Vor der Ankunft
Vor der Ankunft
Dotoressa war zugereist. Allmählich über die Jahre. Als sie angekommen war, hatte sie die Textur der Stadt vollkommen in sich aufgesogen und organisch adoptiert, war eins mit ihr und Teil von ihr, verwachsener mit ihr als die ältesten Baumschwämme an den Stämmen der ältesten Platanen in den Alleen des Lido. Mit dem letzten Rest ihrer Fremdheit, den sie gelegentlich spürte, wusste sie umzugehen. Sie verreiste anfangs selten und später nicht mehr, denn bei jeder Fahrt über die Ponte della Libertà erfüllte sie ein bleiernes Gefühl vernachlässigter Sorgepflichten und zurückgelassener Aufgaben, und jede Rückkunft bewegte sie über das normale Maß. Zu Zeiten gewisser Ereignisse – Staatsbesuchen, einer Yachtparade, Jahreswenden und anderen Zeiten kollektiver Unvernunft –, wenn sich die Bewegungsströme in der Stadt vermischten, die Bahnen der Touristen und die ganz anderen Wege der Venezianer durcheinander kamen, verließ sie das Haus nur für das Nötigste. Sie vermied die durchmischten Mengen aus gewöhnlichen Besuchern und den vom Anlass herbeigelockten Besuchern und den Bewohnern, die während solcher Ereignisse auch die plattesten Touristenreviere im Benehmen von Touristen frequentierten, also jeden Anstand vermissen ließen. Sie fühlte sich in solchen ungeniert brodelnden Melangen nirgendwo zugehörig, fühlte sich darin ausgesetzt und verlassen und wurde wie zwangsläufig von einem banalen Patriotismus heimgesucht, dem peinlichen Gefühl, es läge nun und nur an ihr, die eigentliche Ordnung zu verteidigen, die reine venezianische Apartheid: hier der Bewohner, dort der Gast und seine Tauben.
Sie erkannte darin unschwer die geringe Verhaftung ihrer neuen Wurzeln und eine gewöhnliche Eitelkeit. Die Reststrahlungen eines fernen Teils ihrer Geschichte verursachten ihr Beschwerden.
Dottoressa pflegte die Beziehung zu der Stadt und dem wahren Lebensstil ihrer Bewohner mit dem Ernst ihrer Wesensart, worin sich reichlich rebellische Romantik und milde Traurigkeit befanden. Die Melancholie und die Verachtung für alles Ordinäre machten ihr Friedhöfe zu den angenehmsten Orten. Nebel empfand sie als das angenehmste Wetter. Das Morbide und Modrige suchte sie seit Kindeszeiten, getrieben von der Erwartung auf die phantastischen Geschichten, die dahinter lagen. Derart geschaffen war sie für Venedig.
Wie andere junge Frauen mit einer Sympathie für Mao und das Judentum, transzendenter Freude an den Texten von Mann und Grass und einer Vorliebe für übergroße Hemden aus Flanell (unter denen sie aber sonst nichts mehr trug) kam sie mit dem Nachtzug, wann immer sie die Befindlichkeit dazu drängte und es die Umstände, finanzielle, beziehungsmäßige, was aber oft eins war, erlaubten. Das Venedig-Gefühl erfasste sie stets wie der Befehl einer großen Macht. Unruhe erfasste sie dann wie die Zugvögel im Herbst. Zwangsläufig waren dann diese Reisen.
Die Fahrt durch das schwarzfeuchte Kanaltal und das prozessionshafte letzte Stück der Strecke über die Ponte della Libertà im letzten Rest der Nacht versetzten sie in eine heftige Stimmung melancholischen Heimatglücks, von Anfang an.
Ihre Besuche wurden häufiger mit den Jahren, die Verbindungen vielfältiger, die Beziehungen wertvoller, die Verpflichtungen zwingender, der Blick auf das von Mythen und Klischees verstellte wahre Wesen dieser Stadt allmählich klar. Als sie länger dort als da war, erwarb sie das Studio beim Arsenal. Bescheidener Ausblick in den Hinterhof mit Lupinen, teuer genug, aber steuerschonend, denn es war schon die Zeit ihrer Arbeiten über die Glaskunst von Murano. So wurde sie auch im eigentlichen Sinne sesshaft in Venedig.
Dottoressa assimilierte nach Kräften. Beobachtete, verfolgte, studierte, vertiefte sich, versenkte sich, ging auf in allem, was die Stadt betraf. Die älteren und redseligen Katzen von Castello erkannte sie bald an den Stimmen (ein in der Kindheit auf dem Lande entwickeltes Talent). Anschläge und Amtsblätter las sie stets bis zum letzten Wort. Begierig suchte sie die intimen Auseinandersetzungen mit ihrer Stadt.
Zuerst in jeder Hinsicht. Nachdem ihr Luca davongestorben war, dahingerafft von einer rasend verzehrenden Lebensart – Rennsport, exzessive Literaturversuche, Absinth und ein ganzes Arsenal von anderen Mitteln, von denen er sich Erhellung und Beschleunigung erhoffte –, pflegte sie die Intimitäten nur noch asexuell. Letztendlich empfand sie die Assimilation in kulinarischen Belangen als besonders erfüllenden Akt einer nachhaltigen Vereinigung. Ihr venezianischer Appetit war rituell – Brot als Leib, Wein als Blut – gemäß ihrer Neigung, aber auch den lokalen Umständen entsprechend.
Ihrer Neigung und ihrem Trieb nach innigster Vereinigung entsprachen so manche Elixiere. Alte Amarone oder blutdichte Säfte aus Sangiovese und Nebbiolo passten ihr ganz vorzüglich, die Küche aber vorerst nicht. Die hochgastronomischen Umstände erwiesen sich als unerotisch. Den Empfehlungen der kulinarischen Ratgeber folgend, geriet sie in endlose Kulissenwelten vor totem Hintergrund und in die nasskalten Fänge ungezählter Köche, die ungestreift von jeder Phantasie und ohne jede Scham sich nicht in den Dienst des verfeinerten Geschmacks, sondern den des maximierten Verdienstes stellten. Indifferenz bei zuverlässig geringem Tiefgang war ihr trauriger Befund über die so genannten Spitzenrestaurants der Stadt. Ein tauber Stock im Weltgebirge kulinarischer Erbauung. Mit der Konsequenz der romantischen Rebellin mied sie hinkünftig sämtliche Lokale, die von der Gourmetberichterstattung blütenreich empfohlen wurden, und war vom Drang zur analytischen Betrachtung kulinarischer Erlebnisse mangels positiver Darstellbarkeit befreit.
Derart unbelastet strömte sie fortan durch einfache Lokale und war ihr die geringe Komplexität der Küche von Venedig unbeschwerlich. Die überschaubaren Geschmacksdimensionen von Polenta und Frittiertem entsprachen vorzüglich ihrem nunmehr gleichmütigen Zugang. Engagiert, fast wollüstig, ließ sie sich in diesen frühen Jahren in den einfachsten Osterien mit der venezianischen Ernährung ein, bei Rivetta, Do Porte oder Da Dante vorzugsweise, weil sie wirklich abseits lagen. Die extravagantesten Meeresfrüchte inklusive Seespinnen und Fischlebern genoss sie umstandslos unter allerlei Bezeichnungen, aber zumeist frittiert. Sepie al nero erschienen ihr besonders wertvoll wegen des dumpf anhaftenden Geschmacks der Tinte, den sie als einen Leitgeschmack des Lagunenlebens diagnostizierte. Stockfisch verband sie so sinnbildlich mit der Seefahrtsgeschichte und damit dem Reichtum von Venedig, dass ihr beim Anblick verschwenderischer Kunst oder auch nur mancher prachtvollen Fassade der gewöhnliche Geschmack von Stockfischpaste in den Sinn kam. Stockfischpaste, Bratkartoffeln und Ölgemüse verzehrte sie gern aus dem Fettpapier und am liebsten im Stehen an der Theke. Selten, dass man sie sitzen sah, denn das Beiläufige und Legere erschien ihr definitiv authentischer in diesen frühen Jahren. Es strengte sie auch orthopädisch noch nicht an und wirkte bei ihrem jugendlichen Alter durchaus nicht gewöhnlich.
Die Beiläufigkeit und der melancholische Hang zu Inseln schwemmte sie dann doch in Harry’s Bar. Erstmals in einem November mit viel Regen. Das Lagunenwasser quoll bei San Stefano, am Markusplatz und in ein paar tief liegenden Gassen schon durch die Spalten zwischen den Steinquadern des Bodens, gurgelte aus den Abflussspalten und bildete schimmernde seichte Flächen mitten in der Stadt. In Böen blies ein steifer Ostwind dichte Schauer über Kais und freie Plätze, die Schlaglichter der gelben Leuchten schwenkten unruhig über dunkle Formen und ließen fliegende Wasserschleier festlich glitzern vor dem Grau des Meeres und dem Schwarz der Nacht. Derart reinigende Umstände nährten die Erlebensfreude unserer Dottoressa. Es zog sie an einen Ort mit Menschen. Hinter einer Gruppe prachtvoll uniformierter Zöllner wurde sie durch eine schmale Pforte vom nächtlichen Sprühregen in warmes Licht gesogen. Sie sah sich um und war zu Hause.
Die Dichte des Salons war beträchtlich, aber ausnahmsweise angenehm. In einem Rundblick taxierte sie die Art des Publikums, eine Melange aus Begünstigten, Begnadeten und Beschädigten. Ein wenig Adel und Geldadel. Sonderlinge mit seltsamer Art, das Glas zu halten. Entspannte Charaktere wie aus guten Filmen der Schwarzweißzeit. Vereinzelt angespannte Figuren, die rastlos umherblickten, als müsste augenblicklich Bedeutendes geschehen. Das waren die Touristen. In Summe schienen ihr die Begnadeten zu überwiegen.
Dottoressa steuerte nach links in die Kurve der Bar, ließ den tropfenden Mantel von den Schultern in die Hände des Patrone fallen und beutelte die Haare aus. Giuseppe war unmerklich doch rasch hinzugetreten, denn aus einer zwanzigjährigen Ordinationserfahrung in diesem Institut war ihm sofort ersichtlich, dass mit dieser jungen Frau eine Liebende und Bekennende, eine zukünftige Ordensschwester in seine Bar gesogen worden war.
Dottoressa winkelte sich mit Hüfte und Ellbogen ins Tresenholz und fand sogleich ins Lot.
"Geben sie mir einen Martini, extra dry", sagte sie zum Barmixer.
"Einen doppelten."
Die Zöllner nippten am Ristretto. Als sie um zwei von der Bar ablegten, wusste Dottoressa eine Menge über den Zigarettenschmuggel aus Griechenland und die Allüren der Reisenden auf Luxusschiffen. Sie hatte aber auch eine erste Ahnung von den Stärkungen und der korrekten Lebensart in Harry’s Bar.
Bei ihren nächsten Besuchen machte sie sich umfassender vertraut mit diesem so oft beschriebenen und doch so unbekannten Ort der Kraft. Sie erkundete die Exklave im ersten Stock und saß auf einen Lunch zur Probe. Die verschobenen Frequenzen amüsierten sie. Während sich unten an der Bar Gastgeber und Gäste ganz fühlbar aufeinander einließen und in den günstigen Stunden verschmolzen zu einer Legierung der Behaglichkeit, vollzog sich auf der Etage ein tausendfach geübter Akt von maschineller Routine. Behandelt wurden hier vor allem ratlose Gourmetreisende, allesamt Medien- und Mythenopfer, komplizierte Senatoren und Admirale, bezugslos zum Geldwert und uninteressiert an allen Lebewesen, vorausblickende Kapitalisten, die ihre Nachzucht im Brooksfield-Blazer an dieser günstigen Adresse im Geldausgeben unterwiesen, nachlässig gereifte Männer in Begleitung teuer aufgemaschter Nichten und dergleichen Randgruppen der Gesellschaft. Man sprach überwiegend Deutsch und Amerikanisch und unterhielt sich, so weit verfolgbar, über Hochseefischen, Swimmingpools und Schäferhunde.
Mit größter Professionalität geleitete eine Siebenschaft an Personal die Magnaten und Verirrten zu genau der attraktiven Rechnungshöhe, die man in Harry’s Bar für angemessen hielt. Dreigängiges Menü von größter Schlichtheit: 98. Ein paar Häppchen kaltes Fleisch mit Mayonnaise: 58. Baccalà auf drei Arten: 48. Nur im Casino konnte der Einsatz für den kleinen Sinneskitzel höher sein.
Es wurde kein Pardon gegeben und kein Pardon verlangt. Die weißbejackten Neffen des Marquis de Sade demütigten ihre Klienten mit größter Expertise. Kaum saß der Opferwillige, spürte er schon den warmen Hauch des Personals im Nacken. Wurde er schon mit einer ersten Gabe aus geschmacksflachem Prosecco eingeölt. Beförderte man schon in brüsker Geläufigkeit stoßfestes Porzellan auf seinen Tisch. Klimperte man mit verachtungsvoller Nachlässigkeit billiges Glas dazu. Schaufelte man aus den reizlosesten Geschirren nachlässig Speisen auf die Teller. Schob man ungeniert den nächsten Gang dazu, falls einer sich vertändelte und die ihm zugemessene Zeit bei Tisch zu überschreiten drohte. Zum harschen Schluss mit schlecht gespieltem Stolz und unter dem Vorwand des "Desserts" ein Scheit von der Torte appliziert. Inkasso und grazie, Professore!
Aus dem gelben Strom der Verachtung entsprang ein dünner Quell an Lustgewinn. Die Gäste fügten sich in die Behandlung, für die ein jeder seine Widmung fand. Der Verführte nahm es als Buße für unbeichtbare Sünden. Der Senator freute sich über die Brutalität der Reize, wodurch er spürte, dass er noch auf der Welt war. Der Hasenjäger betrachtete den kostspieligen Schmerz wie eine Pirsch durch dornenreiches Unterholz vor dem Prachtschuss.
Infantile Glücklichkeit oder willfähriger Gleichmut, die Gäste quittierten das Prozedere unterschiedlich, aber durchwegs ohne Aufbegehren. Wie tat es einem jeden wohl, als das Ende nahte und man ihn mit warmen Worten, aber vor dem kalten Hintergrund der Freude am Profit vom Tisch verscheuchte. Die Verführten bejubelten noch das Cremetortengebirge, als wäre es ein ewiges Hauptwerk der Konditorkunst. Die Admiräle verschafften sich eine letzte Reizverstärkung durch den Nachlass von vulgär viel Trinkgeld. Die Playboys rumpelten breitmäulig davon in der lendenstärkenden Gewissheit, ihre Ziegen auf dieser Weide prachtvoll eingestimmt zu haben auf die munteren Sprünge, die noch vorgesehen waren.
Sie, Dottoressa, freilich wurde gut behandelt und geduldig, denn sie war schon am halben Weg zur Ordensmitgliedschaft.
Sie probierte die Klassiker der Küche – Carpaccio, Baccalà, Risotto di Scampi … –, von denen ihr keiner aus der schieren Kraft eines kulinarischen Gehalts bemerkenswert erscheinen mochte. Die banalen Zubereitungsweisen, das Mittelmaß der Produkte, die Beziehungslosigkeit und der Fluss an Gleichgültigkeit auf allen kulinarischen Ebenen bis hin zum Tischwein – sein Charakter erschien ihr geradezu erbärmlich – störten die Harmonie in Dottoressas Gefühlsensemble nicht.
Sie hatte die eigentliche Existenz von Harry’s Bar bereits begriffen, als Tempel, Meditationsraum sowie als Nervenheilanstalt.
Dottoressa hielt sich hinkünftig im Parterre auf und wurde heimisch in diesem Milieu aus Hirten, nichts ahnenden Lämmern und solchen, die dem Geheimnis des Glaubens auf die Spur gekommen waren und daran Stärkung fanden. Sie aß wenig, aber Bekömmliches, Ravioli mit Spargel aus Bassano oder Risotto nero mit dem Aroma der Lagune. Leckte die Knoblaucholiven ihrer Montgomerys ab, bevor sie sie verzehrte, und blieb den trockenen Martinis treu, trank mäßig, wie es ihre Art war, aber hart. Mit derart korrekter Ernährungsweise wuchs sie hinüber von der Novizin in den Adelsstand vollwertiger Ordensschwestern.
Giuseppe und die anderen von Harry’s Bar nannten sie sodann Dottoressa ohne jeden Unterton und ohne auffälligere Betonung des zweiten Wortteils. Sie hatten auch herausgefunden, dass diese Frau über jeden Stein auf den Laguneninseln mehr erzählen konnte, als sie selbst über die Neurosen ihrer Gäste wussten, was sie mit Hochachtung erfüllte.
In ihren zivilisationsflüchtigen Phasen waren tatsächlich Steine die liebste Beschäftigung unserer Dottoressa. Gegen den Strom der Zivilisationsentwicklung und zu den ältesten und beredtsten Zeugen der Geschichte strebend führte sie die Suche nach der wahren Wesensart der Stadt ins nordöstliche Revier der Lagune. Sie reiste früh am Morgen an und war zu dieser Zeit in aller Regel der einzige Passagier auf dem dröhnenden Vaporetto, das zu allen späteren Tageszeiten bis in die Dämmerung hinein schwere Ladungen von Kulturpilgern und Gruppenreiseopfern zwischen Burano und Torcello hin und her beförderte. Auch der Weg von der Landungsstelle ins Inselinnere, den Kanal entlang zu den alten Steinen erwies sich zur Morgenzeit noch menschenleer und still bis auf den Gesang der Drosseln.
Dottoressa hatte sich aus den Arsenalen der Literatur gut gerüstet für die emotionale Eroberung dieses Fleckens Marschland, und so waren ihr die überlieferten Perspektiven Torcellos wohl bekannt. Der Anblick der Wirklichkeit stellte sie zufrieden, die Natur übertraf häufig die Verheißungen des Schriftguts und blieb nur ausnahmsweise hinter den Erwartungen zurück: Es sprang zwar niemals ein Mädchen über die Ponte de Diavolo im reinen Licht des Morgens (Cartier Bresson hatte es für sein Foto wohl mitgebracht), aber die Fresken und Mosaike in Santa Maria Assunta, das Tagwerk der Fischer am trägen Fluss, die einfallenden Entenschwärme im fahlen Winterlicht, der Blick vom Turm der Basilika über die farbenfrohen Fassaden von Burano und den schiefen Campanile zur grauen Häuserschar Muranos bis zum dunstumwölkten Graphitstreif Venedigs standen in ihrer Kraft und Pracht und verheißungsvollen Herrlichkeit den Darstellungen in keiner Hinsicht nach. Dottoressa versenkte sogleich die Wurzeln ihrer Leidenschaft in dieses Terroir, und leidenschaftslos verließ sie bei ihren anfänglichen Besuchen Torcello jeweils zur Zeit der ersten Führungen durch die Basilika, wenn sich also die Insel mit tausenden Besuchern füllte. Denn die besondere Bewandtnis mit der Locanda auf der Piazza San Fosca war ihr noch nicht bekannt.
Das schwebende Licht im Garten der Locanda, in den es sich über die Mauer hinter dem Säulengang der Chiesa Fosca mühelos blicken ließ, führte sie sodann zu einem passenden Refugium für den Tag auf Torcello. Eine tierische Begierde gewissermaßen – die nämlich der Katzen nach windstillen Plätzen mit distanzierter Aussicht auf Geschehnisse – führte sie ins kühle Haus mit dem dunklen Kamin- und Barraum und den gerahmten Fotos an den Wänden – geringen Zeugnissen guter Schwingungen, guter Promotion und eines guten Platzes: Hemingway und Giuseppe Cipriani in einem Frühling unter der Pergola, unter Strohhüten und zu der frühen Zeit, als die Rebstöcke noch dünne Stämmchen waren und das Haus noch nicht berühmt. Dimitri Mitropoulos, 1954. The Queen was most grateful im Mai 1961. Valéry Giscard d’Estaing war hingerissen im August 1980, Dankschreiben der Queen Mom 1984.
Dottoressa war nur kurz irritiert. Im Broadway Daily in New York oder bei Alfredo in Rom hatten sich derartige Trophäensammlungen zwar als Indiz für einen außerordentlich platten Stil des Hauses erwiesen, hier aber lag die Sache augenfällig anders. Dottoressa dachte an das Gewicht der Welt und wie sehr es doch vermehrt wird von solchen wie Marc Chagall oder Max Ernst, Somerset Maugham oder die Callas, nun ja, auch von Hemingway, diesem elenden Feind der Enten, im Gegensatz zu … etwa zu Fußballspielern und Komödianten, die andernorts an die Wand geheftet werden.
Dottoressa verbreitete sich im Garten und nistete sich ein. Zwischen den Beeten mit prachtvollsten Tulpen und im durchlässigen Schatten des alten Weichselbaums konservierte sie ihre mädchenhaften Gefühle in Wogen aus würzigem Kaffee und heißer Milch und besorgte in lückenhafter Gemächlichkeit die Aufarbeitung von Notizen. Sie widerstand der billigen Versuchung zur Führung eines Inseltagebuchs erfolgreich und sah statt dessen häufig in die Luft.
Mit dem Risotto alla Torcellana und Sampietro alla Carlina kam sie einer verborgenen Güte der Küche von Venedig auf die Spur. Das eine vollwertig im Aroma und nach allerlei Kräutern und Kleingemüse duftend, die richtige Speise für dichte Herbstabende auf der Locanda, wenn weiße Gischt über die Lagune treibt und der Wind die letzten Rosenblätter von den Hecken weht. Der andere fest im Biss und reintönig in seiner fundamentalen Geschmacksharmonie von Fisch, Tomaten und Olivenöl. Sie ruhte danach bei wehenden Gardinen gern in jenem Zimmer mit dem Ausblick auf den Garten und die Basilika, in dem auch Hemingway, Mitropoulos oder Kim Novak auf die sinnvollsten Gedanken gekommen waren. Man müsste, dachte Dottoressa, Lamas züchten. Das jedoch verfolgte sie nicht mehr weiter.
Dottoressa wurde betagt in Venedig und auf Torcello, jedoch nicht alt. Cipriani errichtete mittlerweile mit einem unerhörten Gefühl für die Orte der Kraft das Hotel auf der Giudecca. Für die Besorgung des privaten Fährdienstes von San Marco zum Palmengarten des Hotels wählte man in diesem Haus stets Herren von ausgesuchter Schönheit. Das Palazzo Vendramin, mit seinem Prachtblick über den Canale auf das möglicherweise kostbarste Ensemble der Architekturgeschichte, wusste er schonungsvoll zu integrieren.
"Das ist das Hotel, in dem wir wohnen", sagte sich Dottoressa an jenem Tag, als ihr jede Haushaltsführung und die Schiffsfahrten nach Torcello endgültig zu beschwerlich wurden. Der Butler im Palazzo Vendramin erwies sich von weicher Wesensart und kenntnisreich in der Verfertigung der passenden Getränke, sodass es gut war.