjournalismus gern alles offen lassen: Man kann von dem Hauch an prickelnder Lebendigkeit aus Zitrusfrüchten zur Dorade hingerissen sein. Man kann von der duftigen Oberssauce am saftigen Froschfleisch beglückt sein, man kann dem am Spieß gebratenen, ja – fast kross gebratenen Bries und seiner feinen Harmonie mit den "Erbsen aus woher auch immer" eine Tagebuchseite widmen oder zwei. Man kann es würdigen, wie aufwändig fein die Zitrusfrüchteschalen in der Doradensauce gehackt sind, auf dass sie wie Feenstaub auf dem Teller schweben. Man kann die Delikatesse der paar Tropfen Olivenöl zu den Taschenkrebsen und den feinen Geschmack des Gelees nicht unbeachtet lassen. Und man kann natürlich auch diesem grandiosen Kalbsbries auf den Grund gehen und erfragen oder erforschen, dass die Nüsschen nach dem Blanchieren mit einer Marinade aus Olivenöl, Zitronensaft, Petersilie, Thymian, Knoblauch, verschiedenem Pfeffer, Salz und Niora (ein so seltenes Paprikapuler aus Spanien, dessen Existenz nicht einmal im Internet dokumentiert ist) vier Stunden lang überzogen wurden, um sodann bis zum Erreichen einer Kerntemperatur von 65 °C (elektronisch gemessen, Essenzielles wie der Garzustand wird hier nicht dem fragwürdigen Gefühl von Fingerspitzen überlassen) vor das offene Feuer gestellt zu werden. Nun ja, all das ist eben erforderlich, um diese Sorte Bries zu produzieren, wie auch die zarten dunklen Fäden von einem braunen Jus im Erbsensaft nicht nur der gefälligen Dekoration gestiftet sind, sondern im Geschmacksgefüge ihre Rolle haben und daher schlicht unverzichtbar sind. Schweinshaxenjus? Hochverdichteter Kalbssaft? Egal. Man kann das alles aber auch nur als gut gekocht empfinden und muss es nicht zerreden.
Der Eindruck, dass die Gäste von Philippe Rochat ausschließlich zum Essen und für eine gute Zeit im Kreise von entspannten Bürgern in das "Hôtel de Ville" gekommen waren und so gar nicht zum Sezieren und Beschnüffeln sagenumwobener Kunsterzeugnisse, war dann auch überwiegend. Wie dieses Publikum die Hummerschwänze aus den Krusten putzte und die glacierten Scheiben von der Entenbrust zersäbelte, das zeugte schon von gehöriger Lust und Geläufigkeit und ungehemmtem Zugang zu jener Küche, die in diesen Tagen ernsthaft als die beste der Welt zur Diskussion gestellt wird.
Nun ja, es gäbe grosso modo auch gar nicht so viel Besonderes zu erschnüffeln. Was wie Erbsen aussieht, schmeckt nach Erbsen. Wo Madras-Curry draufsteht, ist merkbar Madras-Curry drin. Grapefruitsauce ist Grapefruitsauce. Reintönig, eindeutig, klar. Die genialen Verbindungen des großen Meisters? Die Wegweiser in die Zukunft des Geschmacks? Der Stoff, aus dem die Sensationsmeldungen sind? "Jakobsmuschel-Carpaccio mit Steinpilzen und grünen Äpfeln" findet man in Rochats Buch "La Cuisine Sublime" und denkt sich dabei, dass Steinpilz mit Muscheln und grünen Äpfeln doch ein bisserl ungewöhnlich ist. Oder "Schwertmuscheln mit Eierschwammerln". Sonst aber so Erwartbares wie Graubarsch (es könnte wohl auch anderer Mittelmeerfisch sein) mit Fenchel, getrockneten Tomaten und Oliven im Pergament. Glacierter Schweinsfuß mit schwarzen Trüffeln. Nantaiser Ente mit Bitterorangensauce. Spaghetti mit Ei, Spinat und weißer Trüffel, was freilich auf das kunstfertigste zu Rochats berühmten "Œufs en surprise auf italienische Art" zusammengefügt wird. Kaum ein Gericht auf 300 Seiten, mit dem sich Philippe Rochat der allgemein geläufigen Harmonienlehre entwinden würde, kein Gericht auf der Karte, das nach Odyssee in neue Galaxien klänge.
Und somit erfordert Rochats Küche keine vorgelagerten Studien der Literatur, damit man sie verstehen kann, und keine Gaumenakrobatik, damit man sie gut finden kann. Man sieht hier, was man kennt, nur eben à la Rochat. Das macht die Adresse praktisch für einen jeden, der für ein paar hundert Schweizer Franken nicht mehr verlangt als wirklich gutes Essen.
Unsereiner nutzt ein solches Investment natürlich gründlicher. Nur für den Fall, dass man mal Gäste hat und brillieren möchte.
Abends gab’s Hummer, unter anderem. Ich hatte zuvor schon durch ausgesuchte Höflichkeit und erfolgreiches Vernebeln der Erbärmlichkeit meiner Kompetenz ein Visum für die Küche erschlichen und somit alle Gelegenheit, in windschiefer Gestalt, die Laufwege der Professionals zuzustellen; prachtvolle erzogene Menschen übrigens mit großer Wendigkeit.
Es war ein wenig wie im Riff. Taucher wissen, was damit gemeint ist. Es bewegt sich alles recht schnell und steht dazwischen mit unmerklichen Bewegungen ein wenig still an einem Ort, um auf ein Signal, das nur die verstehen, die ein Sensorium dafür haben, sich zu verlagern, einzeln oder im Schwarm. Mit beständigeren Bewegungen patrouillieren auch ein paar große Tiere durchs Revier, und gesamt fließt und gleitet alles und greift organisch ineinander. In der Beobachtung der kleinen Verrichtungen hinter dem großen Bild der augenfälligen Bewegungsströme liegt der wahre Zauber.
Wie gefällig war es doch zu beobachten, wie ein solcher "Hummer mit Safran und Olivenöl" entsteht, der durchaus glanzvoll die private Tafel schmücken könnte. Die Fachleute mögen verzeihen – die Beschreibung ist nur ungefähr: Es wäre ein gekochter Hummerschwanz zu nehmen und in dreimillimeterdicke Scheiben aufzuschneiden, zurechtzuputzen und in ein kleines Metallkarree in schindelartiger Überlappung aufzulegen, sodass nach Entfernung der Schablone ein akkurater Streifen vom bretonischen Krustentier am Teller bleibt (wir arbeiten auf der Fläche einer Visitenkarte, nur ein wenig kürzer und schmäler). Daran kommt ein samtiger Safransaft, in diesen acht Tupfen einer rosafarbenen Essenz, in diese wiederum, und kleiner gehalten als der Saft zuvor, jeweils ein Tupfen dunkles Öl, in dieses, wieder kleiner, jeweils ein Pünktchen braune Creme, der man ein Nahverhältnis zu Senf unterstellen könnte. Womit der Schmuck des Saucenspiegels auch schon vollzogen wäre. Für die Ausfertigung des Hummers muss man sich ein wenig mehr bemühen: Einen kugelrunden Tropfen weißer Creme in der Art von Crème fraîche, nur eben fester, auf den harten Stiel einer zarten blauen und genießbaren, wenn auch nicht auffällig geschmackstiftenden Blüte spießen. In die Creme ein hübsches Fächerchen von Dill oder Fenchel stecken, auf dass es sich über die Blüte erhebt wie die gespreizten Federn eines Pfau (nur viel, viel kleiner). Davon braucht man zirka zwei Stück und steckt sie in den Hummerschwanz, worauf man ein Metallspießchen mit einem zwerghaften Schiffchen von einer Artischocke und dem Viertel einer schwarzglänzenden Olive versieht und ebenfalls in den Hummer steckt. Schon fertig.
Der Verdacht des Manierismus und einer Energievergeudung an der fragwürdigen Unkunst der Dekoration ist dabei in einem solchen Maß unbegründet wie die Vermutung, dass die Erde eine Pyramide sei. Die Zugabe von Rahm und Dill, Artischocke und Olive, dem kleinen Essenzenpotpourri stiftet in dieser Dosage nicht die geringste Verwirrung. Vielmehr: Das angenehme Geflecht an stimmigen Untertönen bringt den ohnehin schon formidablen Safranhummer erst recht zum Singen. Das sollte sich allerdings erst anderntags erweisen.
Vorerst ruhte mein Auge in größter Wohlgefälligkeit auf Franck Giovannini, dem Sous-Chef, der mit den flinken Fingern eines Pianisten allerlei Kräuter schnitt, bis sie nur noch Pulver waren. Er nahm die schönsten Medaillons vom Lammfilet und umhüllte sie mit diesem Kräuterdunst, so dass sie so fröhlich Grün waren wie die jungen Blätter einer Birke. Am Spieß gebraten verwich wohl rasch die frische Farbe, der Pfanne entstieg jedoch ein Duft, der zu der schönsten Hoffnung Anlass gab. Die jedoch rasch verblasste. Die Lammfilets wurden als kleines Extra in saftige Schollen von einem prachtvollen Braten gesteckt und hinfort getragen, als Speise für das Personal.
Man pflegt in Crissier noch einige der schönen Sitten, die in alten Büchern über die Lebensart in großen Restaurants beschrieben werden. Zum Beispiel, dass sich der gute Koch auch gut ernähren muss.
Man lässt auch die Gäste nicht verkommen bei Rochat. Für das Abendessen platzierte man mich sehr freundlich am "Table de VIP", der gefühlsmäßig im östlichen Eck der Küche liegt.
Mit solchen Ehren rechnet man nicht als Eisenbahnerkind. Ich lockerte unauffällig den Krawattenknopf und glitt in vorausschauender Beachtung des Verkehrs weitgehend kreuzungsfrei in meine Loge; die Damen und Herren Köche sahen zu diesem Zeitpunkt nicht so aus, als würden sie als zweite durch eine Tür gehen wollen. Es war grad halbneun und man schien beschäftigt. Der Herd war eingedeckt mit Kupfer- und Stahl in zwei bis drei Etagen, von den Backrohrkatakomben über die offenen Flammen, Elektroplatten, den Dämpfer und das Induktionskraftwerk hinauf ins gemäßigtere Klima diverser Roste. Philippe Rochat war in einem hohen Maß entspannt, das Pinboard in einer Flut von Bons ertrunken. "Quart Grenouilles", knallte Rochat in sein Auditorium, und weil seine Ansagen via Mikro und Lautsprecher in die verschiedenen Bereiche der Küche übermittelt werden, hört man es auch dann noch gut, wenn bei aller Stille der Brigade doch das Klappern mit dem Werkzeug einen gewissen Lärm erzeugt.
"Qui" brüllt derjenige zurück, den die Frösche angehen, und wenn es ein komplizierteres Gericht ist, in dem zum Beispiel der Krustentier- und der Gemüse- und der Fischposten involviert sind, dann wird ein dreifaches "Qui" zurückgebrüllt. Philippe Rochat notiert minutengenau den Zeitpunkt jeder Annonce auf seinen Bons, sodass eine jede Speisenfolge im Zwanzigminuten-Rhythmus ausgeliefert werden kann. Gern schiebt er auch die Hüfte ein wenig vor bei den umfangreicheren Annoncen und entlässt die Botschaft mit einer kleinen Handbewegung, es hat das etwas Endgültiges und das mit der Hüfte, wenn man so will, etwas Sexuelles. Drei Tauben, vier Hummer, zwei Rotbarben, vier Muscheln, sechs Hasen, drei Enten im Ganzen, vier Simmentaler Kälber, der Lachs, nochmals die Enten und nochmals die Enten und gesamt an einem solchen Abend – wenn man die Amuse bouches und Sorbets und das Eis und die Käse und die Petits fours dazuzählt – gut und gern 400 Teller, von denen keiner, die Käse und Glaces vielleicht ausgenommen, auch nur annähernd simpel herzustellen ist.
Ich startete in den Abend mit leicht geöffnetem Mund und einem Jing Jang von Kaviar und Muscheltatar, das mich mit seiner feinen Herbheit und dem Hauch von Meeresrauschen gut animieren konnte für den Rest der Speisen, die da kommen sollten: Rotbarbenfilets in Perfektion auf der Haut gebraten mit kleinem Gemüse, einer homöopathischen Dosis Chiliwürze, ein paar Fragmenten Oliventatar und einer Spur Tintenfischtinte im Fond, damit es nicht zu banal wirkt. Ein Eierschwammerltörtchen auf Eistichunterbau mit ein paar knusprigen Weißbrotbröseln in einem Wolkengebilde an Erbsenschaum, worin ein paar Streifen Minze schwebten und ein paar halbe Erbsen sich befanden, damit man was zum Beißen hat. Eine runde Intarsienarbeit von Miesmuscheln aus der Charron, aufgebaut auf Karottenhack (wir sagen "brunoise" in unseren Kreisen) in einer leichten Madras-Curry-Creme. Ein schnittiges Kanu mit gegrillten Langustinenschwänzen, sparsam mit Algen unterfüttert und von einem leichten Meeresfrüchteschaum umflort sowie mit Gemüseperlen angereichert und einer karibisch anmutenden Gewürzmischung überrieselt. Ein löffelweich gedämpftes Kalbsfilet mit Oliven und Tomatensaft, rosa durch und durch und mit duftiger Pfefferwürze. Ein Schichtgebilde aus Krokantblättern und Himbeeren in verschiedenen Aggregatzuständen neben Milchschaum und Früchtespieß. Zwei Tabletts mit Wunderwerken der Kleinpatisserie vom fingernagelgroßen Brandteigkrapferl bis zur Marzipanminiatur und einem Flight durch die Welt des Schokoladenwohlgeschmacks in Form von Truffes. Auf den Käse habe ich – man wird doch so leicht abgelenkt am Rande eines Dammbruchs – in einem kleinen Moment der Unbesonnenheit verzichtet, was mir bald auch herzlich leid tat.
Der Abend wurde kurzweilig und lang. Ein paar wohlbestallte Bürger mit freundschaftlichen Verbindungen zum Haus stießen vor bis an den VIP-Tisch und erlösten mich aus der schweigsamen Gesellschaft von Kaviar und Hummer. Wir unterhielten uns sehr angelegentlich über die Wildgehege, die jetzt einzurichten wären, und beschrieben einander in baldiger Vertraulichkeit, welche Mühe man doch hat mit Oldsmobilen und Chevys aus den Fünfzigern und siebzig Jahre alten Holzrennyachten. Gegen eins unterhielt man sich über Eisenkraut-Tee, worauf ich mich mangels solcher Kompetenz empfehlen durfte.
Das folgende Zwischenmahl sei hier nur der Ordnung halber aufgezeichnet, damit niemand meint, der fürsorgliche Philippe Rochat, den ich zu diesem Zeitpunkt ohnedies schon sehr ins Herz geschlossen hatte, hätte mich unverpflegt aus seinem Haus entlassen. Der bereits beschriebene Hummerschwanz im Safransaft gab die Ouverture. Ein Miniaturgugelhupf aus Steinpilzcreme mit Steinpilzstückchen innen drin und hochpräzise fächerförmig eingedeckt mit Steinpilzscheiben, auf dass es aussah, als wäre das Kegelchen gestreift, saß in einem Steinpilzsüppchen. Der endgültige Miesmuschelgeschmack – wenn es denn einen solchen gibt – wurde in Form von "Royal Miesmuscheln" am Spieß mit Safran und Gemüse an den Tisch geliefert. Große Würfel vom Wildlachsfilet wurden im Rohr erwärmt und in einer ebenso schimmernden wie viskosen Grapefruitsauce mit mäandrierendem Melonensaft und Tupfen vom Limettensaft darin sehr gefällig angerichtet. Anhand der süß-sauer gebratenen Gamberini mit kleinem Fenchel und Karotten ließ sich sehr schön ermessen, in welch ungeahnte Sphären das Motiv "Süßsauer" abheben kann in einem günstigen Milieu. Dann nahm ich noch meinen Teil von einer glacierten Ente, deren Brust in feinen Scheiben vom ganzen Tier geschnitten wurde und die doch hinlänglich sorgfältig gebraten war, dass sich im eleganten Schwung der letzte Rest vom Brustfleisch mit einem Suppenlöffel vom Knochen schaben ließ. Daran hatten wir besonders viel Freude, Urs mit den Hirschgehegen und meine Wenigkeit. Après Holunderdessert war noch Platz für einen Zwetschkenschnaps. Dafür, sagte Urs, ist die Schweiz berühmt.