Der verlorene Gang

Eine Mahlzeit ohne Käse sei wie eine Schöne, der ein Auge fehlt, schrieb der Gastrosoph Brillat- Savarin. Das war Anfang des 19. Jahrhunderts. Inzwischen findet sich Käse immer seltener in den Menüs der Spitzenrestaurants. Dabei gibt es auch heute noch genügend Gründe, die für ihn sprechen.

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Text von Georges Desrues

Im Französischen gibt es eine Redewendung, die sich im Deutschen sinngemäß mit „Ostern und Weihnachten zugleich“ übersetzen lässt. Und die da lautet: „dessert et fromage“ also wörtlich „Dessert und Käse“ (wobei die Betonung auf „und“ liegt). Der Ursprung des Bonmots findet sich im klassischen dreigängigen Fixpreis-Menü, wie es in den allermeisten französischen Bistrots, Brasserien und Restaurants angeboten wird. Und bei dem der Gast als letzten Gang zwischen Dessert und Käse wählen kann – beziehungsweise muss. Zumal gerade in Frankreich die Käsekultur genauso hochentwickelt ist wie die Dessertkultur. Und so findet sich auch so manches großzügige Lokal, das „sowohl als auch“ bietet. Was den Franzosen dann eben wie Ostern und Weihnachten zugleich erscheint.

Anderswo ist es nicht üblich, Käse als eigenen Gang eines klassischen Menüs zu servieren. Mit einigen Ausnahmen. So wird etwa in britischen Old-school-Restaurants bisweilen nach (!) dem Dessert und zum Portwein noch Käse aufgetischt. Und in einer piemontesischen Trattoria kann es vorkommen, dass eine Käseauswahl als secondo nach dem Pastagang auftaucht. Ansonsten findet sich Käse als eigener Gang nahezu ausschließlich in der Spitzengastronomie, wo das französische Modell der Küche und der Gästebewirtung jahrzehntelang und weltweit das alleinige bestimmende war.

Nun ist es das allerdings schon seit einiger Zeit nicht mehr so. Die meisten gehobenen Restaurants dieser Welt beziehen ihre Inspiration heute aus gleich mehreren kulinarischen Kulturkreisen. Etwa aus dem japanischen, wo eine Käsetradition niemals existiert hat. Oder dem skandinavischen, wo die handwerkliche Erzeugung aber längst durch eine industrielle verdrängt worden ist.

Doch der Käsekultur abträglich sind noch weitere Entwicklungen in der Szene. Da wäre zum ­einen der stark angewachsene Profilierungsdrang der Köche, begleitet vom unbändigen Druck, ihre überbordende Kreativität durch besonders aufwendig zusammengestellte und angerichtete Speisen zur Schau zu stellen. Ein Bedürfnis, das mit ­einem Produkt, auf dessen Erzeugung, ­Geschmack und Erscheinungsbild sie verhältnismäßig wenig Einfluss haben, kaum zu befriedigen ist. Gleiches ließe sich allerdings auch über Wein sagen. Und dennoch gibt es wohl kein Lokal der gehobenen Kategorie, das nicht mit seiner Weinauswahl zu punkten versucht. Genauso wie Wein vermittelt aber auch Käse das viel zitierte Terroir, wenngleich außerhalb Frankreichs das Service-Personal nur selten gut genug geschult ist, um das dem Gast gebührend zu vermitteln.

Dann sind da die sozialen Medien. Auf Instagram beispielsweise zählt Käse auf Burger, Pizza und Raclette zwar zu den beliebtesten Motiven, aber eben in seiner geschmolzenen Form, die vielen als das ultimative Food-Porn-Motiv schlechthin gilt. Käseplatten hingegen spielen auf der Plattform im besten Fall eine untergeordnete ­Rolle. Und laufen damit Gefahr, auch von all ­jenen zahlreichen Restaurants vernachlässigt zu werden, die ihren Instagram-Auftritt und -Content akribisch pflegen.

Und schließlich ist da noch der Trend hin zur veganen Küche, der längst die Spitzengastronomie erreicht hat. Generell sind pflanzliche Zutaten stark angesagt, tierische eher nicht, ja mancherorts geradezu verpönt. Womit ein Umfeld entsteht, das der Milch, dem neben dem Hühnerei wohl sinnbildlichsten unter den fleischlos-tierischen Eiweißen, alles andere als zuträglich ist.


So wächst die Anzahl jener Spitzenrestaurants, die auf das Servieren eines Käsegangs gänzlich verzichten. Was freilich bedauernswert ist, sprechen doch gleich mehrere Argumente für eine ­Beibehaltung der Tradition. Da wäre zum einen, und allen voran, das, was man die „Erdung des Gastes“ nennen könnte. (Schließlich leitet sich auch der Begriff Terroir von „terre“ ab, was bekanntlich Erde bedeutet.)
Dezenter Stallgeruch füllt den Raum und weckt Assoziationen mit Landaufenthalten und Bauernhöfen. Für einen Moment wähnt man sich dem raffinierten Rahmen des Luxusrestaurants entrissen und in einen ruralen Raum versetzt, wie etwa auf eine sommerliche Alm, inmitten einer blühenden Wiese, zwischen Kühe, Ziegen und Schafen. Eine Erfahrung, die einem die Natur mitunter viel näherbringt als die vorangegangene Speisenfolge, obgleich es ebendieser Bezug zur Natur ist, den ­etliche zeitgenössische Restaurant-Menüs ausdrücklich herzustellen versuchen.

Einen kulturellen Bezug schafft der Käse freilich auch, vor allem nämlich in Restaurants, die sich in einer Käse erzeugenden Region finden. Dort ist er nicht weniger als ein Aushängeschild der lokalen Landwirtschaft und Kultur, eines dieser wertvollen Lebensmittel, die Geschichten zu erzählen wissen, über die Gegend und Zeiten, als man noch in Symbiose lebte mit Natur, Klima, mit den Jahreszeiten und mit seinem Vieh.

Zu diesen Regionen zählt selbstredend auch ­Österreich. „Einheimische Käsesorten biete ich natürlich am liebsten an“, sagt Franz Stranz, „die haben den Vorteil, dass ich die Erzeuger besuchen fahren kann.“ Stranz ist Käsesommelier in jenem Wiener Restaurant, um das man hierzulande nicht herumkommt, wenn es um Käse geht: dem Wiener Steirereck mit seinem mythischen Käsewagen.„Unter unseren Gästen wählen mindestens 50 Prozent auch den Käsegang“, so Stranz, der zuvor in der Steirereck Meierei gearbeitet hat, einer einstigen Milchtrinkhalle, deren ehemalige Funktion zusätzlich zur Käsekompetenz des Betriebs beiträgt.

„Manche Gäste sagen sogar, dass sie sich das ganze Menü hindurch auf den Käsewagen gefreut haben, was der Chef allerdings nicht so gerne hört“, sagt der Käsesommelier mit einem Lächeln. Und bestätigt damit, dass so ein Käsegang nicht nur den Gast erdet, sondern auch den Koch. „Etwas altbacken mag der Käsewagen ja wirken“, bekennt Heinz Reitbauer, „zugleich ist er aber ­eines der Aushängeschilder unseres Restaurants. Und seit Jahrzehnten so gut eingeführt, dass viele Stammgäste keinesfalls darauf verzichten wollen.“ Eine lange Geschichte, zahlreiche Stammgäste und starke Nachfrage – das seien naturgemäß die Voraussetzungen, die den nötigen Absatz garantierten, welcher eine gleichbleibende Qualität im Käseangebot überhaupt erst ermöglicht, betont der Wirt. „Außerdem haben wir den Vorteil, dass man bei uns auch à la carte essen kann, was vereinfacht, auf Wunsch eine Käseauswahl zu präsentieren. Restaurants, die ausschließlich ein Verkostungsmenü anbieten, tun sich da naturgemäß schwerer“, so Reitbauer.

„Einheimische Käsesorten biete ich natürlich am liebsten an, die haben den Vorteil, dass ich die Erzeuger besuchen fahren kann. “
Franz Stranz, Steirereck

Geben tut es solche Lokale aber doch. Darunter etwa das Mraz & Sohn in Wien-Brigittenau, wo auf Wunsch ebenfalls ein Käsewagen auffährt, wenngleich ein etwas weniger üppig bestückter. „Wir stehen einfach auf den Käsegang, und er kommt auch sehr gut an“, sagt Lukas Mraz, einer der beiden Söhne des Hauses, „es gibt sogar Gäste, die anrufen, um zu fragen, ob sie vor­beikommen könnten, um lediglich Käse zu essen.“ Zudem betrachte man den leicht altmodischen Käsewagen im Hause Mraz als eine Art sympathischen Stilbruch in dem doch sehr kreativen Menü, der vielen Gästen Vertrauen vermittle.

Auch außerhalb Österreichs halten einige Stars unter den Küchenchefs an dem Käsegang fest – obwohl sie lediglich ein Degusta­tionsmenü anbieten. Wie etwa die Slowenin Ana Roš in ihrem Restaurant Hiša Franko im prächtigen Socˇa-Tal. „Viele Gäste kommen zu uns, um die Natur dieser Gegend zu erleben, diese besondere Mischung aus alpiner und mediterraner Vegetation. Dazu zählen auch die Pflanzen, die unsere Kühe fressen und die ihre Milch ausmachen. Wer nicht den lokalen Käse gegessen hat, war eigentlich gar nicht im Socˇa-Tal“, sagt Roš. Und so reifen in einem Keller des Hiša Franko auch etliche Käselaibe bei idealer Temperatur und Feuchtigkeit vor sich hin, bis sie dem Gast in drei verschiedenen Reifestadien serviert werden.

„Manche Gäste wollen überhaupt nur auf einen Käseteller vorbeikommen.“
Lukas Mraz, Mraz & Sohn
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Etwas Besonderes hat sich Denis Courtiade einfallen lassen. Der Maître des Drei-Sterne-Restaurants im Pariser HÔtel Plaza Athénée serviert seinen Gästen ungefragt eine kleine Käseplatte, die er, ähnlich den Gourmandises zum Kaffee, einfach in die Mitte des Tisches stellt. „Gleichzeitig reichen wir auch die Dessertkarte“, sagt Courtiade, „aber die allermeisten Gäste kosten von dem Käse, worauf sie vor dem Dessert dann noch die Käseplatte bestellen.“ Womit sie sich für „sowohl als auch“ entscheiden – also für Weihnachten und Ostern zugleich. —

Denis Courtiade (rechts) serviert im Pariser Plaza Athénée den Käse ungefragt vor dem Dessert.

Am besten von jeder Milch etwas

Es muss ja nicht gleich ein Servierwagen sein. Käse kann auch auf einer Platte serviert werden, wie das in den meisten einfacheren Restaurants in Frankreich üblich ist. In einigen wird die Platte einfach auf den Tisch gestellt und die Gäste bedienen sich selbst. In anderen schneidet das Service-Personal den Käse nach den Wünschen jedes einzelnen Gastes, in welchem Fall man einen Beistelltisch einplanen sollte, der ein beidhändiges Arbeiten erlaubt.

Und natürlich müssen es auch nicht, wie etwa im Steirereck,
60 Sorten sein. „Mit lediglich fünf Käsen hat man schon eine schöne Auswahl“, sagt Franz Stranz, Käsesommelier im Steirereck, „etwa mit einem Frischkäse, einem Hartkäse, je einem Weiß- und einem Blauschimmelkäse sowie einem mit Rotschmiere.“ Außerdem sollte man die Milchsorten variieren, idealerweise, indem man zumindest jeweils einen Ziegen- und einen Schafkäse einplant. Natürlich gibt es auch sehr gute Käse aus pasteuri­sierter Milch, spannender sind aber solche aus Rohmilch.

Des Weiteren empfiehlt sich, die Käse schon Tage im Voraus einzukaufen, damit man sie gegebenenfalls nachreifen lassen kann. Denn einen wirklich am Punkt gereiften Käse bekommt man hierzulande im Handel nur mit sehr viel Glück. Ganz im Unterschied zu einem sorgfältig arbeitenden Restaurant wie etwa dem Steirereck, das seine Käse übrigens auch über die Gasse verkauft, wie Stranz abschließend betont.

Es müssen ja nicht gleich 60 Sorten sein. Eine ­gepflegte Auswahl lässt sich auch mit weniger ­zusammenstellen.