Vom satt sein

Zwischen Werfen, Illhaeusern und Straßburg ergab sich die Gelegenheit dazu.

Vom satt sein

Text von Werner Meisinger Fotos: beigestellt
Spät war’s. Ich stand am Fenster und es fiel Schnee. Wir standen ein wenig schief, die alten Weiden unten am Flussufer und ich, und wir verstanden einander gut. Man kommt ins Schiefe durch das Alter und durch die Neigung. Die Böschungsneigung im Fall der Weiden, die den Wein nicht kennen.
Aus einer farblosen Finsternis sanken die Flocken in einen rotgoldenen Streifen Licht, zwischendurch und vorbei an den Zweigen der hundertjährigen Trauerweiden, um zum plötzlichen Ende ihrer Himmelfahrt am Wasser verschluckt zu werden. Nur die Flocken, die auf dem Kahn zu landen kamen, fanden ein friedlicheres Ende, einen sanften Platz am kühlen Holz und dort die Gelegenheit, in Würde langsam zu verlöschen.
Den ganzen Abend und den Tag und den Abend davor hatte ich schon in schöner Ernsthaftigkeit auf ein solches Verlöschen in Würde zugesteuert. Nun, mit dem fallenden Schnee vor dem Fenster, war der gütige Moment erreicht, zu dem der letzte Rest an geistiger Betriebsamkeit hineingesogen wird in den blutvollen Mittelpunkt eines vollkommen gefüllten Körpers; zu dem beides oder vielmehr das fusionierte Eine aus dem Rest an amorphem Geist und dem ganzen wohl gefüllten Körper aufs Bett oder das Polstermöbel gezogen wird, mit derart kosmischer Kraft, dass für ein anständiges Maß an hygienetechnischen Verrichtungen kaum noch Gelegenheit besteht. Daunenweich umhüllt den so gefüllten Menschen köstlichste Ohnmacht, umfängt ihn ein Unbewusstseinszustand, der, so weit es mir bekannt ist, durch Drogen noch nicht herbeizuführen ist, eventuell durch Unfälle entstehen kann, in bewährter Weise aber stets zielsicher zu erreichen ist durch ambitioniertes Speisen und Trinken auf die Art der Götter.
Es fiel auch noch Licht aus den Fenstern einer unteren Etage auf den Rasen. Darin erschien die Schicht aus frisch gefallenem Schnee wie feines Salz. Der Zustand des Königs, der in diesen immer noch erleuchteten Räumen Logis genommen hatte, war mir aber nicht bekannt.
Einen Germteig ruhen zu lassen, bedeutet das Gegenteil. Genährt von der Glukose und motiviert von der Wärme entwickeln die Hefesporen ihre größte Emsigkeit und ruhen nicht. Sie verursachen Gärung, die einher geht mit der Bildung von Ethanol und Kohlendioxid, was den Teig auftreibt zu prachtvoller Größe und barocker Oberflächenwölbung. Nur in gekühltem Zustand ruht der Teig, ohnmächtig sozusagen. Kaum wird es der Germ wieder warm und findet sie dann noch ein wenig Zucker, entfaltet sie neue Emsigkeit. Der Teig wird größer noch aufgebläht als wie zuvor und entwickelt bei diesem erneuten Aufgehen noch feinere Strukturen, die wir so schätzen am Gebäck zur heißen Schokolade oder als Nascherei zum süßen Wein. Darum wird Germteig, wenn er feinporig werden soll, gehen gelassen und zusammengestoßen und gehen gelassen und so weiter.
Im Sinne der immer noch feineren Strukturen in den Kenntnissen unterwirft sich auch der am Wohlgeschmack interessierte Mensch dem Aufgehen, das hier nur Nebenwirkung ist, und dem Abnehmen, das dann vonnöten ist. Er wird in seinem Streben nach den feineren Strukturen im Material des Wissens, in der Pflege einer eng verzweigten kulinarischen Gedächtnishecke und im Begehren nach einer Vielzahl an Poren, in denen er die schönsten Geschmackserlebnisse lagern kann, suchtbildend belohnt durch fallweise Momente größten Glücksgefühls und so genannte Gaumenkitzel. Aber weil nichts gratis ist auf dieser Welt büßt der Feinschmecker die Neugier auf den Gesamtgeschmack der Welt und vor allem dessen lotrechte Durchforschung im Sinne der Durchsteigung sämtlicher Gastronomieniveaus unter dem Folterwerkzeug der Inkompetenz; je schärfer diese Rute – horribile dictu "Apfelmus mit Brokkolipüree" –, desto ungenierter führt sie der Koch, der dann ein Knecht ist, in der Faust. – Derart erfahren im Wechselbad der Gefühle besuche ich gern Restaurants mit einer gewissen Reputation, solche, die nicht ganz neu sind, Köche, die keine zitronengelben Sportautos fahren, Häuser, die nicht allzu häufig in Verbindung mit Vokabeln wie "sensationell" oder "noch-nie-dagewesen" in der Zeitung stehen.
Es war ein Tag mit appetitfördernder Wetterlage und der Entscheidung für Generalkurs Westnordwest, wo die erwähnten Häuser gut zu finden sind.
Ich nahm in der Hadikgasse eine Delice von gebackenen Briespitzen an Preiselbeersauce und sieben Servietten, weil mir Dünkel fremd sind und es schon Jausenzeit war. Der an den Briespitzen erzeugte Hauch an Wohlbefinden verwich jedoch im Lichte der Erkenntnis, dass das Elsass geografisch gehörig ferner liegt, als man angesichts der Verwandtschaft von Bauernschmaus und Choucroute und der hier wie dort so beliebten Blutwurst meinen möchte. Wenn man Wien zur Jausenzeit verlässt, ist das Elsass bei erdgebundener Fortbewegungsweise bis zum Abendessen eher unerreichbar.
Ich wollte meinen Wirt in Illhaeusern keinesfalls inkommodieren durch eine späte Ankunft zum Diner, weshalb ich mich in einem Akt des Anstands und der Höflichkeit bei Salzburg südwärts und ins Gebirge schlug. Es befindet sich dort ein gastronomischer Geheimtipp.
Zwei Brüder von ungleichem Längenwuchs, aber gleich feinsinniger Begegnungsart betreiben in Werfen eine Ausspeisung nebst Unterkunft. Sie ist bei Schneeschuhwanderern beliebt, man muss aber nicht vom Hochkönig gewandert kommen, um Aufnahme zu finden. Auch muss man nicht aus dreihundertjährigem Zirbenholz geschnitzt sein. In diesen liberalen Zeiten empfangen die Brüder auch Flachlandbirken meines Zuschnitts mit Höflichkeit (wer schon eine halbe Million Slalomstangen mit dem Nasenbein gespaltet hat, findet mit den Brüdern aber leichter in den Smalltalk als einer, der sich mit Kakteenzucht befasst).
An diesem Ort und unter brüderlicher Obsorge legte ich das Fundament einer schönen Sättigung, die ohne große Störungen die nächsten Tage halten sollte.
Es war dieser Ort in den Bergen zur stimmigen Appetitjustierung auch insofern geeignet, als die Herren Brüder das Elsass als Region vernünftiger Ernährungsmöglichkeiten zu schätzen wissen. An der Verbindung von bäuerlichen Deftigkeiten mit luxuriösesten Accessoires – wie es in Form von Schweinefleisch mit Gänseleber oder Erdäpfel mit Trüffel im Elsass usus ist – haben die beiden eine rechte Freude.
Steinbutt auf Kutteln gab es diesmal nicht. Jedoch in Einstimmung auf mein eigentliches Reiseziel viel Leber. Ein Hühnerlebermus mit den Gewürzdüften Arabiens darinnen und ein paar Flocken Perigordtrüffel darauf, serviert am Löffelchen als flinkes Zeichen für die Betriebsbereitschaft und geistige Regsamkeit der Küche. Detto Hummercreme mit Hering und in dicken Bröseln paniertes Steinbuttrestl mit Senfmayonnaise. Und ein weiteres Geschwader pikanter Naschereien, wie sie nützlich sind, wenn man den Schampus langsam trinken mag.
Lammleber mit kandierten Orangenschalen auf einem Stückchen Brioche, worin das Süße mit dem Bitteren sehr animierend verbunden lag, war auch dabei. Der Animation hätte es zu diesem frühen Zeitpunkt gar noch nicht bedurft.
Gedämpfter Saibling mit nochmals Trüffel darauf sowie einer Kombination von Apfelmus mit Brokkolipüree darunter war als Präludium für das eigentliche Essen vorgesehen. Apfelmus mit Brokkoli ist, das sei bemerkt, nicht unbedingt die Speise, nach der ich mich verzehre. Im falschen Kontext, flankiert zum Beispiel von Birnenmus-Karfiol oder Nektarinen-Erdäpfelpuffer, könnte ich daran verzweifeln oder Harnverhaltung kriegen. An einem Ort wie bei den Brüdern kann ich das Unbegreifliche aber gut vertragen. Ich verzehre es mit verklärtem Blick und in Demut vor der Schaffenskraft des Küchengeistes, der als große Kompensation für gelegentliche Rätsel à la Apfelmusbrokkoli reihenweise plausible Köstlichkeiten hervorbringt. Wie gedämpfte Forelle mit Blaukrautbuttersauce, Jakobsmuschelauflauf mit Grapefruitsauce oder Steinpilzlinsen mit gesottenem Tafelspitz. All das brachte man mir an diesem Abend an den Tisch und all das verzehrte ich in freudvoller Vorbereitung auf das eigentliche Reiseziel im Westnordwesten. Ich verzehrte auch gleich noch Langustinos mit Topfentascherln und frischem Kren, Mini-Kalamari zu der Rotkrautforelle, Gedämpftes Kalbsfilet mit Artischocken und einer glibbrigen Sauce wie sieben Stunden ungenierter Zärtlichkeiten sowie ein prachtvolles Stück von Seezungen-Ungeheuer, das an der Gräte gebraten und mit Fenchel und Orangenmarmelade sinnvoll verbunden war.
Die eingeweckte Kalbsleber mit Speck, Mispeln und Brioche nicht zu vergessen. Ein Gemälde an gedeckten Aromafarben. Allerheiligen auf kulinarisch sozusagen, wozu es trefflich passte, dass von fern im Sturm ein Glockenläuten zu vernehmen war
Vielleicht hat es auch nicht geläutet um viertelzwölf in der Nacht. Vielleicht war es auch eine kleine Sinnestäuschung. Das schöne Essen dieser Art bringt ja das Blut ins Fließen, zieht es von den dabei nicht so sehr geforderten Organen wie etwa den Sprungmuskeln oder dem Gehirn in die Körpermitte und an manche Partien der Körperoberfläche. In die Bäckchen zum Beispiel, die sich dabei röten, und in die Ohren, in denen es dann durchaus ein wenig klingen und summen und glockenläuten kann, wenn etwa auch ein wenig Wein im Spiel ist.
Ich wollte am nächsten Tag früh raus. Ließ es also nach dem ersten Dessert in Form von Milchreistörtchen mit Paradeiskompott und Zichorien-Eis gut sein und begab mich prachtvoll eingestimmt zur Ruhe.
Im Elsass sind sie keine Krieger. Das Land ist flach vom Rhein bis zu den Vogesen. Ein gutes Auseinandersetzungs- und kommodes Durchzugsfeld für die Armeen nervlich labiler Nachbarn. Dazu wurde es reichlich genutzt in der Geschichte. Die Elsässer haben dann jeweils den Buckel rund gemacht, die Misere ausgesessen, und wenn es wieder einmal so war, die Amtsformulare in der jeweils frisch verordneten Sprache ausgefüllt. Es gibt im Elsass, wo Ortschaften mit so verschiedenen Namen wie Ribeauvillé und Muttersholtz nebeneinander liegen, höhere Ideale als die Nationalitätenfrage. Gänseleberterrine beispielsweise.
Anzunehmenderweise ist das so in der Auberge de l’Ill. Zur Weihnachtszeit produziert der Gardemanger ein paar Tausend zusätzliche Gänseleberpasteten und -terrinen, zur Freude von Menschen in aller Welt, die das Traditionelle in seiner besten Machart schätzen. Dafür ist Familie Haeberlin nicht weniger als berühmt. Sie betreibt das Restaurant über vier Generationen in ebenso unprätentiöser Weise, wie sie es im steten Steigflug hält. Mit größter Kontinuität in der kulinarischen Weltsicht und dem fürsorgenden Personenkreis und im großen Vertrauen auf die Kraft der alten Werte. Froschschenkel-Mousseline, Lachs-Soufflé und Trüffel unter der Asche stehen in der Auberge de l’Ill seit Menschengedenken auf der Karte, sofern der Mensch nicht länger als dreißig, vierzig Jahre der verfeinerten Ernährung auf Art der Haeberlins gedenkt. Hin und wieder, nach reiflicher Überlegung und so mancher Probe, wird ein wenig nachjustiert. Mit einer Seeigelcreme beispielsweise, die Marc Haeberlin bei meinem Besuch ins Licht der Öffentlichkeit entließ.
Marc Haeberlin, der Sohn des großen, man darf es bei einem Herrn jenseits der 75 sagen, des großen alten Paul Haeberlin, hat es am schwersten von allen Haeberlins, das Restaurant im Steigflug zu halten. Wo wäre da noch oben, wohin ein weiterer Steigflug führen könnte? Die Freunde des Hauses sind so zahlreich, wie es sich die Familie nur wünschen kann, die Klientel ist nicht weniger als illuster. Seit 38 Jahren notiert die Auberge de l’Ill mit drei Sternen im Guide Michelin. In der ewigen Bestenliste bedeutet das Platz zwei, aber nur wegen Paul Bocuse, dessen Restaurant schon zwei Jahre länger den höchsten Orden trägt.
Die Geschichte der Seeigelcreme sei schnell erzählt. Sie illustriert sehr schön, wie die Leichtigkeit der Komposition nicht immer aus der Leichtgängigkeit eines impulsiven Handgelenks entspringt.
Seeigel gehört zur großen Küche wie Kaviar und Trüffel. Man macht Suppen daraus und verwendet Seeigel für Saucen. Man – vorwiegend als Bretone oder Japaner – löffelt das Corail auch völlig naturbelassen aus der Schale. Man kann Seeigel aber auch um einen Hauch zu intensiv empfinden mit seinem dumpfen Jod- und Salzgeschmack und seine fraglos delikateren Nuancen deshalb einbinden wollen in eine günstige Geschmacksumgebung. Zuletzt äußerte sich das bei Marc Haeberlin als Ragout von Jakobsmuscheln mit Seeigel-Corail und Kurkuma-Sabayon. Nun erstmals in Form der Creme. Immer wieder probiert, im Urlaub nochmals geübt, nun also geeignet für den Gast.
Sie war die Ouvertüre an diesem Abend mit dem Blick in den Park mit den schrägen Trauerweiden und dem sanften Schnee. Wegen des grünen Spargels, der dabei war, hätte die Seeigel-Leckerei auch vorzüglich mit der Aussicht auf eine Primelwiese harmoniert, nur war in diesem Jahr der meteorologische Fortschritt langsamer als das Frühlingserwachen unseres Küchenkünstlers. Luftige Seeigelcreme, würziges Taschenkrebsfleisch, ein in Mehl, Ei und Filoteigbrösel paniertes Wachtelei von leicht flüssiger Konsistenz im Dotter bildete den animierenden Start in einen Abend voll fürstengerechter Zubereitungen und hofgerechter Eleganz in der Bedienung. In einem anderen Raum des Hauses, nicht an dem Tisch in der Küche, den er auch gern frequentiert, dinierte an diesem Abend übrigens Carl XVI. Gustav, was mich aber nicht behinderte.
Von der Seeigelcreme gelangte ich zu einem gebratenen Zander mit Morchelnudeln und damit aufs Terrain der großen Klassik. Weiter zu einem "Fritot de Homard", das ich nicht mit Hummergröstl übersetzen will, weil man dabei niemals an zweierlei Curry denken würde oder an eine Rotweinsauce mit dem gewissen Dash an Sepia-Tinte. Zum Pot au feu von der Taubenbrust mit gesottenen Gänselebernüsschen und schwarzem Trüffel und Spinat und einer Sauce, die nach Poesie verlangt. Sauce so, dass ich es nie vergaß, wäre Ibn Hazim dazu eingefallen, doch der beschäftigte sich ja mit der Liebe. Auch muss die Taube, wenn sie nach was schmecken soll, so rosaroh sein wie bei Haeberlins.
Mit dem Herrn, der bei Haeberlin die Käse pflegt, diskutierte ich sodann angelegentlich – es war schon Wein im Spiel – die virulente Frage, ob man Kümmel auf den Munster nehmen soll. "Manche meinen, es hilft dem Munster", meinte mein Käsepfleger. Ich aber meinte, "der Kümmel ist gefährlich wie die Muskatnuss", sodass wir völlig einer Meinung waren.
Der Rest belastet mein Gedächtnis nicht mehr allzu sehr. Sorbet mit nicht zu wenig Vodka, Orangencreme, Mango, Marshmallows, Schokoladebataillone. Knisternder Schnee, die Weiden, der treibende Fluss, rotes Licht aus warmen Fenstern. Der König war noch fest am Werk.
Zum Licht. In die Geborgenheit. Place Klebér verstärkt den alten Wunsch der Menschheit. So weit, so flach, so ausgesetzt, dass man auch ohne Neigung zu agoraphobischen Verhaltensweisen in die Nebengassen abbiegt. Etwa die Kathedrale von Straßburg aufsucht, die in ihrer himmelstrebenden Detailpracht genau das Gegenteil des Platzes darstellt. Oder zu kulinarischen Zwecken die Kapelle von Monique et Émile Jung aufsucht, in der dem Suchenden ein Schwall von warmem Licht und ein Geflecht harmonischer Geräusche wie Silberklang und Weingeklucker bedeutet, dass er angekommen ist.
Gewiss, es gibt modernere Häuser und solche, die von der Gourmetkritik lustvoller behandelt werden als "Au Crocodile". Jahrzehntelang war Émile Jung unterbrechungsfrei in der 3-Sterne-Gesellschaft etabliert. 2002 reduzierte die sonst so duldsame rote Bibel die Wertung von drei auf zwei, was niemanden, der das Crocodile kennt, kalt gelassen hat. Madame et Monsieur Jung wohl auch nicht. Im Crocodile stecken zwei Mal 35 Jahre Leidenschaft.
"Man muss sich hergeben", sagt Émile Jung, denn Kochen ist Leidenschaft. "Jeder muss sich selbst vergessen in diesem Haus", sagt Madame Jung. "In diesem Haus muss die Sonne strahlen für den Gast."
Die Sonne von innen ist auch günstig, denn das Restaurant "Au Crocodile" hat sonst keine. Eine Schatulle, ein Schrein, ein innerster Salon ohne Fenster und ohne Garten, nur durch eine Milchglasdecke zum Licht in einem Hof verbunden und mit dem einzigen Ausblick auf eine Jahrmarkt- und Versammlungsszene ausgestattet, die in Öl gemalt quer durchs Lokal wogt. "Jeder von uns muss ein Sonnenstrahl sein für den Gast", sagt Madame Jung in nahezu fernöstlicher Weisheit. Eine "schöne Seele" ist dafür vonnöten, die sie erkennen kann. Und, nun ja, Training und Disziplin. Gehen lernen. Lernen, wie man einen Gast anspricht, lernen, wie man einen Gast ansieht, lernen, wie man etwas auf den Tisch gibt, lernen, alles zu sehen und nichts zu vergessen und nichts zu unterlassen, was dem Gast zum Komfort gereichen könnte.
Man irrt nicht, wenn man vermutet, dass Madame Jung mit Yoga und Meditation lange schon vertraut ist.
Man kann für den Service des Crocodile das häufig gebrauchte Wort vom Ballett bedenkenlos gebrauchen. Madame erfüllt das Haus in leichtem Schweben mit ihrem Sonnenschein, und wohl gesittet schwebt der Rest der Brigade auch ein wenig.
Zwischen dem Schwebezustand gewichtsloser Eleganz und der Bodenhaftung der elsässischen Tradition spannt sich das Spektrum von Émile Jungs kulinarischem Vermächtnis auf. Zwischen Langustinen mit Zitrone und Artischocken und gebratenem Zander mit Sauce "Albertine". Zwischen Seewolf mit Paprika und einer Endgültigkeit von gebratener Entenleber.
Ein Amuse bouche von Auberginenpüree, Thunfisch und Chiliöl war gerade richtig, um die nach dem Abend in Illhaeusern fast schon versiegten Säfte wieder in Fluss zu bringen. Langustinen siehe oben, ein Minimum an Gericht vom Augenschein doch mit der Meisterschaft der vielen Jahre zu großer Raffinesse hochgekitzelt. Ein Faden Butter auf den in Olivenöl gebratenen Krustentierchen, ein wenig Topinambur im Artischockenpüree, Zitronenfilets zu feinen Würfelchen gehackt, ein paar Salzkapern daneben. Ein Kleinkunstwerk, Colette gewidmet, die ja auch eine Elegante war Zeit ihres Lebens.
Der Furcht, das Mahl könnte in mediterraner Leichtigkeit verflattern oder gar ziseliert verlaufen, wurde mit dem nächsten Gänglein schon wirkungsvoll begegnet. Es kam was Kräftiges, doch Ungewohntes.
Wer von den luftgeselchten Enten Hongkongs gekostet, ins gesottene Hammelauge geblickt und Heuschrecken geknuspert hat, wundert sich nicht mehr leicht. Was zur Fortsetzung dieses Mahls bei Émile Jung anstand, schien aber doch recht ungewöhnlich. "Schlachtfrische Katzenlunge", vermutete meine Begleitung, die Kraft ihrer Studien des gesamten hypochondrischen Wissensschatzes auch über Kenntnisse der Anatomie verfügt. Ich tippte nach dem Augenschein auf Crème double-Blutwurst-Espuma, nur viel zu groß und auch nicht sehr wahrscheinlich in diesem Haus, alternativ auf eine nachlässig gedrehte Kärntner Nudel, die man im Saft von Roten Rüben gesotten hatte.
Es war dann aber weniger exotisch. Das scheinbare Geschwür erwies sich nach dem Anstechen mit der Gabel als pochiertes Hühnerei. Pochiert in einer Essenz von Rotwein und Gemüse, umkränzt von tiefdunklem Rotweinsaft, ergänzt von gebratenen Champignons mit Speck, von einem leichten Essigstich belebt und somit ermunternd auch für den Genuss der nächsten Gänge. Rindsmedaillon mit Gänseleber und essenzieller schwarzer Trüffelsauce. Der Riesling war dann schon perdu, wir beschäftigten uns mit Pinot Noir. Der ging auch gut zu dem halben Dutzend Munster verschiedener Provenienz und Reifegrade.
Émile Jung weiß natürlich, dass Käse nach der Trüffelsauce und der Gänseleber und dem Ei mit Speck und Pilzen und was da sonst noch erforderlich ist für eine untadelige Mahlzeit zur Mittagszeit ein wenig sättigt. Es gab daher nur noch kleine Orangenspalten in herbsäuerlichem Gelee vom Grapefruitsaft mit ein wenig Himbeereis und Fruchtsalat in Apfelsorbet, was beides mehr erfrischend als belastend war.
Ich hatte dann noch einen unterhaltsamen Abend bei Madame und Émile Jung, bevor es mich wieder ostsüdostwärts trieb.
Wir hatten am Nachmittag ein wenig geplaudert, um die Zeit zu überbrücken, und waren zu reden gekommen über die Wahrheiten in der Küche und ob es denn Geheimnisse geben kann in diesem Metier, die vielleicht den einen über den anderen heben, und über die Begehrlichkeiten, die falschen und die richtigen Propheten, was man halt so bespricht, wenn man einander noch gar nicht nahe ist, aber doch voreinander keine Angst hat. Vom Bewahren der Position im Wind war dann die Rede und dem unvermeidlichen Leiden in diesem Beruf, der Handwerk ist und mit dem wirren Maß der Kunst gemessen wird. Von der Vertiefung der Gedanken, was zum Glück führt. Vom Gefühl der Endlichkeit im gereiften Alter und vom Wahn der eigenen Unendlichkeit in der Jugend. Von falschen Fragen, die falsche Antworten nach sich ziehen.
Die Frage nach dem "Menü seines Lebens" schien nicht so falsch zu sein. Émile Jung ließ es für den Abend vorbereiten.
Es hatte eine Spanferkelsulz mit Salat zum ersten Gang. Gelee mit Wein abgekocht, wenig Gemüse als Einlage, dafür reichlich Gänseleber.
Gebratene Entenleber mit Chicorée. Daumendicke Entenleber, saftig zwar, aber nicht mehr feucht in ihrer Mitte. Nicht krustig außen rum, nur leicht gebräunt. Ein Beispiel für größte Könnerschaft im Umgang mit dem sensiblen Stoff.
Es folgte gebratener Zander mit Karpfenmilchner und dem geheimen Höhepunkt der Sauce "Albertine". Eine geheimnisvolle Sauce! Lebendig und säurereich vom Riesling, der dafür in großer Menge eingekocht wird. Aromatisch von den Pilzen, die man mitkocht, reich vom Obers, das dazu kommt, aber letztendlich so unbeschreiblich wie manche andere Klassiker, deren Zubereitung nur im Wirkungskreis eines Meisters gelingen können.
Lamm mit Koriander und in Salz eingelegten Zitronen mit Madeirasauce ("Es gibt ja nicht nur Elsass").
Tartelette mit Äpfeln, gratiniert.
Ich schnürte durch dieses Menü weitgehend gedankenlos, weil sich alles so schön von selbst erklärte. Die Zeitschrift Feinschmecker vergab vor gar nicht langer Zeit die Höchstnote für diese Küche. Was solchen, die beim Essen nicht gerne Rätsel raten, auch sehr verständlich ist.
Derart versetzt in einen Zustand beschwingter Leichtigkeit und durchgängig aromatisiert von den Rosendüften kulinarischer Erbauung beschäftigte ich mich noch gewissermaßen therapeutisch mit den letzten Rosenwasser-Marshmallows am Petits fours-Tablett. Marshmallows sind jetzt modern im Elsass. Und in ihrer leicht komprimierbaren Flaumigkeit und Kraft ihrer Zusammensetzung sind sie die ideale Nascherei bei aufkeimender Sättigung. Man macht sie mit Glukose, die auch den Hefesporen aus der Ohnmacht hilft.