Berglauf der neuen Generation

Zwischen den Bergen und Tälern Osttirols braucht es Idealismus und Leidenschaft, um der Durchschnittlichkeit Qualität entgegenzusetzen. Eine Handvoll Wirte und Landwirte besitzen beides.

Text von Alexander Rabl/Fotos von Michael Reidinger

Sonntagvormittag, Blick in die Rauterstube in Matrei in Osttirol. Ein Bild wie aus der Zeit der Erfindung der Fotografie. Sieben ehrwürdig ergraute Männer in der dunklen, in Grau und Braun changierenden Tracht (in der Bildbearbeitung sagte man: Sepiatöne), die Hüte mit den selbstbewusst gereckten Gamsbärten an den Kleiderhaken oder den akkurat frisierten Köpfen. Auf dem Tisch Bier und Almdudler. Die wohlhabenden Bauern der Umgebung besprechen Tacheles und Tratsch, es ist das gleiche Bild wie nach jedem Kirchgang an einem katholischen Feiertag. Im Hintergrund der Stube das prächtige Kreuz des Herrgottswinkels. „Hier sind die alten Bauern unter sich und haben das Sagen. Wenn sie mittags nach Hause kommen, geben die Frauen den Ton an“, sagt Hermann Obwexer, dem die Tracht zu allen Lebenszeiten wesensfremd war, und lacht dabei. Auch Obwexer, Seniorwirt, und seine Frau Ilse haben beim Rauter nicht mehr das Sagen und machen darob einen ­beeindruckend entspannten Eindruck. Die junge Generation, Michael und Andrea, hat vor zehn Jahren Hotel und Verantwortung übernommen. Von den alten Zeiten, als der Rauter in Matrei zur kulinarischen Avantgarde zählte, als dort täglich Hunderte Zigarren geraucht wurden und Fans aus Österreich und der Schweiz zu den Wein-Dinners anreisten, müssen die Jungen einstweilen träumen; wie die alten Bauern am Stammtisch davon, als sie noch junge Männer waren. Neues Reiseverhalten in der Pandemie und Personalknappheit stellen auch Osttiroler Leitbetriebe vor ungekannte Herausforderungen. Im vergangenen Sommer verbrachte Michael Obwexer, der eigentlich den Service im Restaurant leitet, mehr Zeit in der Küche als je zuvor.

Der Fliegenfischer Michael Obwexer hatte schon lange die Leine ausgeworfen und wusste, es würde ein kapitaler Fang werden. Max van Triel, gebürtiger Matreier mit deutscher Mutter, war sechs Jahre Teil des Küchenteams der Schwarzwaldstube. Doch statt zu weiteren Spitzenrestaurants zog es ihn zurück in die Osttiroler Heimat, nach Matrei. Dort gibt es jetzt kulinarisches Handwerk auf ungekanntem Niveau. Natürlich beherrscht Van Triel perfekte Garpunkte im Schlaf, kein Zweifel, dass Taube, Loup de Mer oder Hummer hier jetzt so serviert werden, als wäre es deutsch-französische Hochgastronomie. Die Saucen sind erstklassig gearbeitet, mal tiefgründig, mal mit etwas Safran, besonders gelungen die aus den Karkassen des Hummers, die man löffel- und tassenweise schlürfen möchte, weil sie so gut schmeckt. Schnecken, die aus Nordtirol nach Matrei transportiert werden, verleiht Kressesauce willkommene Würze. Was für die Küche des 30-Jährigen einnimmt, ist die Liebe zum Kochhandwerk, wenn sie sich in einem wie ein Blatt Papier durchsichtigen und knusprigen Kartoffelfleuron zeigt, den er zur gebratenen Taube serviert. Auch das Wiener Schnitzel in der Rauterstube ist übrigens erstklassig. Und weil weiter oben vom Fischen die Rede war: Im Oktober gibt es wild gefangene Forellen und anderes aus der oberen Isel, wo Obwexers ihre Fischgründe haben. Dazu werden dann die besten Weine aus dem traditionellerweise immer gut sortierten frankophilen Keller eingeschenkt. Dorflage, Erste Lage oder Große Lage lautet die Frage, auf die man hier leicht eine Antwort findet, die da lautet: Es muss nicht immer das Teuerste sein. In der kleinen Parkgarage des Hotels finden sich zu dieser Zeit viele Schweizer Kennzeichen.

Nur ein paar Schritte vom Ortszentrum Matreis entfernt befindet sich eine der skurrilsten gastronomischen Erscheinungen der Alpen, das Saluti, ein Tennisstüberl, wo Ernst Moser kocht und das sich als preisgünstige Pizzeria und Familienrestaurant tarnt, hinter dem aber ein ausgewachsenes, fein abgestimmtes Feinschmeckerangebot steht. Immer wieder passieren Menschen im Tennisdress mit Wilson-Taschen die Terrasse und das kleine Lokal. Ernst Moser bewältigt auch den allergrößten Ansturm an Gästen alleine, über Personalmangel im inneren Osttirol kann er nur lachen, er hat sich die Suche längst abgewöhnt. Schon die als Amuse-Bouches gereichten drei Minihappen sind eine starke Ansage. Die entfernt an Fonduta erinnernde Suppe vom Osttiroler Graukäse ist sanft, mit angenehmer Säure und wuchtigem Aroma dieses Käses, den es nur in Osttirol und im Kärtner Lesachtal gibt; das Beuschel mustergültig, von der wie ein Münzestück großen Pizza hätte man gerne ein halbes Dutzend. Aus Forellen von einer Zucht im Defereggental bereitet Moser eine Ceviche zu, eigentlich eine Free-Jazz-Version einer Ceviche, in der weniger die Säure, dafür aber Paprika und andere Gewürze den Ton angeben. Moser, der nebenbei an der Berufsschule unterrichtet oder Food-Festivals in der Hauptstadt Lienz organisiert, verfügt – wenig verwunderlich – über die besten Verbindungen zu Jägern und Pilzsammlern. Kleine Steinpilze aus den Wäldern der Umgebung kommen mit Polenta und Sommertrüffel zu Tisch. Vom Osttiroler Reh gibt es den Rücken, der von verschiedenen Rüben und Kürbis begleitet wird, ein farbenfroher Teller – und keine Frage, dass die dazu gereichten Eierschwammerl vorbildlich winzig sind. Bemerkenswert ist außerdem, was Moser seinen Gästen zu trinken anbietet. Der Gast hat da die Wahl zwischen japanischem Sake oder Chardonnay vom Weingut Juris, zwischen Orange und Rot von namhaften Produzenten. Am besten, man meldet sich bei Ernst Moser ein paar Tage vor dem Besuch und bittet ihn, ein spezielles Menü vorzubereiten.

Schon in der ersten A  la  Carte-Osttirolgeschichte, die der Autor schreiben durfte, ging es von Matrei bergauf, eine enge Bergstraße, die zum Gasthof Strumerhof führt. Das Haus steht immer noch, die Aussicht ist immer noch spektakulär. Beim Look gibt sich das Essen eher bescheiden, Unkrautsuppe oder etwa Brennnesselknödel schmecken indessen wunderbar, eine empfehlenswerte Adresse, nicht nur für Liebhaber von Kräuterhexen. Satt und glücklich wird man an jeder der drei Adressen im sonnigen Matrei. Wer sich zwischendurch Appetit anspazieren will, sagt sich: Gut, dass es hier rundum viele Berge gibt. Es gibt hier eigentlich nur Berge, Wanderwege, Felswände, Berggipfel, Almen und Berghütten.

Mitten im Wandergebiet, das sich im Winter zum Skigebiet wandelt, steht die aus schönem Holz gebaute Roat’z Bodn-Hütte, die mit einem Bergfrühstück wanderfreudige Frühaufsteher auf die sonnenbeschienene Terrasse lockt. Auch im Laufe des ­Tages hat die stoisch gut gelaunte Wirtin einiges am Programm, vom Rösti mit Spiegelei bis zur Pasta mit Ziegenkäse und Rucolapesto. Wer am Roat’z Bodn über den Tellerrand blickt, schaut auf eines der schönsten Alpenpanoramen Tirols.

Gestärkt kann sich der Wanderer über das Kals-Matreier-Törl Richtung Kals begeben. Dass ihn dort neben allerlei Touren zu den Berggipfeln des Nationalparks auch kulinarische Highlights erwarten, damit muss er nicht rechnen. Man weiß nicht, ob es die Bewohner des Dorfs oder die Bergtouristen sind, die sich durch größere Bescheidenheit auszeichnen würden. So etwa tönt es von Philipp Jans, der mit Frau, Vater, Mutter, Schwägerin und anderen Verwandten den Figerhof führt, einen Bilderbuchbauernhof auf einer Anhöhe vor dem Ortseingang des Bergsteigerdorfs Kals, das niemals auf die Ergänzung „am Großglockner“ verzichtet. In der Küche des Figerhofs ist der Tisch für zehn Personen gedeckt, gekocht hat Renate Jans. „Wir essen immer alle gemeinsam, das ist uns wichtig. Gegessen wird um Punkt zwölf Uhr.“

Die Familie Jans produziert aus Ziegenmilch Topfen, Joghurt und Käse: einen animierend säuerlichen Frischkäse, einen feinen, dezent nussigen Camembert und manchen Schnittkäse. Erst seit einem halben Jahr ist die blitzblanke Käserei, die in das Betriebsgebäude des Hofs integriert wurde, in Betrieb, und der leidenschaftliche Bauer Phi­lipp Jans räumt ein, dass sie noch viel zu lernen hätten. Ziegenmilchprodukte sind ja im Trend. „Nicht der Markt hat unser Angebot diktiert, sondern die Leidenschaft“, sagt Jans. Ein an sich nicht selten gehörter Satz dieser Tage, aber ihm nimmt man es ab. Es sei seine Liebe zu den Ziegen gewesen, so er, Tiere mit Charakter, mal schwierig, dann wieder herzlich entgegenkommend. In den beiden ebenso sauberen, lichtdurchfluteten Ställen leben die Tiere nicht schlecht, und vor den Toren wartet eine prachtvolle Wiese voller Blumen und Kräuter. „Das Geheimnis des Heus, das wir den Tieren verfüttern, ist der hohe Anteil an Wiesenblumen und Kräutern, das macht die Milch besonders“, so Jans. Die Molke, die aus dem Käsemachen gewonnen wird, wandert zu den Schweinen in Nachbarschaft zum Ziegenstall. Sie leben in einem Fünf-Sterne-Ressort mit Bäumen, Sonne und Schatten, viel Erde zum Wühlen und Wasserpfützen für das tägliche Schlammbad. Die Schweine sind auch im Winter draußen. Dass sie irgendwann einmal als Speck oder Schweinsbraten enden, kümmert sie einstweilen nicht.

Philipp Jans ist nicht der übliche Landwirt, der an Genossenschaften liefert, und wenn er ins Reden kommt, geht es um das erstarkende Selbstbewusstsein der Jungen in der Landwirtschaft, um Marketing und die Schwierigkeiten, vom Bauern­beruf zu leben. Im malerischen Kals gebe es neben dem Figerhof nur mehr einen Vollerwerbsbetrieb, also einen Bauern, der von seinem Bauernhof existieren könne, das ist bitter. Wie gesagt: Wer in Kals Urlaub macht, hat nicht das Gastronomische im Sinn. Die Adressen, die der Kals-Besucher im Kopf hat, sind Lucknerhütte, Stüdlhütte, Franz-Ferdinand-Hütte, allesamt ehrbare Berghütten, die durch kleinere oder größere Fußmärsche zu erreichen sind.

Im Dorf selbst ist das kulinarische Angebot eher bescheiden und austauschbar, mit einer Ausnahme: Einen Kilometer vorm Ortseingang führt eine kleine Bergstraße zum Gasthof Glocknerblick. Den Blick gibt es wirklich, vom Gästezimmer aus, von der kleinen Brauerei, in der die Familie Rogl Bier für die Gäste braut, köstliches Bier übrigens. Theresa Rogl, die Tochter des Hauses, wirkt weniger wie eine Köchin als eine Spitzensportlerin, und sie hatte tatsächlich einen Sinn für Wettkampf. Es waren aber keine Skirennen, sondern Kochwettbewerbe, national und international, an denen sie als Kochlehrling teilgenommen und die sie meistens auch gewonnen hat. Im Winter bildet sie sich bei namhaften Adressen weiter, im Sommer hilft sie den Eltern im Gasthof aus. Theresa vermischt gekonnt bodenständige Osttiroler Standards mit eigenen Ideen. Dabei bedient sie sich dessen, was im Sommer in den Gemüsegärten in Kals wächst, und baut darum ein wöchentlich wechselndes Angebot. Vom Figerhof kommt der Salat, und er ist wirklich gut, dazu Schlipfkrapfen und Spinatknödel mit Bergkäse und Butter, perfekt. Zum Dessert eingemachte Maibeeren aus dem sonnigen Virgental, schon vor vielen Jahrzehnten das erste und lange das einzige Osttiroler Tal mit einem öffentlichen Schwimmbad im Freien. Die Beeren erinnern an Schwarzbeeren, sind aber größer und haben mehr Frische und Säure. Noch ein kleines Bier, man trennt sich nur ungern von diesem einfachen Ort der Stärkung.

Ähnlich karg wie in Kals war das Leben der Osttiroler auch im Villgratental, das seit dem elften Jahrhundert bevölkert ist, wobei viele Naturkatastrophen die Bauern nicht abhalten konnten, ihrer Heimat treu zu bleiben. Die Bäche, die nicht erst in unseren Tagen die Angewohnheit haben, bedrohlich anzuschwellen, wenn es stark und ausdauernd regnet, dienten zum Betrieb der Getreidemühlen, manchmal riss das Wasser die kleinen Mühlen auch mit sich mit. Eine solche alte Mühle ließ sich Gannerhof-Chef Josef Mühlmann vor seinem Hotel errichten. Er mahlt dort sein eigenes Mehl, aus dem er Teig fürs Brot oder die fantastischen Schlipfkrapfen nach dem Rezept seiner Mutter herstellt. Durch das behutsame Rösten des Getreides vor dem Mahlen kann er Aromen und Geschmacksprofile festlegen, das ist reizvoll, und Mühlmann zählt zu den Wenigen, die über eine solche Möglichkeit verfügen. Das Brot im Gannerhof wird ebenfalls seit mehr als dreißig Jahren nach dem Rezept von Mama Mühlmann gebacken, dazu Bauernbutter und Speck, beides besitzt hohen Suchtfaktor, wobei in Osttirol an guten Brotbäckern keine Knappheit herrscht. Getreidemehl war früher im Villgratental keine Selbstverständlichkeit, man verwendete in Notzeiten Mehl aus gemahlenem Holz, kein Witz, und streckte damit das Getreidemehl. Der Unterschied zwischen dem Lifestyle der Bauern in den Osttiroler Tälern und den Bewohnern der Städte im nahen Südtirol war immens. Während sich die Landwirte von Kraut, Kornbrei und Hafer ernährten und Fleisch nur ein oder zwei Mal im Jahr auf den Tisch kam, gab es etwas weiter, im wohlhabenden Süden, bereits aufwendige Kochbücher, in denen Kalbsbries ebenso auftauchte wie Flusskrebse. Dafür haben sich die Villgrater ihre kräftigen Sturschädel bewahrt, nicht nur beim Kochen, auch in der Musik. Hier hat die Villgrater Band Franui mit dem gängigen Alpenklischee nie etwas am Hut gehabt.

Im Gannerhof geht es alles andere als frugal zu. Der Weinkeller ist prall gefüllt, übrigens ausschließlich mit Weinen aus Österreich. Frische Forellen holt die Küche aus dem Tal-ende, von der Unterstalleralm, wo die Fische im glasklaren, eiskalten Gebirgswasser wachsen. Serviert werden sie mit Buttermilch-Beurre-blanc und Wurzelgemüse. Vom Figerhof aus Kals bezieht Josef Mühlmann Ziegenkäse und Fleisch von den Schweinen, die mit der Ziegenmolke aufgezogen werden. Beides unverkennbare Qualitäten. Zum Entree gibt es Salat­herzen mit Knollenziest, geräuchertem Topfen und frühlingsgrasgrüner Sauce. Aus dem Menü für die Hotelgäste bleibt ein geschmortes Kalbsschulterscherzl in bester Erinnerung. Auf dem Käsebuffet findet sich vorwiegend Einheimisches. Ziegenkäse aus Kals und noch etwas: ein ganz ausgezeichneter Camembert aus Schafmilch. Aus Frankreich? Nein, aus Lienz.

Zwei junge Landwirte, Quereinsteiger in der Schafzucht, Matthias und Theresa Kollnig, führen den Kollnighof, dessen Stallungen aussehen, als handle es sich hier um ein Luxusressort für Tiere. Er, gelernter Tischler, und sie, studierte Archäologin, haben sich hier ihren Traum erfüllt. Der gereifte Schnittkäse kann es mit einem guten Pecorino locker aufnehmen. Das Schafmilchjoghurt ist ein kleines Wunder an Cremigkeit.

War da noch etwas? Lienz, früher ein fixer Rastplatz auf der Reise von Norden nach Süden, Zentrum des Warenaustauschs zwischen Italien und Österreich, vornehmlich auch beim Wein, heute nur noch geplagt vom Durchzugsverkehr. In der malerischen Innenstadt Billigangebote, aber auch so manch kleiner Laden, der den H & Ms und Lutz-Möbelhäusern Paroli bietet. Lienz-Besucher kommen gerne auf eine kleine Stärkung ins Weinphilo, einen außergewöhnlich gut sortierten Laden, der von Franciacorta auf- und abwärts mit einem aufregenden Sortiment an Weinen aufwartet. Die beiden Betreiber, sie aus Lienz, er aus Rom, sind vor langer Zeit nach Osttirol immigriert und haben sich einen schönen Kundenstock aufgebaut. An der Theke Slow-Food-inspirierte Ware, bester Prosciutto, Osso Collo und Salami, wunderbare Käse abseits des Parmesan-Mozzarella-Einheitsessens. Niemals zu versäumen: der beste Espresso Osttirols!