Wien ist ein Schnitzel

Die Suche nach dem Pulsschlag der Wiener Küche: immer wieder Schweineschmalz, und langsam von außen nach innen.

Wien ist ein Schnitzel

Text von Christian Seiler Illustration: Markus Roost
Das Telefon läutete spätabends: "Unbekannter Teilnehmer". Trotzdem griff ich mit meinem hoch entwickelten Instinkt für das Schwierige und Falsche zum Hörer und wurde darüber in Kenntnis gesetzt, dass Dimitri in der Stadt war. Dimitri: ein Berg von einem Mann, lebensfroh, theaterverliebt und ein so offensiver Sybarit, dass jedes Treffen mit ihm eine deutlich sichtbare Narbe auf der Lebenslinie meiner rechten Hand zurückgelassen hat.
"Ich sage dir jetzt etwas, caro mio", brüllte Dimitri ins Telefon, "nächste Woche bin ich in der Stadt, und dann will ich mit dir ein Wiener Schnitzel essen, und zwar nicht irgendeines, sondern das beste der Stadt."
Hmm.
Ich hatte von Dimitri bereits mehrere Aufträge erhalten, seine unbändige Genussfreude auf spezifische Weise zu befriedigen. Einmal wollte er wissen, was die viel besungene "Wiener Küche" sei, da konnte ich helfen, indem ich es mir leicht machte.
Wir gingen zu Reinhard Gerer in die nette "Korso"-Außenstelle in der "Bristol"-Bar und baten um entsprechende Speisen samt der dazugehörigen Gebrauchsanweisung. "Wiener Küche, Wiener Küche …", sinnierte Gerer, "… das Einzigartige an der Wiener Küche ist doch, dass es sie gibt." (Nur, dass wir uns richtig verstehen: In Echtzeit dauerte diese Zuspitzung etwa fünfzehn Minuten.) Damit hatte er natürlich recht, denn wer vergleichsweise die Pariser oder die Londoner Küche sucht, strengt sich vergeblich an.
Es folgte eine zwar etwas unscharfe, aber fulminant emphatische Definition, als Gerer sagte: "Die Wiener Küche beginnt in Ligurien und hört in Polen auf. Die ist nicht nur beschränkt auf die Leberknödelsuppe in der Vorstadt, die macht Ausflüge nach Alba, nach Venedig, nach Triest – und dann hörst du mit einem Borschtsch aus Warschau auf."
Dimitri verstand diesen Koch sofort, da er nicht nur das klassische Repertoire beherrscht, sondern auch die kontrollierte Ekstase, das muss jedem Theatermenschen einleuchten. Gerer servierte in der Folge: Gabelbissen; Flusskrebse; Nudeln; Erdäpfel mit Kümmelzander; gefüllte Paprika; Gamssteak; ein bisschen was Süßes. Genaueres konnte man nicht sagen, weil der Küchenchef lieber für uns kochte, als eine Speisekarte zu schreiben.
Nun ein Schnitzel, keine einfache Aufgabe.
Denn ausgerechnet das "Wiener Schnitzel" ist eine Speise, die man in ausgewählten Privathaushalten oft besser isst als in den meisten Restaurants, so dass die übliche Forschungskette umgedreht werden muss: Wo kommt ein Schnitzel so gut aus der Küche wie zu Hause? Und nicht: Wie eignet man sich das notwendige Wissen über das ideale Wiener Schnitzel durch frequentes Lernfressen an.
Im Zentrum der Stadt Wien zum Beispiel, wo nicht nur die Fiakerpferde hübsche Mascherln haben, sondern auch die Speisen in den gehobenen Beiseln, lernt man überhaupt gar nichts. Das Wiener Schnitzel kommt dort platt geklopft wie ein riesiges Löschpapier. Seine Ecken hängen über den Tellerrand, und der Wirt bildet sich ein, "das größte Schnitzel der Stadt" annoncieren zu müssen, damit die Gäste unserer Stadt ernsthaft glauben, wir Wiener essen unsere Schnitzel quadratmeterweise.
Dabei ist doch, wie wir wissen sollten, das Gegenteil wahr: Ein perfektes Schnitzel ist maximal 160 Quadratzentimeter groß, sagen wir zehn mal sechzehn Zentimeter. Es wird quer zur Faser aus der Kalbsschale geschnitten, vorsichtig geklopft, damit die Oberfläche des Fleisches keine Perforierungswunden erleidet, kräftig mit Mehl bepresst, durch verquirltes, gut gesalzenes Ei gezogen und mit Semmelbröseln paniert. Anschließend kommt das gute Stück augenblicklich in eine fast vollständig mit heißem Schweineschmalz gefüllte Pfanne, wo es unter ständiger Beobachtung goldbraun gebacken wird. Die Panade, darauf ist mit Argusaugen zu achten, muss Falten werfen wie das Gesicht eines Shar-Pei-Hundes, und es versteht sich von selbst, dass jeder Küchenmeister, der bis zu diesem Schritt alles richtig gemacht hat, auch darauf achtet, das Fett nach vollendeter Bebackung sorgfältig und vollständig von der Schnitzeloberfläche zu entfernen. Er braucht dafür etwa eine halbe Küchenrolle. Dann ist das Schnitzel, wie es sein soll. Staubtrocken außen, innen heiß und zart und überhaupt von jener Poesie, die das wienerische Wesen so lyrisch besingt.
Zum Thema "Herausbacken" nur so viel: Ich habe
alles versucht, mich vom Dogma "Schweineschmalz" freizuspielen. Ich habe Schnitzel in einer Mischung aus Butter und Olivenöl knusprig gebraten, ich habe Butter allein ausprobiert, was sich schwierig gestaltete, weil der Pfanneninhalt die nötige Temperatur nicht erreichte. Ich testete natürlich auch Butterschmalz in Familienpackungsgröße, was auch ein ansprechendes Ergebnis zeitigte, aber mich – wir sprechen hier bekanntlich über Finessen – eben doch nicht so überzeugte wie das animalische Volumen des Schweineschmalzes, das sich im Übrigen nicht grobschlächtig äußert, sondern zart und samtig. Wobei: Butterschmalz wird als Alternative zum Schweineschmalz anerkannt, während die in den meisten Wirtshäusern vertretene Friteuse über jedes ordentliche Wiener Schnitzel das Todesurteil verhängt, nur dass das klar ist.
Dazu: Erdäpfel-Vogerl-Salat, und zwar die typische wienerische Variante dieses Gerichts, bei dem sich die Stärke der Erdäpfel in der leicht gezuckerten Marinade löst und diese sämig und schmelzend schmiert. Wir könnten darüber streiten, ob in der Marinade etwas Senf erwünscht ist oder nicht (ich plädiere für: ja, in Spurenelementen). Die Rotoren des Vogerlsalats setzen dem Salat schließlich seine knackige Krone auf. Fazit: Wer die Finessen der Wiener Küche schätzen möchte, muss sich diesem Gericht so und nicht anders widmen. Vegetarier nehmen einfach das Schnitzel ohne Schnitzel, dafür mit ein bisschen mehr Erdäpfel-Vogerl-Salat.
Wohin also mit Dimitri? Ich kreiste in meinen Gedanken um den Grundriss der Stadt, die, wenn man genau hinschaut, selbst aussieht wie ein Schnitzel, aber vielleicht neigte ich etwas zur Überinterpretation.
Die Suche musste, zumal das Zentrum schwächelte, an der Peripherie beginnen, zum Beispiel im Gasthaus "Herzog" in Wien-Fünfhaus. Der Eingang dieser Wirtschaft, gelegen an einer wenig eindrucksvollen Nebenhauptstraße in der Wiener Vorstadt, verspricht zwar nichts Aufregendes, das Lokal ist holzgetäfelt, vor der unvermeidlichen Schank, in der die Gläser gewaschen und eine paar schnelle Einsatzflaschen gekühlt werden, sitzen die Gäste von immer, die mit ein paar kleinen Bieren feiern, dass es auch heute wieder Feierabend geworden ist, aber im kleinen Speisesaal nebenan ist es auf reservierte Weise bummvoll: Es hat sich in die Innenstadt herumgesprochen, wie sorgfältig hier mit dem großen Erbe der Wiener Küche umgegangen wird. Man isst Schnitzel. Man lobt den Erdäpfel-Vogerl-Salat. Man lässt sich dazu einen Grünen Veltliner aus dem Weinviertel bringen, stößt mit klingenden Kristallgläsern an, und dem ungeschulten Blick fiele vermutlich gar nicht auf, was für formidable Wellen die Schnitzelpanier wirft, wie frisch und zufrieden der Vogerlsalat auf den Erdäpfeln sitzt und was für Geschichten von Bienen und Landluft und Frische der Wein zu erzählen hat.
Aber so ist das mit der Schnitzelküche. Sie offenbart sich nicht auf den ersten Blick. Sie tut so, als wäre sie einfach, dabei ist gerade das Ergebnis ein Resultat höchst komplizierter Faktoren, s.o. Ein Schnitzel ist ein Schnitzel ist ein Schnitzel: so ein Quatsch.
Nebenbei ist – und darin besteht auch das Problem, sofern es eines ist – das Wiener Schnitzel, so beliebt es auch sein mag, nicht mehr der Angelpunkt der Wiener Küche, es wird auf den Herden der selbstbewussten Köche vielmehr zum freundlich geduldeten Exoten.
Sicher kann man bei "Schnattl" und "Szell" ein Schnitzel bestellen, und es wird köstlich sein und der reinen Lehre folgen; doch wird der Kellner den Kopf schief legen und höflich fragen, ob man – wenn die Lust aufs Gebackene schon manifest werde – nicht lieber den Zander probieren wolle; und der Zander wird weich sein und saftig und nach der imaginären Donau schmecken, aus der er vielleicht gar nicht stammt; er wird zwischen Zunge und Gaumen schmelzen, nicht zerbröseln, denn er wird à point gebraten sein und sich in dem sämigen Geschmack seiner selbst auflösen; und wenn einer, der für seine Wiener Mahlzeit eine griffige Überschrift braucht, wissen will, was er da isst, soll er bei Reinhard Gerer nachfragen. Der bleckt nämlich amüsiert die Vorderzähne und sagt: "Fischstäbchen!"
Wenn ein Wirtshaus also von außen ausschaut, wie ein Wirtshaus auszuschauen hat – sauber polierte Schank, warme Holzvertäfelung, die richtigen Weinflaschen im großen Kühlschrank, die Speisen des Tages mit weißer Kreide an die schwarze Tafel gekritzelt – dann heißt das noch gar nix. Es geht um die Seele des Hauses. Es geht darum, ob der Wirt verstanden hat, was es heißt, Sorgfalt walten zu lassen: beim Einkauf, beim Kochen, beim Servieren. Wir Wiener lieben die Sorgfalt der anderen, und deshalb boomen die Gasthäuser der Stadt, und immer mehr, immer unterschiedlichere Leute wechseln sich an den Theken der guten und besseren Wirten ab und wachsen zu einem gemischten, gebildeten Publikum, um das uns die Chefs anderer europäischer Städte beneiden.
Das ist ein wertvoller Hinweis für alle Zureisenden, Dimitri hat mich einst darauf aufmerksam gemacht: ein leeres Lokal, das gut ist, gibt es in Wien nicht. Das haben selbst die maliziös an ihren Defekten hängenden Wiener gelernt und sich zwei langjährige Selbstverständlichkeiten abgewöhnt: unangemeldet ins Wirtshaus zu platzen und zu glauben, dass sie einen Tisch bekommen; beim Empfang der Rechnung so dreinzuschauen, als hätten sie gerade einen Schlaganfall erlitten.
Denn, und damit sind wir zurück beim Schnitzel: Ganz billig ist der Spaß nicht, wenn der Spaß gut ist. Wie auch? Wenn der Koch ein schönes Stück Fleisch von einem gesunden, gut gehaltenen Kalb kauft, von dem er frisch das jeweilige Stück heruntersäbelt; wenn er nach jedem Schnitzel das Fett in seiner Pfanne wechselt; wenn er ewig und einen Tag lang verschiedene Gemüselieferanten ausprobiert, bis er endlich den besten Erdäpfelbauern ausfindig gemacht hat: Wie soll so ein Schnitzel nichts kosten? Wir müssen 15 bis 22 Euro budgetieren, billiger geht’s nicht, wir sind ja nicht blöd.
Auf meiner Spitzenschnitzeljagd eroberte ich das Zentrum vom Westen her. Ich startete beim "Herzog" in Fünfhaus, machte Station beim wunderschönen "Herkner" in Gersthof, beim etwas fürnehmeren "Eckel" in Döbling, genoss einmal mehr den kompromisslosen "Grünauer" in Neubau (der statt auf Kalbsschnitzel auf die "gebackene Fledermaus" schwört), probierte die Rundum-Authentizität bei der "Eisernen Zeit" am Naschmarkt und landete gut vorbereitet im Roten Salon des "Sacher", wo eine zeitlose Eleganz durch die Räume strömt, die uns aber nicht verwirren darf, so dass wir verwirrt einen schönen Fisch bestellen oder so was. Hier ist das Schnitzel in vollendeter Vornehmheit daheim, und das klingt so doppeldeutig, wie es gemeint ist.
Weil Wien wäre nicht Wien, wenn hier nicht die Kunst des Weißweinbeuschels zelebriert würde, was ein zum Glück unverständlicher Ausdruck für die klein geschnittene Kalbslunge ist, die in Wein weich gedünstet und mit Rahm und diversen Gewürzen zu einem fantastischen Eintopf hochgerüstet wird. Dieses und auch verwandte Gerichte wie Kutteln, Leber oder Nieren haben einen interessanten Weg hinter sich. Sie wanderten von den Küchen der Peripherie, wo es früher billig sein musste und schnell, in die Hände der großen Chefs, denen es gefällt, ihre Sterne-Küchen mit Zitaten des Handfesten zu erden. Wer bei Reinhard Gerer einmal Kuttelkraut gegessen hat oder in Heinz Reitbauers "Steirereck" das Kalbsbeuschel, weiß, wovon ich spreche. Da heben die besten Köche Wiens etwas, das
früher einmal banal war, in den Rang des Außergewöhnlichen und das Publikum dankt es ihnen, indem es dazu große Weine probiert und lächelt und sich keine Sekunde lang darüber alteriert, dass zu wenig Hummer oder Gänseleber auf den Tisch kommt.
Ich bestellte also einen Tisch im "Sacher" und ich freute mich auf Dimitris Gesicht, der innerhalb einer Sekunde die mondäne Kulisse abtasten würde und darin den Kontrast des perfekt Normalen – des auf Anfrage zubereiteten Wiener Schnitzels für Aficionados – als besondere Pointe zu schätzen wissen würde.
Aber Dimitri enttäuschte mich. Er rief spätnachts noch einmal an und redete ausführlich mit meinem nachtaktiven Anrufbeantworter. Er sei gerade in den Markthallen von Narbonne gewesen und habe dort eine ganze Foie gras und eine Kühltasche gekauft, und die eine werde er in der anderen auf direktem Weg nach Wien schaffen, ich solle mich gefälligst darum kümmern, sechs bis acht Weine aus Österreich heranzuschaffen, die mit dieser Gänseleber auf nachhaltige Weise harmonieren könnten, er setze auf mich und verkneife sich die Anschaffung eines Sauternes.
Das Schnitzel ?
Ach ja, das sei doch sowieso eine Sache für zuhause.