Zurück zu den Wurzeln
Über die Küche des 21. Jahrhunderts, betrachtet aus den Bergen Savoyens
Zurück zu den Wurzeln
Text von Alexander Rabl Fotos: Laif, beigestellt
Auf einmal bekommen die kleinen Papillen am Gaumen Beinchen. Tausende winzige Beinchen sind ihnen gewachsen. Sie ziehen sich Socken und Wanderschuhe an und marschieren über den feuchten Waldboden ins savoyardische Gebirge. Übers Moos, die Kräuter, die Wurzeln, taufrisch, da ziehen sie hinauf.
Zurück, depperte Papillen! Was fällt euch ein? Hier geblieben!
Welchen Trip hat uns der Mann mit dem Filzhut jetzt wieder verschafft? Der erste Löffel vom in einer Flöte servierten Süppchen war’s. Drei Schichten, ganz oben die Waldkräuter mit dem herben Aroma des Tannenwaldes, durch die man sich bis zur angenehm schockierenden Säure der Passionsfrucht durchkostete. Der Neurologe wird das nicht weiter bemerkenswert finden. Ein intensiver Duft nach Waldboden und Wurzeln, nach Tannenbäumen macht dem Hirn vor, sein Besitzer wäre gerade mitten auf der Wanderung durch den morgendlichen Wald. Elektrische Impulse, Neuronenverbindungen und andere Dinge verschaffen uns die Illusion eines morgendlichen Waldlaufes, sagt der Neurologe. Uns ist das egal. An unserem Tisch sitzen keine Hirnspezialisten, nur Esser. Hey, kommt zurück, Papillen! Kommen wir zurück.
Wir sind erst bei Expedition Nummer drei von rund einem Dutzend und wollen jetzt nicht den Almboden unter den Füßen verlieren. Wir leeren die Eprouvette mit dem kühlen Grün aus Melisse und sind wieder da, in Marc Veyrats nach frisch geschlägertem Holz duftenden Restaurant mit Blick auf den wunderschönen Lac d’Annecy, das ein bisschen an die Spas von teuren Alpenwellnesshotels erinnert. Der Küchenchef mit dem weißen Hemd und dem schwarzen Filzhut ist der ganze Stolz des Landes, in dem Gott am liebsten einkehrt, obwohl die guten Adressen zwischen London und Adelheid immer zahlreicher werden. Wie undankbar die Feinschmecker sind. Küren einen Katalanen zum Chef der Chefs, zum weltbesten Koch. Fahren ins Baskenland oder nach Tokio statt nach Paris. Um den Schmerz über den Verlust der Poleposition am Herd zu betäuben, haben die Franzosen sich eine kräftige Spritze Selbstbewusstsein injiziert, indem sie einen der ihren zum Allergrößten überhaupt erkoren, ohne die ignoranten Ausländer zu fragen, was sie davon halten.
Der Retter der französischen Ehre kocht nicht in Paris und auch nicht an der Côte d’Azur. Sondern in Savoyen, unweit der Grenze zur Schweiz. Die Kollegen vom Pariser Gault Millau verleihen den beiden Marc-Veyrat-Betrieben in Veyrier du Lac und in Megève jeweils die Traumnote 20 von 20 Punkten. Das heißt nichts anderes, als dass Gault Millau zur Zeit Mark Veyrats "Küche des 21. Jahrhunderts" (Zitat Gault Millau, von Veyrat dankbar zum eigenen Motto gemacht) als konkurrenzlos ansieht. Drei Sterne im Michelin sind seit eineinhalb Jahrzehnten obligat. Sie ziehen nicht nur Gäste aus aller Welt an, sondern auch Neider und Spötter. Sie lachen über die Eprouvettenküche, wie sie sie nennen. Sie sagen, dass Tannenzapfen oder Baumrinden auf den Tellern und in den Suppen eines Feinschmeckerrestaurant nichts verloren hätten.
Sie maulen auch über die Preise. 390,– Euro macht das Menü, ohne Wein. Der Hauschampagner erscheint mit 30,– Euro dagegen fast als Okkasion. Die Gäste nehmen ihn im Sommer auf der Terrasse mit Blick auf den blau glänzenden See – das "Maison de Marc Veyrat" sperrt erst im Mai wieder auf, in Winter zieht die Mannschaft in die "Ferme de mon père" in Megève.
Und dann folgt die Küche genau dem Klischee von Marc Veyrat, das Marc Veyrat begründet hat, und lässt es erstmal dezent knallen. Aus einem Fläschchen, das im Coca-Cola-Look den Schriftzug Soda Vera trägt, gießt der Ober Flüssigkeit in ein Glas, und es macht Blitz und Donner, nein, nicht ganz, aber da raucht und zischt es, als Flüssigkeit auf Flüssigkeit trifft, und dabei entsteht ein perlendes Grün im Glas, das wir unseren besten Feinden nicht gönnen würden. Doch nach dem ersten Schluck ist noch keiner tot umgefallen. Das grüne Ding aus einer anderen Welt schmeckt. In einem Teesäckchen, das in dem Glas steckt, wühlen wir neugierig, und entdecken Thymian und Limettenscheiben, doch das erklärt die erfrischende Bitternis des köstlichen Gesöffs nur teilweise.
Ein mit süßem Mais gefülltes Törtchen mit Gemüse und Gänseleber ist so comme ci, comme ça. Das klein gehackte Gemüse mit Erdnussbuttersauce ist okay. Dafür kriegt das zu einem Päckchen gerollte Carpaccio, in dem eine mit grüner Flüssigkeit gefüllte Plastikspritze steckt, die Haltungsnote eins plus. Kompliment an das Rindviech aus den Savoyen. Und an uns. Wir lernen langsam essen. Mit zartem Fingerdruck befördern wir das pestogrüne Flüssige ins Innere des Rindfleischpäckchens. Gut zu wissen: Messer und Gabel zu benützen ist nämlich nur ein Teil der Fertigkeiten, die man braucht, um die Küche des 21. Jahrhunderts richtig zu würdigen. Einen Joghurtlöffel sollte man schon halten können. Man löffelt damit das Yaourt de Foie gras, also die Synthese aus zwei Welten, wenn wir annehmen dürfen, dass Joghurtlöffler eine Aversion gegen das fette Teil von der Mastgans haben und die Gänseleberfraktion dafür gar nicht weiß, wie man einen Joghurtbecher aufmacht. So perfid die Idee hinter diesem scherzhaften Auftakt ist, so ernsthaft mit akkuratester Präzision zubereitet ist das Stück Foie gras, das in einer säuerlich-bitteren Sauce (Grapefruit?) die Hauptrolle dieses Entrees spielt. Kann man Gänseleber besser braten? Wahrscheinlich nicht. Herr Veyrat will seinen Gästen damit sagen: "Ich bin zwar immer zu kleinen Narreteien am Teller aufgelegt, aber wenn einer von euch glaubt, dass ich und meine Jungs deshalb das Handwerk nicht im kleinsten Finger haben, dann irrt ihr euch!"
Wenden wir uns danach jetzt dem "virtuellen Spiegelei" zu. Hier haben Eiweiß und Dotter auf auffallende Weise die Posten getauscht. Während das Eigelb jetzt ohne Fett, dafür mit Kümmelgewürzen aus den benachbarten Wäldern gegart wurde, bis es eine labbrig-feste Konsistenz angenommen hat, thront das Eiklar als Schneenockerl mit Kokos und Kräuteraromen in der Mitte des Ganzen. Die unerwartete Süße dieses Ganges lässt uns fragend die Augenbrauen heben. Aber nicht sehr lange. Ist sie ja vielleicht die perfekte Überleitung von der Reichhaltigkeit der Gänseleber zu den kräuterwürzig-pikanten Gemüsehappen, die nun folgen werden. Wir sind jetzt am Ausgangspunkt des Ausflugs in den Tannenwald angelangt.
Den Geschmackspapillen tun von ihrem Marsch über die Wurzeln die kleinen Beinchen weh. Sie sind so viel Ertüchtigung nicht gewöhnt. Ein Bad würde jetzt guttun. In kaltem Apfelgelee, das den morbid-herben Duft des verwitterten Apfelbaumblattes, in dem es serviert wird, ganz dezent absorbiert hat. Es erscheint in Gesellschaft von Ravioli, bei denen dünn geschnittenes Gemüse den Teig ersetzt. Diese Ravioli velouté haben den Ruf Herrn Veyrats als Querdenker mitbegründet und schmecken außergewöhnlich gut. Einmal handelt es sich zum Beispiel um dünne Blätter aus einer
Karotte, in die eine buttrige Creme mit Thymian platziert wurden. Wir fragen uns, wo auf der Welt es bitte diese baumstammdicken Riesenkarotten gibt, aus denen diese Blätter gesägt wurden.
Fragen wir nicht zu viel. Kosten wir lieber von den in Gurkenscheiben eingewickelten Krabben mit Pistazien und verneigen wir uns vor der Selleriescheibe. Auf ihr schwebt das herrlichste Périgordtrüffelpüree aller Zeiten. Haben wir schon erwähnt, dass Herr Veyrat sich dem Thema Gemüse besonders zugetan fühlt? Er ist nicht der einzige unter seinen Landsleuten, aber deshalb muss man ihn nicht weniger lieben dafür. Auch die Damen und Herren im Service, die sich rührend um uns kümmern. Sie gleichen liebenswürdigen Apothekerinnen und Krankenschwestern, die mit Spritzen und Eprouvetten wedeln und die verwirrten Patienten beruhigen, wenn diese nicht wissen, ob sie das Stück Erde mit Klee, das auf dem Teller liegt, nur bestaunen oder auch kauen sollen. Die nächste Spritze gilt nicht uns, sondern den zwei Wachteleiern, die der Osterhase neben den Klee gelegt hat. (Der Bursche ist der einzige, der sich hier nicht an die Saisonen hält.) Die freundliche Serviceschwester jagt sie den beiden Eiern in die Hintern und empfiehlt uns, das Medikament im Ganzen einzuführen. Im Mund explodiert es als essigsaure, dotterweiche, lauwarme Mischung mit dem Aroma eines giftgrünen Kräuterauszugs und der Lakritze. Kann sein, dass viele Gäste zu diesem Zeitpunkt ihren Tischnachbarn beichten, dergleichen noch nie gegessen zu haben. Und diese Beichte kommt gerade zur rechten Zeit.
Der Bergpfarrer hat in der Liturgie der Speisenfolge nämlich jetzt die "Hostie virtuelle du XXIème siècle" vorgesehen. Und es ist diese ein hostiengroßes Rund vom cremigen Käse, der gleich mit kochend heißem Jus aus Geflügel, der mit frischer Milch gestreckt wurde, übergossen werden wird und gemeinsam mit dem Safransorbet etwas ergeben wird, das wir gleich essen werden. Vorher aber rät man uns, mit einem geräucherten Tannenzweig die Käse-Milch-Geflügelfond-Melange einige Male umzurühren. Den Tannenzweig müssen wir danach nicht aufessen. Die Suppe oder besser Creme mit dem Geschmack nach Almsennerei, nach Heu und dem 5-Uhr-Aufstehen zum Kühemelken, löffeln wir mit Andacht. Der Küchenchef mit dem schwarzen Filzhut, der Nationalkopfbedeckung der Savoyarden, schiebt einen Wagen durchs Lokal, auf dem eine Kiste steht, aus der es interessant dampft. Er bleibt vor jedem der Tische stehen und taucht einen Schöpfer mit einer Creme in die Holzkiste.
Manche Idee ist dann so, dass sie den Gast zu
einem kleinen Kind werden lässt, das den Spinat verweigert. Den Spaghetti magique ohne Ei und ohne Mehl haftet außer Parmesansauce (per Pinselstrich zu affichieren) das Bemühen um Originalität an. Man kennt das mit den Spaghetti schon aus Spanien. Wir diskutieren aber nicht mit dem Chef. Wir bestreichen die grünen Spaghetti artig mit dem kleinen Pinselchen, wie man es uns in der Volksschule gezeigt hat, und mischen sie unter den Coulis aus Paprikaschote, der an pürierte gefüllte Paprika erinnert.
Hat da einer am Nebentisch gerufen: Wir wollen Fleisch! Das ist hier kein Veganertreffen! Vorher gibt es Fisch, Fisch aus dem See. Der Saibling trägt in Frankreich den Namen Omble Chevalier, was seinem Auftritt einfach etwas besonders Würdevolles verleiht. Er taucht mit Zitronenkräutern unter einer Fichtenrinde aus einer buttrigen Sauce auf, die irgendwie das Räucheraroma des Holzes abbekommen hat, und die Papillen sind, nachdem sie mit so viel Gemüse aufgepäppelt worden sind, ganz außer sich vor Freude über dieses Bad in den Aromen eines alpinen Sees. Sie hüpfen auch gerne in den Clos de la Contée de Serraut 2003, der mit seinem muskelbepackten Körper der Foie gras ebenso problemlos Paroli bietet wie der Milchsuppe und dem Räuchertannenzapfen. Aber wegen des Weines, vornehmlich des unauffälligen roten Burgunders, dessen Namen wir uns nicht merken wollten, und wegen der zu hastig geöffneten Flasche Bordeaux sind wir jetzt aber wirklich nicht hier. Natürlich ist der Keller superb bestückt. Man will sich ja da keine Blöße
geben. Der Sommelier macht seinen Job gut, aber niemals so, dass man auf die Idee käme, dass er sich mit seinen Kollegen in Weiß matchen wollte. Man möchte an dieser Stelle, schon leicht beschwingt von den ständigen Geschmacksvergleichen zwischen Wein und Speise, sich ein kleines Spiel mit den Worten erlauben, indem man festhält, dass es nämlich alles andere als Wald-und-Wiesen-Rezepte sind, die hier zubereitet werden, auch wenn beim nächsten Gang wieder der Wald und seine Wurzeln eine Rolle spielen.
Wieder heißt es zurück zu den Wurzeln, wieder kommt der jüngste Fang aus dem See zur Ehre. Diesmal wird der zarte Fisch mit einer nach Champignons schmeckenden Sauce, die aus einer Wurzel gewonnen wird, übergossen. Die Wurzel wird als Beweis auf dem Teller mitgeliefert. Die Teller werden jetzt in merkbar höherem Tempo an- und abserviert, sodass auch wir unseren Bericht etwas straffer fortsetzen möchten. Eine Dreißigergruppe von reichen, nein, nicht Russen, sondern Franzosen im Nebenraum, ist nämlich schon beim Dessert. Nachdem der Gastgeber, ein unscheinbarer Mann mit Glatze und dem Pullover über den Schultern, am Jahrgangschampagner aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts zum Preis eines vierstelligen Eurobetrages gerade einmal genippt hat, wie Marc Veyrat doch nicht ganz unbeeindruckt erzählt, während er unsere Pamplemousse-Beignets im Stickstoff gart, dass wir bereits mit den Zähnen klappern. Zur eiskalten Grapefruit gibt es ein Glas Gnocchi aus Tonkabohnen in lauwarmer Hummersauce und es schmeckt wieder einmal sehr gut. Vorher war es eine Crème brûlée mit einem Kraut, das dem Ganzen einen stark mandelähnlichen Geschmack verlieh, dazu eine Konfitüre aus Flusskrebsen. Es sei dies hier nur erwähnt, nicht deshalb, weil sich der Leser vielleicht fragt, wo in dem beschriebenen Menü das Produkt Flusskrebs behandelt wurde, sondern um diesem Bericht das Enzyklopädieartige zu verleihen, das wir dem Thema Veyrat eindeutig schulden. Die beiden Stücke vom bretonischen Hummer in Vin Jaune sind mit Bonbons aus Kräutern belegt, die wieder zu einer kleinen Befremdlichkeit am Gaumen führen, aber das sind wir und er, der Gaumen, jetzt schon gewohnt, dass man es schon fast vermissen würde.
Der nächste Gang trägt den Titel Dinette, was so viel heißt wie Puppenmahlzeit, und das ist auch kein Wunder bei den Kaviarpreisen heutzutage. Er verlangt um ein Zigtausendfaches mehr an Wareneinsatz als der Schaum aus Huflattich, der ihn bedeckt. Sagten wir schon "Wir wären jetzt bereit für ein Stück Fleisch"? Der gute Monsieur Veyrat findet das auch und lässt, während wir gerade in einem göttlichen, mit viel Butter angerührten La-Ratte-Püree mit Périgordtrüffel und Kakao versinken, Taube im Lehm gegart, Lammkarree und gebratenes Kalbsbries auftragen. Wobei das Bries in einer sanften Kruste aus Périgordtrüffel und in Begleitung einer aus Limonen und Olivenöl bereiteten Sauce serviert wird, die Taube natürlich perfekt ist, das Lamm ganz in Ordnung, und alles von einem Minirexglas mit Bonsaigemüsen in einer leichten Creme begleitet wird.
Wir setzen uns über die detaillierte Beschreibung des Käseangebots (in Kürze: sehr viel Würze) und die vier oder fünf aufeinanderfolgenden Dessertgänge hinweg. Sie schienen uns im Vergleich zum Vorhergegangenen weniger bedeutsam. Die Tochter von Monsieur Veyrat, die diese Ausführungen höchstwahrscheinlich nicht lesen wird, möge uns verzeihen. Und doch: Ihre Cremen, ihre Schokoladentarte und die Idee, die kleinen Friandises nicht mit Süßem, sondern mit erfrischend Säuerlichem aller Intensitätsstufen zu füllen, verdienen Anerkennung. Und etwas vom trägen Applaus. So retten wir uns in den Abend.