Das Rotwein-Dekolleté
Wenn Essen allein nicht mehr reicht, dann muss es mehr geben. Ein Ausflug in die Erlebnisgastronomie kann, muss aber nicht, begeistern.
Das Rotwein-Dekolleté
Text von Eva Rossmann Illustration: Peter Zolly
"Sie könn’n das Amüse direkt vom Rock unserer Empfangsdame nehmen", sagt der freundliche Ober mit bundesdeutschem Akzent und bittet uns weiter. Viel Holz und Teppich und dann die angekündigte Dame in Rokoko-Krinoline, auf der einen Seite Visitenkarten des "Koch.Art", dazwischen eine neutral geradeaus blickende Gestalt, auf der anderen Seite in einem Schüsselchen irgendwelche Nüsse oder Ähnliches, ich habe es über dem eindrucksvollen Bekleidungsstück und der Idee, Snacks auf der gepolsterten Hüfte einer Frau darbieten zu müssen, vergessen.
Es ist ja heute allgemein so: Eines alleine scheint nicht mehr zu genügen. Man will ALLES und das sofort. Egal, ob es zu ertragen ist oder nicht. Und es gab noch nie einen Trend, der an der Gastronomie vorbeigegangen ist. Das macht die Mischung aus harter Konkurrenz und der Nähe zum Volk, das gefüttert werden will.
Wenn Essen allein eben nicht mehr reicht, dann muss es mehr geben. Könnte ja sein, dass man seinem Gegenüber nichts zu sagen hat oder das, was schon lange zu sagen wäre, nicht sagen möchte. Da ist es besser, nicht nur zu essen, sondern auch unterhalten zu werden. Und: Waren gerade gute Köche nicht immer schon ein wenig Clown? Was anders als – oft auch gute – Clownerie ist es, wenn so ein geschmackssensibler, erfahrener, am Herd schwitzender (und andere schwitzen lassender) Starkoch mit einer hohen weißen Mütze zu den Gästen hinausgeht und sie fragt, ob es geschmeckt hat? Aber gut, da steht trotz allem das Essen (und ein wenig die Eitelkeit von verschiedenen Seiten) im Mittelpunkt. Was aber, wenn das Essen zur Nebensache eines Events wird, das sich trotzdem als gastronomisch tarnt?
Zurück zu Koch.Art und der Empfangsdame, von der begeistert erzählt wird, dass sie in wechselnden Kostümen durch das Menü führen wird. Wir dürfen uns jedenfalls nicht gleich zu Tisch setzen, obwohl wir hungrig wären. Wir müssen auf Sofas mit gefleckten Kuhhäuten Platz nehmen und bekommen statt des Essens den Koch serviert, Auftritt Otto Koch, vorgesehen und (nicht von uns) bestellt, er wirkt, als würde er sich in der Küche wohler fühlen, ich verstehe ihn. Danach bekomme ich meinen Prosecco in einer Art Blumenvase mit schwarzem Strohhalm. Ist das jetzt auch Teil des Erlebnisses oder nur sonst irgendwie daneben gegangen? Das jedenfalls ist der Vorteil bei gastronomischen Runduminszenierungen: So genau kann das keiner wissen. Könnte ja auch Teil der Show sein und ich bloß nicht ausreichend vif das zu erkennen.
Aber das Problem scheine ich mit Erlebnissen der essbaren Art hin und wieder zu haben. Wir waren im "Palazzo" – Manfred Buchinger hat die Gasthaus-Zur-Alten-Schule-Belegschaft auf einen Quasi-Betriebsausflug eingeladen. Da meckert man nicht, wenn man Backe an Backe mit dem Lehrling sitzt, der an sich lieb ist, aber die letzten Tage unendlich genervt hat. Seltsamer schon, dass Spaßvögel herumeilen und einen als tollpatschiger Kellner oder erdig-kesse Putzfrau zum Lachen bringen wollen. Die Armen, habe ich mir gedacht, ein sauschwerer Job. Da schneide ich lieber das Bruckfleisch von zwei Ochsen klein. Witzig habe ich es trotzdem nicht gefunden – und mich fade. Frau Gruber, eine unserer Perlen an der Abwasch, hat es gefallen. Oder sie ist bloß humorbegabter und lockerer als ich? Jedenfalls habe ich auf das Essen gewartet, weil dafür steht ja der Gerer gerade. (Auch wenn ich nicht so lebens- und gastronomiefern bin zu glauben, dass er anwesend ist, das sind ja auch die gastronomischen Wanderzirkusdirektoren Witzigmann in seinem Palazzo nicht und sein ehemaliger Schüler und jetziger Geschäftsgegner Hans-Peter Wodarz, der eigentliche Erfinder dieser Konzepte und des "Pomp Duck and Circumstance – das total überdrehte Restaurant-Theater", schon gar nicht.) – Und tatsächlich: Die Servicetruppe schaffte es, in Affentempo und unterstützt von entsprechender Musik die Vorspeise auf jeden der engen Plätze zu servieren. Und: Sie war … in Ordnung. Es gab zwar anstelle des angekündigten Hummers etwas Lachs, aber da wird es wohl ein kurzfristiges Hummerlieferproblem gegeben haben, nur böse Menschen denken daran, dass die Foodkosten bei Hummer und bei Lachs eine Spur unterschiedlich sind. Dann gab es Show und die wurde immer besser, die Akrobaten immer eindrucksvoller, manches vielleicht ein wenig zu langatmig, und das Essen dazwischen … in Ordnung. – Und das Dessert wurde sogar im Galopp von allen Köchen und der gesamten Akrobatencrew serviert! Als ich danach einen Mann am Nachbartisch ergriffen sagen hörte: "Wahnsinn, so schnell so viele Essen!" wusste ich, dass man es besser nicht formulieren hätte können.
So schnell ging es übrigens im Koch.Art nicht. Man bekam als Amuse-Gueule am Tisch dann winzige Hamburger. (Ich hätte gerne schon einen riesigen gehabt und wäre damit zufrieden gewesen, hätte von mir aus sogar "I am loving it!" gebrüllt.). So hungrig war ich dann, dass ich sogar vergessen habe, was die Empfangsdame dann beim doch irgendwann einmal servierten ersten Gang anhatte. Nicht vergessen kann ich, wie sie uns darauf hingewiesen hat, dass das ja ein Lokal für alle Sinne sei und wir daher jetzt an dem in eine Duftlampe geträufelten Riechöl schnuppern und erkennen sollten, was das für ein Duft sei. Es war Rosmarin und es hat gerochen wie in einer besseren Toilette. Ach ja, der erste Gang war übrigens wirklich fantastisch. Und dass Decke und Säulen der elegant-rustikalen Stube mit Plastikgemüse dekoriert waren, sollte wohl auch irgendeinen Sinn ansprechen, wir tippten auf Un- oder Wahn-Sinn.
Aber Plastik hat eben immer Saison, es ist inzwischen so etwas wie common food, also Essen ohne Überraschung, das uns gerade deswegen schmeckt, weil wir es kennen. Von dem Prinzip dürften auch die Erbauer von Autobahnraststätten ausgehen. – Nicht nur, was die Verköstigung angeht. Wie sonst wäre es denkbar, dass du in den Tiroler Bergen in einem mit Glas überdachten Tiroler Nachbau-Dorf, in dem laut Prospekt "immer Frühling ist", Rast machst, um dringenden Bedürfnissen nachzukommen? "Dorf & Erlebnisgastronomie Gesellschaft mit beschränkter Haftung" heißt die Firma, die sich so etwas ausgedacht hat, volle Haftung würde auch ich nicht übernehmen wollen für diesen Ausflug ins Alpendisneyland. Von Pizza bis zu angeblicher Haute Cuisine bekommt man dort alles, man möge mir verzeihen, dass ich nicht gekostet habe. Wem sonst noch der Appetit vergangen ist, der kann sich auf die Events der nächsten Wochen freuen: Da gibt es den Ankauf von Edelmetallen zu Höchstpreisen (könnte den Innovationspreis für Autobahnraststättenerlebnisse gewinnen) oder die Show eines volkstümlichen Stars.
Da, muss ich zugeben, war mir das Koch.Art, das übrigens nicht, wie es der Tonfall des Servicepersonals vermuten ließe in Deutschland, sondern in Zürs am Arlberg steht, doch um Bergspitzen lieber. Zumal ausgerechnet mein Mann, ein eingeschworener Benutzer von Messer und Gabel, zur bestellten Wachtel ein blütenweißes Tischtuch über den Kopf gestülpt bekam und er darunter – man erinnere sich, Essen für alle Sinne – die Wachtel zu zerreißen und zerbeißen hatte. Was haben wir gelacht! – Der Hauptgang war übrigens (vielleicht mit Ausnahme der Wachtel, die aber nicht einfach zu würdigen war) hervorragend. Aber was ist das gegen das Kleid der Empfangsdame mit dem ausführlichen Rotwein-Dekolleté. Es schwappte Rot über ihre Brüste und der von Plastik gehaltene Saft zog alle Blicke auf sich. Meiner war eher wissenschaftlich. Ich habe sie gefragt, was denn da für ein Rotwein eingefüllt sei. Ihre Antwort war reizend: "Also früher haben wir da echten guten Rotwein hineingetan, aber der hat immer so schmutzige Schlieren gemacht, jetzt nehmen wir einen billigen und rote Farbe, das sieht viel besser aus!"
Dabei bin ich wirklich keine, die sich über solche Erlebnisse, oder nennen wir es wertneutral Zusätze zum Essen und Trinken lustig machen darf, ich bin ja auch nicht immer Köchin, sondern hin und wieder auch Beiprogramm. Erst kürzlich habe ich in demselben Zürs als Beilage zu einem ausgiebigen Weinviertler Menü im "Enzian" aus meinem Krimi Wein & Tod gelesen. Könnte auch einer kommen und schreiben, wer braucht was vorgelesen, wenn das Essen doch gut sei? Ich sehe das natürlich in meinen Fall ganz anders. Da ist das Essen die Hauptsache und ich bin … na ja, eben eine Zugabe. Und überhaupt: Da lockt man nicht Leute unter der Vorspiegelung von Unterhaltung zum Essen, sondern da lockt man Leute zu einer Lesung, die sonst lieber bloß gut essen gehen würden. Und sollte doch jemand wegen mir und meines Krimis gekommen sein – so haben er und sie sich das ausgezeichnete Essen verdient … Es hängt also wie immer eigentlich alles vom eigenen Standpunkt ab, oder: Das Sein bestimmt das Bewusstsein, wie es Karl Marx formuliert hat.
Vielleicht also, simpel übersetzt, sind die Besucher des Koch.Art einfach so, dass sie Plastikgemüse, Retortengerüche, Plastikrotweindekolletés und so manch andere Sinnesüberraschung mögen, sonst wären sie wohl auch nicht in einen Robinsonclub auf Urlaub gefahren (man erspare mir das Nachdenken darüber, was es weltweit in Clubs noch so alles an "Erlebnis"-Gastronomie geben könnte). Vielleicht ist es eben für Geschäftspartner, Betriebskollegen, gemeinsam vereinsamte Ehepaare oder ratlose Touristen eine gute Idee, gedrängt in einem Zelt Akrobaten zu bestaunen und dazwischen unter der Schildherrschaft von Kochzampanos in Affentempo gourmetmassenverköstigt zu werden. Wo sonst sollte einer, der das Land üblicherweise nur von der Autobahn her wahrnimmt, beim notwendigen Gegenteil vom Essen und Trinken gleich ganz Tirol kennen lernen?
Und doch weiß ich, dass es immer noch kulinarische Erlebnisse gibt, die kein Beiwerk, manchmal sogar nicht einmal Silberbesteck brauchen. Sie drängen sich nicht auf, aber man kann sie finden. Und das macht mich froh.