Wo Wallander isst

Der Gegensatz zwischen der idyllischen Schönheit der südschwedischen Provinz Schonen und den Abgründen menschlicher Brutalität, die Henning Mankell in seinen Krimis um Kommissar Wallander hier ansiedelt, könnte größer nicht sein. Aber vielleicht ist dieser Widerspruch das Erfolgsgeheimnis. Und auch die örtliche Gastronomie erweist sich als kulinarisch weitaus interessanter, als es Wallanders Essgewohnheiten vermuten lassen.

Wo Wallander isst

Text von Nicole Schmidt Fotos: Heimo Aga 



„Ein großes Mischbier, bitte!“ – das ist der häufigste Satz, den die blonde Kellnerin hinter der blitzblanken Theke des Ystader Brauereirestaurants von den Gästen hört. Sobald sie das Bier an den Tisch bringt, folgt dann der zweithäufigste Satz: „Isst er hier?“ Inzwischen hat sie sich an die Enttäuschung in den Gesichtern der Touristen gewöhnt, wenn sie ihnen sagen muss, dass der schrullige Polizeikommissar Kurt Wallander hier nicht zu essen pflegt. „Die Situation fühlt sich dann meist so an, als würde man einem Kind die Illusion rauben, dass es den Weihnachtsmann gibt“, lacht sie und widmet sich dem Zapfen des nächsten Bieres.

Wunder ist es allerdings keines, wenn Realität und Fiktion verschwimmen. Dank der liebevoll gestalteten Gratisbroschüre des Tourismusamtes („Auf Wallanders Spuren“) trifft man auf Schritt und Tritt auf den grantigen, übergewichtigen Polizisten, den Krimiautor Mankell 1991 in Ystad in der südschwedischen Provinz Skåne (Schonen) ansiedelte.

Was ursprünglich als einzelnes Buch angedacht war, ist inzwischen zu einer Erfolgsserie mit rund 26 Millionen Fans angewachsen. Und in dem stillen Ostseestädtchen mit den kopfsteingepflasterten Gassen und den historischen Fachwerkhäusern gibt es kaum etwas Realeres als Kommissar Kurt mit seinen Vorlieben, Macken und Lieblingsplätzen. Willkommen in Ystads mixed reality.

Wallander isst zwar nicht im Brauereirestaurant (obwohl das Hausbier ausgezeichnet und das Whiskyangebot mehr als ausreichend ist), aber gleich nebenan, im romantisch-verschrobenen Hotel Sekelgården, kann man die nach ihm benannte Suite buchen, in der ein Porträt von Mankell aus einem dicken Goldrahmen wachsam von der Wand blickt. Und hinter der hellen Zuckerbäcker-Fassade des Continental, Schwedens angeblich ältestem Hotel, ist im Speisesaal unter Kristalllustern der „Wallander-Tisch“ zu besichtigen – und natürlich auch zu buchen. Dafür, dass der Kommissar hier meist allein, mit Tochter Linda oder mit einem Kollegen einkehrt, ist der Tisch allerdings etwas groß geraten.

Wallanders Hang zu teurem Maltwhisky und erlesenen Opernaufführungen passt nur wenig zu seinen Essgewohnheiten, die sich meist unter dem Motto „Hauptsache schnell und viel“ zusammenfassen lassen. Warum sich jemand in einer Gegend, die die Schweden „Madariket“, „Reich des Essens“, nennen und in der man nach fantastischen Rohprodukten und innovativen Küchenchefs nicht lange suchen muss, vorwiegend von Pizza, fettigen Blätterteigteilchen und abgestandenem, lauwarmem Kaffee ernährt, bleibt Mankells Geheimnis. Apropos innovativ: Schwedens Organic Restaurant of the Year 2010, das „Salt & Brygga“, steht in Schonens Hauptstadt Malmö. Als der aus Göteborg stammende Slow Food Pionier Björn Stenbeck 1989 versuchte, für die Küche seines damaligen Cafés pestizidfrei gezogenes Gemüse zu kaufen, scheiterte er fast – an der auf dem Markt angebotenen minderen Qualität und der sehr bescheidenen Auswahl. Inzwischen wurde sein 2001 im neuen Westhafen-Viertel eröffnetes Restaurant für seine kreative Küche auf Basis lokaler, ökologisch einwandfreier Produkte von kleinen Produzenten und aus nachhaltiger Fischerei mehrfach ausgezeichnet.

Draußen ziehen kreischende Möwen ihre Kreise über den in der kleinen Marina vertäuten Yachten, drinnen im „Salt & Brygga“ wird die Langsamkeit des wahren Genusses zelebriert. Start mit in roten Rüben und Kren mariniertem norwegischen Lachs mit Aioli aus wildem Knoblauch und gebackenen Kabeljau-Wangen mit Sauce tartare, gefolgt von angelgefangenem Heilbutt mit Muscheln aus Mollösund und Wildschweinsteak mit Kartoffelpüree, Wurzel gemüse und Rosmarinsauce. Wilde Eber seien so zahlreich in Skånes Wäldern, dass „die Leute froh sind, wenn ein paar gegessen werden“, schmunzelt Stenbeck. Nicht, dass es Kommissar Wallander in diesem Ambiente-Mix aus skandinavischem Öko-Lounge-Schick und französischem Brasserie-Charme nicht schmecken würde, aber am Ende landet er doch immer im Bahnhofsrestaurant oder in der Lobby des Savoy-Hotels gegenüber – und versäumt den ausgezeichneten schwedischen Whisky, den Hausherr Stenbeck als Digestif servieren lässt.

An den Tagen vor Mittsommer weicht das strahlende Abendlicht auch weit nach 21 Uhr nicht der Nacht und lockt zu einem Verdauungsspaziergang an den nahen Strand. Hinter dem „Salt & Brygga“ schraubt sich der 190 Meter hohe Turning Torso des spanischen Architekten Santiago Calatrava in den Himmel. Der weiße Wolkenkratzer sieht aus, als hätte ihn ein Riese am Dachfirst gepackt und um gut 90 Grad gedreht: eine Melange aus den Türmen von Babylon und Pisa. Malmös neues Wahrzeichen, zugleich Schwedens höchstes Wohnhaus, hat allerdings ein bedrohliches Loch in die Stadtfinanzen gerissen. Dafür sorgt die knapp acht Kilometer lange Brücke über den Öresund für wirtschaftlichen Aufschwung – die längste Schrägseilbrücke der Welt verbindet das aufstrebende Hightech-Zentrum Malmö mit der dänischen Hauptstadt Kopenhagen. Wenn Kommissar Wallander zum Schauplatz des nächsten Verbrechens durch die schonische Landschaft rast, bleibt ihm naturgemäß keine Zeit für die umwerfende Schönheit der Gegend – bis ans Meer reichende, saftig grüne Wiesen voll Klatschmohn und Glockenblumen, auf denen Kühe, Schafe und Pferde weiden; sanfte Hügel mit golden leuchtenden Rapsfeldern, dichte Märchenwälder und endlose, von sanften Dünen gesäumte Sandstrände wie jener von Skanör an der Südwestspitze des Landes mit den bunten Strandhütten, dem kleinen Hafen und einer einladenden Fischräucherei. Reiner Zufall, dass dieses verschlafene Naturjuwel noch keine mörderische Hauptrolle in einem Wallander-Fall ausgefasst hat.

Rund 20 Kilometer östlich von Ystad gibt es allerdings einen Platz, der selbst den ruhelosen Kommissar zum Innehalten bringt – um ungestört nachzudenken, Kraft zu sammeln oder die verehrte Staatsanwältin mit einem Picknick zu überraschen: Ales Stenar, eine Art junges schwedisches Stonehenge aus der Wikingerzeit. 59 tonnen schwere, auf einer Länge von 68 Metern in Form eines Schiffes angeordnete Granitblöcke thronen hier auf der grünen Wiese am Rand steil zur Ostsee abfallender Klippen. Ein magischer Ort.

Ein steiler Pfad führt von Ales Stenar hinunter ins kleine Fischerdorf Kåseberga und direkt zum rustikalen Picknickplatz der örtlichen Fischräucherei. Die Schätze des Meeres gibt’s gleich nebenan im Fisk-Laden zu kaufen – Hering,gebraten, mit Zwiebel, Senfsauce oder Kräutern, Aal, Dorsch-rogen, grüne Muscheln, Lachs, Heilbutt, Schwertfisch, Thunfisch, Makrelen, Krevetten, dazu Dips und Saucen. Man würde Wochen brauchen, um sich durchzukosten. Selbst wenn zwei Busladungen Touristen gleichzeitig in den Laden strömen, bewahrt das flinke Verkaufspersonal freundlich-herzliche Gelassenheit. Pappteller, Plastikbesteck und Papierservietten werden automatisch mit eingepackt, aus den Kühlvitrinen neben dem Eingang holt man sich Mineralwasser, Limonade oder (Leicht-)Bier. Wein gibt’s nicht in Selbstbedienung – und der freundliche Verkäufer lächelt ein bisschen verkrampft, wenn er wieder mal einem der Landessitte unkundigen Kunden erklären muss, warum er die Viertelliterflaschen ausnahmslos öffnen und die Verschlüsse einbehalten muss: ja, das schwedische Alkoholgesetz …

Fürs echte Kåseberga-Fisch-Picknick fehlt nur noch das Brot – das gibt’s zwar auch im Fischladen zu kaufen, Feinspitze gehen allerdings rund 350 Meter die Dorfstraße entlang, um im Erdgeschoß des Restaurants von Anders und Paula Vendel ofenwarme Brotspezialitäten aus der hauseigenen Bio-Sauerteigbäckerei zu erstehen.

Anders Vendel, unter anderem zweifacher Silbermedaillengewinner der Culinary Olympics 2000 und 2004, stammt aus dem schonischen Universitätsstädtchen Lund und zählt, unterstützt von seinem Chefkoch Alex Sjögren, zu den innovativsten Gastronomen Südschwedens. Mit ein bisschen kulinarischem Dekonstruktivismus, einer Prise Stickstoffnebel-Hokuspokus und vor allem sorgfältiger Auswahl und Zubereitung der Rohstoffe komponiert die Küche des „Vendel Ales Stenar“ ein kulinarisches Gesamtkunstwerk mit hohem Erlebnisfaktor – und grandiosem Meerblick. Es treten auf: grüner Spargelespuma mit Sanddorn und Muschel aus dem nahen Fischerdorf Skillinge; Lobster mit Tomateneis und Artischockenmousse; Tatar vom Angus-Beef mit ge-eisten Gänseleberperlen und Morcheln; Kabeljau auf Algen mit Spargelmilch unter einer wabernden Nebelglocke. Nach einem Wassermelone-Austern-Eis folgt Lamm mit wilder Zwiebel und Erbsenpüree. Die schonischen Jordgubbar (Erd beeren) zum Dessert kommen in diversen Aggregatzuständen auf den Teller und verströmen auch ohne Begleitung – Vanillepudding, karamellisierter Sesam, Zitro-neneisenkraut – ein 5-Sterne-Aroma.

Ein Teil des Restaurants diente übrigens während der Wallander-Dreharbeiten mit Kenneth Branagh als Polizeibüro. Hier stand der Schreibtisch des Kommissars, dem für entschleunigte Essenspausen bekanntlich meist die Zeit – und im Fall von „Vendel Ales Stenar“ wohl auch das Geld – fehlt. In der Mittagspause bringt er es meist gerade mal zu einem – übrigens auch nicht zu verachtenden – schonischen Fischbrötchen in seinem Lieblingscafé „Fridolfs Konditori“. Das in einem schmucklosen Bau untergebrachte Lokal gegenüber dem Ystader Tourismusbüro verströmt herben Fünfziger-Jahre-Charme, kann über Besuchermangel aber nicht klagen. Neben den Einheimischen kommen vor allem Touristen herein, um ein bisschen Wallander-Atmosphäre zu schnuppern, ein Erinnerungsfoto zu schießen und ein Stück vom rehrückenförmigen Creme-Biskuit-Kuchen mit der blitzblauen Marzipanhülle zu kosten. Oft ist der Wallander-Kuchen bereits am späten Vormittag ausverkauft – obwohl nicht einmal die Touristenbroschüre behauptet, dass Mankells Kommissar jemals ein Stück dieser polizeiblauen Kuchenkreation gegessen hat.

Die größten und üppigsten Kuchen sind dem Mittsommerwochenende vorbehalten. Vollgepackt mit Decken, Klappsesseln und gut gefüllten Picknickkörben mit Sandwiches, Salaten, Getränken und riesigen, cremeverzierten Beeren-Torten ziehen die schwedischen Familien hinaus in die Natur, um den Sommerbeginn zu feiern. Städte und Dörfer sind leer, Geschäfte und Restaurants geschlossen. Rund um den bunt geschmückten, unseren Maibäumen ähnlichen Mittsommerbaum werden Kränze aus Blumen und frischem Birkenlaub geflochten, essen, trinken und tanzen Jung und Alt, Opa und Enkerl gemeinsam, um den Sommerbeginn zu feiern; im kleinen Kreis, wie etwa im Garten des 250 Jahre alten Farmhauses am Stadtrand von Tomelilla, oder in Massen auf der großen Wiese rund um den einstigen Feriensitz des 1961 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen UN-Generalsekretärs und Nobelpreisträgers Dag Hammarskjöld. Dass Mörder auch vor dem ausge lassen-fröhlichen Fest zu Ehren des Sommers nicht Halt machen, lässt sich in Mankells Roman „Mittsommermord“ nachlesen, der im dichten Wald des nahen Hagestad Naturreservates spielt. Hier und in der angrenzenden, geschützten Dünenlandschaft entlang des kilometerlangen, feinkörnigen Strandes von Sandhammaren prallen idyllische Naturschönheit und menschliche Brutalität perfekt Mankell-mäßig aufeinander. Wenige Meter vom Ystader Stadtstrand Sandskogen entfernt, kehrt Kurt Wallander gern im Café „Fritidsbaren“ ein – auf klassische faschierte Bällchen („Köttbullar“) mit Kartoffeln und Preiselbeeren oder ein Stück Jausen kuchen. Man bestellt an der Theke im Inneren des putzigen Holzhauses und wird über Lautsprecher gerufen, wenn das Essen abzuholen ist. In der Wallander-Broschüre liest sich das dann so: „Hallo, hallo, Gebäck und Kaffee für Kurt!“.

Realität und Fiktion treiben weiter ihre Spielchen.

Der Mann, der soeben seinen alten Peugeot neben dem hübschen Hafenrestaurant des Fischerdorfes Skillinge einparkt, sieht doch aus wie Rolf Lassgård, der Wallander-Darsteller der ersten Romanverfilmungen. Und auf dem Rückweg nach Ystad, kurz vor dem großen Kreisverkehr, rasen plötzlich drei Polizeiwagen mit Blaulicht vorbei. Filmaufnahmen? Eine Übung? Ein echter Einsatz? Die Ystader beantworten solche Fragen mit einem geduldigen Lächeln. Die Filmstudios ihrer Stadt zählen inzwischen zu den größten Skandinaviens. Niemand beschwert sich, wenn wieder einmal mitten in Ystad ein Auto in die Luft fliegt oder ein paar Straßenzüge stundenlang ohne Strom sind, weil der Regisseur seine nächste Szene in einer komplett dunklen Stadt drehen möchte. Denn: „Jetzt filmen sie wieder.“