Zurück in
die Zukunft

Das Disfrutar in Barcelona ist Fine Dining auf genial verspielte Art. Ein Spaziergang für die Sinne mit Piniennadeln aus der Mikrowelle, lauwarmem Kaviar, leeren Tellern und goldglänzendem Eigelb.

Text von Nina Wessely

Die Art von Küche, die neben dem Magen auch Geist und Fantasie nährt, hat es zu keiner Zeit leicht gehabt. So kehren die Probleme der Spitzengastronomie mit schöner Regelmäßigkeit in leicht abgeänderter Form immer wieder zurück, haben das Muster einer Fieberkurve, die jener von Aktienkursen nicht unähnlich ist. Mal ist es die Mode, dann wieder die Wirtschaft oder auch die ­generelle Lebenseinstellung. So ist es keine Seltenheit, wenn hochgelobte Restaurants am vermeintlichen Höhepunkt ihres kreativen Schaffens auch wieder schließen. Sie werden damit zur Legende, machen zugleich aber auch Platz für Neues. Nicht anders verhielt es sich 2011 bei Ferran Adrià und seinem elBulli. Um jener Mythos bleiben zu können, der durch unzählige Innovationen jahrzehntelang die Branche prägte, war das Ende nur konsequent. Um sich weiterzuentwickeln beziehungsweise die Gastronomie weiter voranzubringen – laut Ferran durch sein Opus magnum die Bullipedia – musste das elBulli als Restaurant sterben.

„Wenn man uns heute als die Burschen aus dem elBulli bezeichnet,
ist es immer noch eine Assoziation, die stimmt.“

Eduard Xatruch

Zu der Zeit leiteten drei Katalanen die kulinarischen Belange in der besten Küche der Welt: Es waren dies Oriol Castro, Eduard Xatruch und Mateu Casañas. „Unser Disfrutar haben wir vor neun Jahren eröffnet, das elBulli hat vor zwölf Jahren geschlossen“, sagt Eduard Xatruch. „Wenn man uns heute als die Burschen aus dem elBulli bezeichnet“, lächelt der Katalane, „ist es, auch wenn es lange her ist, immer noch eine Assoziation, die stimmt.“ Schließlich haben sich die heutigen Betreiber des Disfrutar und des Compartir im elBulli getroffen und mehr als eine Dekade Seite an Seite gearbeitet. Die drei sind also so etwas wie die Kinder der letzten großen Küchenrevolution. „Wir haben dort gelernt. Es ist, wie wenn man 15 Jahre lang die gleiche Schule besucht. Natürlich prägt einen das“, so Xatruch. Dennoch seien sie nicht mehr die Gleichen wie damals. Auch das Disfrutar sei nicht mehr dasselbe wie zu seiner Eröffnung. „Wir alle entwickeln uns weiter. Wir wollen von uns das Beste, das Kreativste geben, und auch das ist mit dem Zeitgeist und unserer persönlichen Veränderung verbunden.“

Nachdem die drei ihre 2011 frei gewordene kreative Energie also vorerst in Ferran Adriàs gastronomische Konzepte steckten, eröffneten sie 2012 das Compartir in Cadaqués, einem kleinen Küstenstädtchen, vor Barcelona gelegen. 2014 sollte das Disfrutar folgen, im Sommer 2022 das Compartir in Barcelona, ein paar Straßen weiter im gleichen Stadtviertel, im Eixample. Xatruch: „Alle Restaurants tragen unsere DNA, wobei Compartir kein kleiner Ableger von Disfrutar ist. Compartir ist unkomplizierte, mediterrane Familienküche. Die macht uns genauso aus wie das, was wir im Disfrutar servieren. Hier loten wir unsere kreativen Grenzen aus.

Gerichte wie Panchino, eine Art frittierte Brioche, gefüllt mit lauwarmem Kaviar und Sauerrahm, sowie Rote Beete, die aus schwarzem Sesam auftaucht, oder die vermeintlichen Chilis aus dunkler Schokolade mit Olivenöl und Salz sind seit 2014 im inzwischen mit zwei Sternen des Guide Michelin ausgezeichneten Restaurant Disfrutar zu nachgefragten Klassikern avanciert. Mit dem aus dem elBulli bekannten Fokus auf Technik kamen im aktuellen Menü kreative Spaziergänge wie die „Auswahl an Snacks aus der Mikrowelle“, oder „Feste Butterbläschen, mit Kaviar gefüllt“ dazu. Was von Beginn an da war und auch heute noch ist: Der Spaß kommt bei all den ausgefallenen Ideen niemals zu kurz. Gäste werden an Gerichte wie Blatt aus Pilzen und Tempura aus jungen Pinientriebspitzen sowie Knuspriger Dotter mit warmem Pilzgelee herangeführt. Wie ähnlich unser aller Gedanken manchmal sind, zeigen die drei Köche mit dem laut eigener Definition unheimlichsten aller Gerichte – dem leeren weißen Teller, ähnlich dem weißen leeren Blatt also. Wer die „Angst“ – übrigens der Titel des Gerichts – überwindet und mit der Hand in die fein geschnitzte Holzschatulle durch den aufsteigenden Rauch des Trockeneises hindurch und an den glitschigen Algen vorbeigleitet, wird mit einer von einer rauchigen Flamme geküssten Garnele belohnt. Mit dem Ernten von Zuckerwatte in Baumwolloptik aus einem einen Meter langen Petits-Fours-Wald gehen Kindheitsträume in Erfüllung. Sich ein Mal durch einen Meter süßes Schlemmen, das man aber zuerst in seiner schlauen Tarnung entdecken muss, das macht sehr viel Spaß.

Dabei sei die Evolution im Disfrutar, und auch die, die von dort nach außen schwingt, von ihnen, aber auch von ihren Gästen getrieben. „Wir sind jeden Tag da“, so Xatruch. Durch das Gespräch mit den Gästen ergäben sich auch Adaptionen. Gäste, die das Disfrutar von Tag eins an miterlebt hätten, wüssten: Heute sitzen darin weniger Gäste, die Weinkarte ist umfangreicher und weiße, akkurat gebügelte Tischtücher bedecken die Holztische. Ein Zugeständnis an die Gäste oder dem roten Guide zuliebe? Schlicht eine Richtung, die das Disfrutar in seinem neunten Jahr angezeigt habe. Und die ankommt. Nicht zuletzt reüssiert das Disfrutar heute auf Platz drei der The World’s 50 Best Restaurants-Liste, nach dem höchsten Neueinstieg, den die drei im Jahr 2018 mit Platz 18 hinlegten. Bei all der Bewunderung, die den dreien auf internationaler Ebene aus Gastro- und Gästereihen entgegengebracht wird – zuletzt für ihr lanciertes Kochbuch, das bald auch in deutscher Sprache erscheint –, möchten die drei mit ihren Projekten nur als Menschen und Team gesehen werden, die in ihrer Kreativität und Fachkompetenz, aber vor allem auch persönlich ihr Bestes geben.
So gibt es das Disfrutar im Idealfall in hundert Jahren immer noch. Im besten Szenario als Restaurant, auch wenn wir dann schon alle tot sind, lacht Xatruch. Das Disfrutar lebt im Jetzt, lotet Grenzen nach heutiger Technik mit heutigen Produkten aus. „Wenn es in hundert Jahren noch Menschen gibt, die im Disfrutar das Höchste ihrer Kreativität geben, würde mich das freuen.“ Und wenn nicht, so soll es zumindest als Ort in Erinnerung bleiben, an dem Küche, Service und Sommelerie ihr Höchstes an Gastlichkeit, Technik und Fantasie gegeben haben. Auf weißen Tischdecken, unter Gipsplatten, die an der Decke des Lokals blauen Himmel vorgaukeln, und zwischen bunter Keramik, die die Küche im Zentrum des Lokals zwischen Bar, Gastraum und Terrasse einrahmt.

Menschen entwickeln sich weiter, das gilt auch für Branchen und Restaurants. „Ein Bild, das vor 40 Jahren schön war, ist auch heute noch schön“, meint Xatruch. Aber wird das von allen so gesehen? Die Kunst ist Trends unterworfen, ebenso wie es die gehobene Küche ist. Das Bild sieht zumindest in 40 Jahren noch gleich aus wie an dem Tag, an dem es fertiggestellt worden ist. Ob es dann noch dem Trend entspricht, ist eine andere Frage. Insofern ein Nachteil, den es gegenüber dem ess­baren Ausdruck von Kreativität in Fine-Dining-­Restaurants hat. Es kann sich nicht verändern. In Zeiten, in denen Materielles out ist, sind einige Hundert Euro für eine zeitgenössische Kunst­erfahrung also vielleicht doch nicht unermesslich viel; und die Spitzengastronomie, die allein aufgrund des Personalaufwands hochpreisig sein muss und es immer war, demnach doch nicht dem Tod geweiht, sondern vielmehr dem Leben und all seinen schönen Seiten. Der Ansatz der Disfrutar-Männer ist insofern neu, als dass weder ein Ferran Adrià noch ein René Redzepi die Revolution bei aller Technik und Kreativität mit einer derartigen Leichtigkeit vorangetrieben hat, wie es die drei in Barcelona tun. Die Gerichte laden immer wieder zum Schmunzeln ein. Eine Art von Brot und Spiele, bei der tatsächlich für jeden etwas dabei ist. Sternesammler, verkopfte Esser und Erfahrungssucher – sie alle halten beide Daumen nach oben bei dieser spaßigen und dennoch hohen Kunst des modernen Fine Dining. —

Adressen
Disfrutar
C. de Villarroel, 163
08036 Barcelona
disfrutarbarcelona.com

Compartir
Calle Valencia 225
08007 Barcelona
compartirbarcelona.com

Disfrutar-Chefs Oriol Castro, Eduard Xatruch und Mateu Casañas

Die Einrichtung im Disfrutar, was aus dem Spanischen übersetzt so viel wie „genießen“ heißt,
ist hell wie leger und punktet mit Details aus der ­katalanischen Kultur wieder in Keramik eingeklei­deten Schauküche.

Aus dem katalanischen Klassiker „Empedrat“ wird eine Interpretation
aus Mandeln, die weiße Bohnen mimen, und Seehecht.

„Ein Bild, das vor
40 Jahren schön
war, ist auch heute
noch schön.“

Eduard Xatruch