Wie ich lernte, die Einsamkeit zu lieben

Sushi, Tonkatsu, Kaiseki – aber auch, warum nicht, Cocktails als Menü. Eine Reise durch die Extrazimmer von Tokio mit langen Abstechern an die richtigen Bars.

Text von Christian Seiler · Illustration von Markus Roost

Ich saß in der Bar des Park Hyatt in Tokio und hörte einer mittelprächtigen Jazzband dabei zu, wie sie routiniert das „American Songbook“ durchforstete. Dazu trank ich sehr steife Gin Tonics. Wie könnte ich mich dabei nicht an Bill Murray erinnern, der sich in Lost in Translation am selben Ort von der Sängerin der Band von damals aufreißen lässt, weil er schon ein paar Gin Tonics mehr auf dem Konto hat? Die Parallele zu Bill erschöpft sich übrigens an dieser Stelle, außer dass ich meinen Blick über die Stadt schweifen ließ wie Sofia Coppola ihre Kamera. Das Leuchten, Glimmen und Pulsieren der Zehn-Millionen-Stadt ließ mich nicht unbewegt, 52 Stockwerke über dem Boden des Stadtteils Shinjuku, in der bequemen Kapsel der Interkontinentalrakete, durch deren Luke mir in den nächsten Tagen die erstaunlichsten Speisen und Getränke gereicht werden würden.

„Ein guter Reisender hat keine festen Pläne und denkt nicht ans Ankommen.“ Diese ewige Weisheit staubte ich einmal in einem billigen ­Zitatelexikon ab. Es wird einem gewissen Lao Tzu zugeschrieben, einem chinesischen Philosophen, den wir auch als Laozi kennen könnten, würden wir ihn überhaupt kennen.

Der Spruch klingt gut. Ich bin sicher, der eine oder andere Travel-Instagramer hat ihn als Motto in seiner Bio stehen. Die Wahrheit sieht freilich anders aus, speziell wenn du gemeinsam mit Spitzengastronomen reist, konkret mit Konstantin Filippou. Der poetische Moment in der Park Hyatt-Bar mündete also in eine hektische Bestandsaufnahme, welche Reservierungen bereits unter Dach und Fach seien und welche Rückmeldungen noch ausstünden. Außerdem mussten wir eine Strategie für die Gasthäuser entwickeln, die traditionell keine Reservierungen annehmen, sondern ihren Gästen eine gewisse Wartezeit in der Schlange abverlangen, sprich: Ramen-Bars, Sushi-Bars, aber auch die legendären Pizza-Restaurants, die uns durchaus verlässliche Quellen euphorisch ans Herz gelegt hatten: „Ihr werdet nirgends so gute Pizza essen wie in Tokio …“

Spoiler: Die Pizza im Seirinkan war tatsächlich ausgezeichnet, wobei mir zwei Nebenaspekte des Lokals mindestens so gut gefielen: Erstens gab es nur Pizza Margherita und Pizza Marinara, und zweitens ist Chef Kakinuma ein hingebungsvoller Beatles-Fan. Das bedeutete, dass seine Pizza pur und dogmatisch aus dem Ofen kam und ein Beatles-Song nach dem anderen aus den Lautsprechern des zweistöckigen Puppenhauses strömte. Kakinuma wird das Verdienst zugeschrieben, dass die neapolitanisch-japanische Pizza in Tokio einen regelrechten Siegeszug angetreten hat – Pizza Dada, Pizza Strada, Pizza PST, Pizza Savoy. Von Letzterer kehrte Konstantin seinerseits mit einem so zufriedenen Gesichtsausdruck zurück, dass ich gar nicht mehr fragen musste, wie gut er gegessen habe.

Darf ich noch etwas über das Park Hyatt sagen? Es ist nicht das modernste Hotel der Welt, aber die designmäßigen Jahresringe fallen angesichts der unglaublichen Aussicht und des mindestens so erstaunlichen Service nicht ins Gewicht. Auf mich wirkt Perfektion auf allen Kanälen sowieso eher einschüchternd, ich fühle mich, als würde ich vakuumiert zu Bett gelegt. Im Park Hyatt bekam ich aber immer Luft, und als Konstantin eines Morgens beim Frühstück keinen Mistkübel fand und deshalb ein vollgeschnäuztes Taschentuch länger in der Hand behalten musste, als ihm lieb war, erlebte ich eine unglaublich lustige Vorführung in hinuntergeschlucktem, aber unerbittlich ans Tageslicht strebendem Ärger. Ich werde später leider noch einmal darauf zurückkommen.

Jedenfalls war es der Executive Chef des Park Hyatt, Ronan Cadorel, der uns einen Herzenswunsch erfüllte: einen Besuch auf dem legendären Tsukiji-Fischmarkt, der unmittelbar vor seiner Übersiedlung an den Stadtrand stand. Ronan machte es persönlich. Er holte uns um vier Uhr früh vom Hotel ab und brachte uns mit dem Transporter zu den alten Hallen, sein eleganter Fisch­einkäufer hatte dafür gesorgt, dass wir nicht nur aufs Gelände durften und dafür mit weißen Gummistiefeln ausgestattet wurden, sondern auch an der mythenumwobenen Zeremonie teilnehmen durften, die im Zen­trum jedes Morgens steht: die Thunfischversteigerung.

Auch wenn wir schon diverse Dokus und Clips auf YouTube gesehen hatten, fuhr mir der tribalistische Ernst der Versteigerung direkt unter die Haut. Auf groben Holzpaletten lagen die 1,2 bis zwei Meter langen Torsen der zum Verkauf stehenden Thunfische, deren Schwanzflossen abgeschnitten waren, damit die potenziellen Käufer Farbe und Beschaffenheit des Fleisches sehen und sich mit vorgereckter Nase von dessen Geruch überzeugen konnten.

Ronan hatte uns mit maximaler Höflichkeit, aber auch einem gewissen Nachdruck bedeutet, dass wir uns im Hintergrund halten mögen. Subtrahiert man die formellen Höflichkeiten von dieser Bitte, bedeutete sein Hinweis, besser niemandem im Weg zu stehen, nicht weniger als: Bleibt unsichtbar, sonst schneide ich euch die Eier ab.

Der erste Auktionator erschien um Punkt fünf. Die Käufer hatten sich inzwischen einen Eindruck verschafft und brachten sich in Stellung. Der Auktionator eröffnete mit einer kleinen Handglocke die Versteigerung, dann veränderte sich die Stimmung schlagartig.

Denn sobald der Auktionator auf den ersten Fisch gedeutet hatte, begann er dessen Geschichte und Vorzüge mit einer Art Sprechgesang zu beschreiben, der mich zuerst aus der Fassung brachte, aber bald völlig in seinen Bann zog. Der kleine Mann war kein Marktschreier. Er klang wie ein Schamane, ein Muezzin, und es waren nicht nur die Modulationen der Stimme, sondern auch die Bewegungen, die er dazu vollführte: Der Mann tanzte wie ein Derwisch, er beförderte sich durch Gesang und Tanz in einer Art Trance, nur dass an dessen Ende nicht die Erleuchtung, sondern der Verkauf des Fisches wartete, sobald der Zuschlag erteilt war.

Ich konnte nicht anders, ich näherte mich dem Auktionator an, weil ich mit dem iPhone wenigstens ein bisschen von dieser Atmosphäre festhalten wollte. Allerdings spürte ich augenblicklich Ronans sanfte Hand auf der Schulter, mit der er mich wieder in die zweite Reihe beförderte, bevor mir ein Händler sagen konnte, was er wirklich von Besuchern hielt, die ihm hier im Weg stehen, die Typen beherrschen bestimmt Kampfsportarten.

Nach sieben oder acht Fischen musste der Auktionator abgelöst werden, er war mit seinen Kräften am Ende. Ein neuer Zeremonienmeister übernahm, der ausgepumpte Vorgänger ging von der Bühne ab wie Bruce Springsteen nach einem vierstündigen Konzert.

Nun zeitigte die Auktion des Tages nicht einmal spektakuläre Ergebnisse, gemessen an den Versteigerungen, bei denen für einen einzelnen Blauflossenthunfisch wie heuer im Jänner 2,7 Millionen Euro bezahlt werden. Der teuerste Fisch ging schon für knapp 300.000 Euro an seinen Käufer, der ihn nebenan sofort zerteilen ließ, um ihn später an seine Kunden in der Spitzengastronomie liefern zu lassen.

Ronan hatte in einer der vielen Sushi-Bars, die sich an der Peripherie des Marktes angesiedelt hatten, Plätze für uns reserviert. Punkt acht bekamen wir eine Ladung an Fischqualität verabreicht, wie ich sie noch selten erlebt hatte, was spreche ich, noch nie …
Ich fragte Konstantin nach seiner Meinung.

„Okay“, sagte er.

„Nur okay?“, fragte ich etwas ungläubig. „Bist du des Teufels?“

„Nein“, antwortete er. „Wahrscheinlich waren das die besten Sushi, die ich je bekommen habe. Aber ich spüre, dass es noch besser geht.“

Spoiler: Es ging noch besser. Ein paar Tage später ­dinierten wir bei Hakkoku in Ginza, dem abenteuerlich bunten und belebten Zentrumsbezirk, und abgesehen davon, dass das Sushi-Menü auf 32 Nigiri ausgelegt war und ich zum ersten Mal von einer Sushi-Bar mit dem ­Gefühl aufstand, ja, doch, ich habe gerade echt was gegessen, lernte ich Fische kennen, von denen ich weder vor­her noch nachher je gehört hatte: Tossaki, Makokarei, Kasugodai, Tokisake, Botanebiu, Katsuo, Shako, Kisukobukime, Kegani, Ankimo, Hihamaguri, Ainame, Aji, Hamo, Yariika und 16 weitere.

Ich erinnere mich an den Schmelz des Abalone, die Jod­explosion des Seeigels, die Würze der Makrele, die Elastizität des Aals, und natürlich werde ich den Akkord der vier Thunfisch-Nigiri nicht vergessen, die hintereinander serviert wurden, wobei der Fisch immer fetter wurde. Was für ein Erlebnis, als die Balance zwischen Geschmack, Salzigkeit und Konsistenz sich verschob, als würde man einen Filter über ein- und dasselbe Fotomotiv legen, von klirrend kalt bis strahlend warm.

Mit großer Selbstverständlichkeit pflückte der Sushi-Meister den perfekten Reis aus dem Holzbehälter, um vor unseren Augen die Nigiri zu formen. Jedes Reiskorn glänzte in beiläufiger Vollkommenheit, der Reis hatte Zimmertemperatur und war elegant gesäuert. Wie stark das jeweilige Nigiri mit Wasabi oder Sojasauce gewürzt werden sollte, entschied allein der Sushi-Meister, der die gute Laune von Hiroyuki Sato, dem Chef des Hauses, verinnerlicht hatte.

Nur am Ende der Bar neben uns saß ein Gast, der gar nichts sagte und allen Versuchen, ihn in ein freundliches Gespräch zu verwickeln, auswich. Erst später fanden wir heraus, dass er der Gitarrist einer berühmten Band namens Interpol war, der wohl dachte, wir wollten uns an den prominenten Musiker, der Sushi isst, heranmachen. Dabei fanden wir nur, dass er einsam aussah.

Wir streiften durch Tokio und lernten den absonderlichen Rhythmus der Stadt kennen. An Verkehrsknotenpunkten wachsen die Häuser in die Höhe, Wolkenkratzer, unförmige Malls und ­Büroschachteln, aber dazwischen gebärdet sich die Stadt fast ländlich, winzige Häuser, winzige Vorgärten, unübersehbare Getränkeautomaten mit Tee und Calpis und eine unwahrscheinliche Ruhe.

An manchen Orten standen lesende oder ihr Handy befragende Menschen in einer Schlange, in der Regel befand sich in der Nähe eine Ramen- oder Udon-Bar, die keine Reservationen annimmt. Dort nahmen die Gäste dann mit hoher Geschwindigkeit – umgekehrt proportional zur Länge der Wartezeit – ihr Essen zu sich. Die europäische Mode, sich an irgendeinem Stand einen Imbiss zu holen und diesen auf der Straße oder gar in den öffentlichen Verkehrsmitteln zu verzehren, ist hier unbekannt, nein, sie ist geächtet. Gegessen wird im Sitzen, und bis man sitzt, wird hungrig gestanden.

Ein programmierter Höhepunkt unserer Safari durch Tokio war das Essen bei Kagurazaka Ishikawa, einem Kaiseki-Restaurant, das vom Michelin seit Jahren mit drei Sternen ausgezeichnet wird. Wir hatten den Tisch mit Glück, Beziehungen und Beharrungsvermögen bekommen, denn selbst, wenn es in keiner Stadt der Welt mehr Sternerestaurants gibt als in Tokio, heißt das noch lange nicht, dass man dort auch willkommen ist. Ich hielt das anfangs für hochmütig oder mindestens Methode, bis ich vor Ort den wesentlichen Grund erkannte: Die Restaurants sind klein, manchmal sogar winzig. Gäste werden entweder an einer Bar oder in Extrazimmern empfangen und erfreuen sich dort der uneingeschränkten Aufmerksamkeit von Küche und Bedienung.

Ishikawa war in einer namenlosen Seitenstraße domiziliert, sodass wir eng mit dem Taxifahrer zusammenarbeiten mussten, um überhaupt rechtzeitig anzukommen. Roamingkosten spielten keine Rolle. Schweißnass, aber pünktlich kamen wir an und bekamen unseren Platz in einem ruhigen Extrazimmer zugewiesen – logisch, da es bei Ishikawa ausschließlich Extrazimmer gibt. Vielleicht hat diese programmatische Isolation des Gastes mit dem Respekt vor der Privatheit des Essens zu tun. Vielleicht soll es die Gäste aber auch dazu animieren, sich durch nichts vom Essen ablenken zu lassen. Kaiseki ist schließlich die höchste Ausprägung japanischer Kochkunst, indem es sämtliche Zubereitungsweisen, vom Frittieren über das Kochen von Suppe, Schneiden von Sashimi, Grillen über Holzkohle, Kochen und Dämpfen bis zur Herstellung des finalen Reisgerichts, mit den verfügbaren regionalen Lebensmitteln kombiniert und sie möglichst ansehnlich und in möglichster Perfektion präsentiert.

Eine Haarkrabbe kam mit Auberginenkaviar und einer gelierten Rindsuppe. Es folgte ein frittierter Silver Pomfret – ein pelagisch lebender Tiefwasserfisch, entsprechend schwierig zu fangen –, der mit süßem Mais und den bitteren Innereien der Seegurke serviert wurde. Die Suppe stammte vom Horse Head Snapper, einer von Ishikawa präferierten Unterart des Red Snappers, und wurde mit ausgestochenen Kügelchen aus Wachs­kürbis ergänzt. Dann kamen die Sashimi von der Seebrasse und eine reichliche, köstliche Portion Seeigel, der nicht erst seit damals meine liebste Meeresfrucht ist. Ein Stück Aal auf Klebreis. Ein gegrillter Ayu-Fisch mit einer Wasserpfeffersauce in einem kleinen Schälchen. Schließlich ein dünnes, vorsichtig gekochtes Stück Rindfleisch mit Rüben und einer süßen Zwiebel, Reis mit kleinen Fischen, als Dessert marinierte Früchte.
Das Essen war verglichen mit dem Kaiseki-Menü in Kyoto (A la Carte 4 / 2018) eine Lektion in radikaler Purezza. Während im Kikunoi die einzelnen Gänge in geradezu verschwenderischer Pracht präsentiert wurden, beschränkte sich Ishikawa auf das Nötigste – alte japanische Keramik, auf der die einzelnen Gänge so kamen, wie sie waren: kleine Portionen von Essen, nicht mehr, nicht weniger, hübsch anzusehen, aber ohne alles, was man Design oder auch nur Finesse nennen könnte.

Klar war das Menü gut. Aber wenn ich mich an den Abend zurückerinnere, dann fallen mir zuerst Chef Ishikawa und seine Serviceleute ein, die uns beim Abschied auf die Straße begleiteten und sich tief vor uns verneigten. Sie standen ­immer noch gebückt da, als wir uns bereits im Taxi darauf verständigt hatten, noch einen Drink in der Bar zu nehmen, um die Nachbesprechung nicht allzu trocken zu gestalten.

Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, eine unstrittige Qualität nicht angemessen beurteilen zu ­können. Das quälte mich. Ich habe zahllosen Menschen, die mir sagten, nein, wir gehen nicht in diese Fine-Dining-Restaurants, weil wir gar nicht schmecken können, wir gut dort gekocht wird, gesagt: Quatsch. Jeder schmeckt, ob etwas gut ist oder besser.

Jetzt war ich es, der ratlos war. Ich hatte ein gutes Abendessen gehabt, gar kein Zweifel. Aber wie gut war es wirklich gewesen? Dafür fehlte mir eindeutig das nötige Vokabular, das Wissen über Arten, Texturen, Raritäten, den Kontext – und ich war froh, dass wir gleich am nächsten Tag das nächste Kaiseki-Lokal besuchen würden, ein Haus namens Den, das auf der 50-Best-Liste als bestes Restaurant Japans geführt wird, konkret auf Platz 17.

Das Den liegt in Shibuya, nahe der Baustelle, wo gerade das neue Olympiastadion entsteht. Es zeigte sich auf den ersten Blick aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Wenn Ishikawa ein Kaiseki-Restaurant in steinalter, japanischer Tradition betreibt, dann ist das Den von Zaiyu Hasegawa eine grelle Showbühne, große Fenster zur Straße, lange Bar, hinter der fauchend und vernehmlich gekocht wird, und Gerichte, die farbenfroh und unterhaltsam sind, keine Rede von Tradition, dafür jede Menge Freude am Effekt.

Stellen Sie sich eine in Miso marinierte Foie gras vor, die mit Sumomo-Pflaumen-Marmelade in einen Daikon-Keks verpackt wird. Oder einen Karton wie von KFC, auf dem das Konterfei von Zaiyu Hasegawa persönlich prangt und – „so good!“ – das frittierte Huhn, gefüllt mit Sticky Rice und Matsutake-Pilzen, enthält, das Signature Dish des Den. Als Suppe kommt ein spektakulärer Tomatenfond mit Dashi-Essig, Passionsfrucht, Chiasamen, gehäuteten Tomatenfilets und Basilikumsamen und als „Sashimi“ der in Soja marinierte Thunfisch mit „Wasabi aus der Mount-Fuji-Region“, ein echtes Stück Comfort Food. Das gilt auch für die geschälten und in Miso marinierten Auberginen im gefährlich durchzogenen Sirloin-Beef, die aussehen wie Schinkenrollen bei der Aida, nur ohne Gemüsemayonnaise, und eine Salz- und Umamibombe sondergleichen sind, umwerfend, keine Zeit für Sensibilitäten. Okay, der bunte Salat, der jetzt kommt, ist frisch, knackig und gut gesäuert, und der unvermeidliche Reis mit Fisch schmeckt mir sicher besser als bei Ishikawa – aber heißt das auch, dass er besser war?

Ich war durcheinander, und meine Irritation wurde nicht kleiner, als Zaiyu Hasegawa nach dem Essen mit einem Schoßhund seine Honneurs machte. Er hielt seine Ansprache, und der Hund begann mit den Vorderpfoten zu applaudieren – Sie hören richtig, die Nummer ist zirkusreif. An einer Betonsäule in der Mitte des Restaurants haben alle möglichen ­Zelebritäten der kulinarischen Globalisierung ihre Paraphen hinterlassen. Auch Konstantin blieb es nicht erspart, sich mit einem dicken schwarzen Filzstift zu verewigen.

War das andere Menü besser als das eine? Sagen wir so: Im Den wird eine kulinarische Sprache gesprochen, die wir verstehen können. Aber umso besser ich verstand, desto größer wurde mein Misstrauen. Aus dem Dilemma kam ich vorerst nicht mehr heraus, ein Schicksal, das ich mit den Juroren der 50-Best-Liste offenbar nicht geteilt habe.

Ich balancierte in den nächsten Tagen an den Nahtstellen der westlichen und der östlichen Kultur, bewunderte Sehenswürdigkeiten, Schreine und Zen-Gärten, ließ mir von meiner in Tokio lebenden Kollegin ­Melinda Joe die Grundlagen für die Zubereitung von Dashi erklären (welche Katsuobushi mit welchen Kombu-Algen) und bekam ein Proseminar in Sake-Genuss in einer Bar, in die ich mich mein Leben lang nicht verirrt hätte, im neunten Stock eines Bürohauses in Shinjuku. Interessant war, wie Melinda die Umami-Facetten des Sake herausarbeitete, indem sie Sojasaucen dazu verkosten ließ. Ich konnte direkt sehen, wie sich in Konstantins Kopf die Zahnräder in Bewegung setzten.

Die interessanteste Schleuse ins Japanische fand ich aber schließlich im Hoshinoya Hotel vor, wohin ich nach ein paar Tagen übersiedelte. Das Hotel bezeichnet sich als Mischung aus urbaner Absteige und traditionellem Ryokan, das hatte mich interessiert. Als ich das Glas-Stahl-Gebäude in der Nähe der Kaiserlichen Gärten von außen betrachtete, wäre ich allerdings nicht auf die Idee gekommen, hier alte japanische Traditionen anzutreffen, das Haus sah eher nach globaler Finanzwirtschaft aus. Aber als das Taxi im Souterrain der Tiefgarage vorfuhr, wurden wir bereits von Mitarbeiterinnen in Empfang genommen, die Kimono und Pantoffeln trugen und uns zur Begrüßung davon in Kenntnis setzten, dass das Hotel nicht mit Straßenschuhen betreten werden dürfe – eine Regel, die direkt aus den Ryokans alter Schule übernommen wurde. Die Schuhe mussten gegen Pantoffeln getauscht werden, dann begab sich der Gast in den ersten Stock zur ­Rezeption, wo er erst einmal Tee bekam – und in ­Ruhe gelassen wurde. Angeblich überkommt manche Gäste nach einer halben Stunde ein gewisses Gefühl der ­Unruhe, aber keine Angst, dieser Unruhe liegt nur ein kulturelles Missverständnis zugrunde: In Japan ist ­Geduld eine Zier, und das Warten auf den Zimmerschlüssel ist eine erste Lektion in dieser Geduld, die man andernorts braucht, um einem Kirschbaum beim Wachsen zuzusehen.

Als ich schließlich im Zimmer war, musste ich tief durchatmen: So einen schönen, klar und großzügig geschnittenen Raum, so anheimelnde, pure Materialien, Tatami-Boden, Papierwände, Futons, so einen eleganten Reduktionismus hatte ich in einem Hotel noch nie gesehen. Dazu, Spoiler, erlebte ich im Hoshi­noya eine in jeder Hinsicht perfekte Form der Gastfreundschaft, die mir als kulturelle Brücke diente und mich Geduld, Höflichkeit und Freude am Detail lehrte, jedesmal, wenn ich am Eingang meine Schuhe abgab und die Pantoffeln anzog, die mir logischerweise eine Spur zu klein waren. Ich kann dieses Haus jedem Tokio-Reisenden ans Herz legen. Außer natürlich, er möchte Lost in Translation nachspielen.

Ich hatte später sogar die Möglichkeit, im Hausrestaurant, in dem nur Gäste des Hoshinoya verpflegt werden, ein ziemlich fantastisches franko-japanisches Menü zu essen – unvergesslich die Wintermelone, gedämpft in Consomme, mit Ingwer-Sabayon und Krabben in zwei Texturen, da kam ziemlich viel Kultiviertheit auf einen Teller – und eine exzellente Auswahl dazu passender Sakes zu probieren.

Gleichzeitig erlebten wir außerhalb grandiose Merkwürdigkeiten, wie sie für Japan typisch sind. Im Butagami aßen wir Schnitzel, paniertes Schweinefleisch, wobei wir unter verschiedenen Stücken, Schnitten und Fleischrassen wählen konnten – es war ein grandioses Gemetzel, weil wir viel zu viel bestellt hatten und unter den Augen des Chefs, der ­extra aus der Küche kam, um die Meisteresser in ­Augenschein zu nehmen, schmelzendes Fett, knusprige ­Panier und archaische Geschmäcker verglichen. Es war ein Fest. Der einzige Makel bestand darin, dass wir nicht noch eine weitere Runde bestellen konnten, weil wir noch einen Tisch im Gen Yamamoto bestellt hatten, einer Cocktailbar für sechs Menschen, die Cocktails nicht à la carte, sondern als Menü serviert: sechs Stück, Chef’s choice.

Auch dieses Erlebnis war merkwürdig und nicht minder unvergesslich. Vom Gin aus der Normandie mit Yume-Sirup, Zitrone und Soda über Ume-Schnaps mit ausgedrückten Trauben bis zu Kirsch aus dem Elsass mit Gurke, Ume und Shaved Ice von der Bitterorange begaben wir uns auf eine zeremonielle Flugreise in die gehobene Euphorie, die der Barmann mit Humor und einer gewissen Feierlichkeit leitete.

Ein Cocktail-Menü. Man muss ziemlich crazy sein, um sich so etwas auszudenken, und nur wir Japaner sind crazy genug, um diese Reise mitzumachen. Täglich fährt Gen Yamamoto sechs bis acht Schichten für sechs bis acht Gäste.

Ich weiß, ich bin noch diesen Wutausbruch schuldig. Es war gar kein echter, sondern ein gespielter Wutausbruch, und er stammte nicht von Konstantin, sondern von mir. Wir waren weit in den Norden von Tokio gefahren, um bei Tsuta Ramen, einer mit einem Michelin-Stern bedachten Ramen-Bar, zu essen und landeten dort zwangsläufig in einer unendlich langen Schlange von friedlich wartenden Japanern. Wir plauderten ein bisschen, sortieren Erlebtes, und mir fiel Konstantins Unwillen beim Frühstück im Park Hyatt ein, als der Mülleimer nicht dort gestanden war, wo er ihn gebraucht hätte. Das belustigte mich, ich spielte die Szene noch einmal nach und knallte zur plakativen Illustration seiner Verärgerung meine Jacke auf den Boden der Straße, wo wir anstanden.

Es machte laut „klirr“, dann war es ganz ruhig, und ich merkte, dass vielleicht 50 Augenpaare auf mich gerichtet waren. Bekanntlich ist in Japan nichts schlimmer, als in der Öffentlichkeit die Fassung zu verlieren, Stichwort: Gesichtsverlust. Also machte ich blöd lachend klar, dass alles ein Scherz gewesen sei, und die Stimmung entspannte sich langsam wieder.

Das Klirren stammte übrigens von meiner Brille, die ich beim Method Acting zerstört hatte, sodass ich für den Rest der Reise nur mehr unscharf sah, was auf dem Tisch stand.

Die Suppe bei Tsuta war den Aufwand übrigens mehr als wert, und sie war so heiß, dass beim Essen ganz sicher meine Brille beschlagen hätte.

Seirikan
www.theseirinkan.com

Kagurazaka Ishikawa
www.kagurazaka-ishikawa.co.jp

Den
www.jimbochoden.com

Tsuta Ramen
www.tsuta.com

Hoshinoya Hotel
www.hoshinoya.com