Die Angst des Tormanns

Warum trotz perfekter Mise en Place kurz vor Anpfiff schon auch einmal Angst aufkommen kann im Zusammenspiel von Küche, Gast und Service – eigentlich fast immer.

Text von Eva Rossmann · Illustration von André Sanchez

Darauf wäre Handke wohl nie gekommen, als er seinen Roman geschrieben hat. Dass Die Angst des Tormanns beim Elfmeter zur geflügelten Redewendung wird. Unter anderem bei uns in der Küche. Dann, wenn es mehr Reservierungen als Plätze gibt. Dann, wenn gleichzeitig jemand im Service und jemand in der Küche ausfällt, ich zu einer Lesung sollte und Buchinger vereinbart hat, die große Hochzeit zu besprechen. Dann, wenn die beiden großen Tische, die unbedingt à la carte essen wollten, statt im Stundentakt gleichzeitig eintreffen. Und Karel und Maria dringend mehr Speisekarten brauchen und der Drucker wieder einmal spinnt.

Vor allem aber gibt es diesen Moment. Diese seltsame Ruhe, bevor es losgeht. Man hat vorbereitet. So gut und so schnell es möglich war. Mise en Place, das Zauberwort, das sich auch in Zeiten der Schäumchen und Texturen nie grundsätzlich geändert hat, das für den Schnitzelwirtn genauso gilt wie für den Dreihauber. Der Gemüsefond ist heiß, die Rindsuppe geklärt und abgeschmeckt. Der Zwiebel geschnitten und die Velouté bereit, der Sauce à la minute etwas Bindung zu geben. Im Niedertemperaturgerät wartet die Entenbrust auf ihre Bestimmung, die Steaks von Krexners Superrind liegen im Kreta-Olivenöl. Der Grill ist heiß. Jenny bringt die blauen Erdäpfel-Chips zum Pass. Julia hat die Kräuter vorbereitet, ein feuchtes Stück Küchenpapier darunter, eines darüber. Estragon und Oregano, Rosmarin und Bohnenkraut. Alles aus dem Garten. In einer halben Stunde werden sie durcheinanderliegen, Chaoswiese. Ich weiß es. Ich habe es oft genug erlebt. Trotzdem. Jetzt beruhigt die Ordnung. Vor dem Sturm.

Es ist Sonntagmittag. Oder Freitagabend. Auf der einen Seite immer ein großer Unterschied: Da die Familien, die gemeinsam essen, aber nicht immer geeint sind. Der Vater wollte zum Buchinger, die Mutter möchte bloß nicht selbst kochen, die Tochter wäre lieber ins Stadtwirtshaus gegangen, und der Sohn ist sowieso genervt, weil er mit seinen Kumpels verabredet war. Die Oma findet, da ist es zu teuer, und die Tante erzählt von einer Bekannten, die gehört habe, hier seien die Portionen winzig. Der Einwand, dass diese Bekannte gut und gerne hundert Kilo wiege, wird abgeschmettert. Und dann bringt Karel statt des Apfelsafts mit lauwarmem Wasser einen Apfelsaft mit kaltem Wasser – dazu soll man dann in ein Spitzenlokal? Dass er irritiert war, weil die Familienähnlichkeit durch kreative Umbestellungen bewiesen wurde, gilt ihnen nicht als Entschuldigung. Und dass das Lokal gesteckt voll ist, schon gar nicht. Man kann sich doch vorbereiten, oder? Nur dass man Servierkräfte weder klonen noch vervielfältigen kann. Während Freitagabend: Meist Menschen mit mehr Zeit, die gern gut essen. Dafür aber auch besonderes. Und der Doktor hat schon überall gespeist, will nun vergleichen, und tut das auch. Ausgiebiger, als das die anderen am Tisch brauchen. Maria wird als hübsch und freundlich klassifiziert, aber dass es keine Weinkarte gibt, sondern man aufstehen muss, um sich die Flaschen anzusehen, konveniert weniger. Immer der Buchinger mit seinen Spinnereien. „Begehbare Weinkarte“. Sowas. Die Servierkraft müsste dann die Weine im Kopf haben, ist wohl nicht zu viel verlangt. Unser Rudi hätte ihm gesagt: „Was ich nicht habe in Kopf, Sie müssen haben in Beinen“ und wäre ein Eins-a-Dinner-for-one-Gehumpel abgegangen. Aber unser Rudi ist schon eine Zeit im Ruhestand, kommt nur noch hin und wieder, um am Nachmittag Petersil zu zupfen („Das beruhigt! Bin ich immer noch nervees!“) und alte Geschichten zu erzählen.

Was den Sonntagmittag mit so einem Freitagabend verbindet, sind Gewissheit und Ungewissheit. Wir wissen, wir sind voll. Eigentlich mehr als voll. Wir können bloß hoffen, dass zwei der früh eingetragenen Tische rechtzeitig gehen, damit die beiden spät eingetragenen Tische gleich einen Platz haben. Ansonsten können wir nur beten, dass sich die Zweitbelegung daran erinnert, bei der Reservierung gemeint zu haben, es sei gar kein Problem einige Minuten zu warten. Was wir nicht wissen: Kommen die Gäste so, wie sie eingetragen sind? Bringen sie Ärger mit oder Freude? Haben sie Hunde und sitzen neben ihnen Hundefreunde? Allergiker? Werden sie Lamm essen oder wollen sie plötzlich alle das Surschnitzel, das wir nicht auf der Karte haben? Was bedeutet das hingeschmierte „3 veg“ neben den zehn Personen, die unser „Running Weinviertel“ bestellt haben? Vegetarisch? Vegan? Niemand kann sich erinnern, es hingeschrieben zu haben. Keine Zeit für halbwissenschaftliche Schriftgutachten. Jedenfalls sind wir überschaubar viele. Weil trotz der vielen Arbeitslosen die wenigsten offenbar in der Gastronomie Gas geben wollen. Zehn Gänge für drei Personen von zehn am Tisch vegan oder vegetarisch. Es gibt Dinge, die kann man nur herankommen lassen. Für ALLES ist man ohnehin nie gewappnet.

In zwanzig Minuten beginnt die Küchenzeit. Ist quasi, um einen weniger literarischen Sportvergleich zu nehmen, Formel-1-Start. Von Null auf Hundert. Zumindest wenn man dem Reservierungsbuch trauen darf. Yolanda hat die Erdäpfel geschält, bringt sie Jenny. Julia stellt die Salatmarinaden bereit, checkt das Käsebrett.

„Die Ersten sind schon da!“, ruft Maria herein und stellt sechs Amuse-Gueules auf ein kleines Tablett. Jetzt nur nichts sagen, befehle ich mir. Ich weiß, wie Buchinger reagiert, wenn ich „Was machen die schon da?“ rufe. Oder einfach und schlicht: „Scheiße!“ Weil die Morcheln noch nicht fertig blanchiert sind. Weil der Zander noch nicht portioniert ist. Weil er die Veltliner-Beurre-blanc dazu unbedingt selber machen wollte, davon aber nichts zu sehen ist. Weil … Jedenfalls mag er es nicht, und es kann schon sein, dass er mit einem „Willst alle nervös machen, nur weil du Angst hast?“ kontert. „Angst?“, würde ich empört antworten. „Ich hab keine Angst! Ich bereite vor! Und die Idioten sind erst in einer halben Stunde eingetragen!“ Und … er könnte wieder etwas darauf sagen, weil er … Weil er vielleicht auch etwas nervös ist. Wir müssen es ja nicht Angst nennen. Und bevor genau das passiert, halte ich den Mund. Niemand soll sagen, ich hätte nichts gelernt in meinen Küchenjahren – auch wenn es nicht immer funktioniert. Und: Hat ja Vorteile, wenn sie früher da sind. Haben wir einen Tisch weniger zu versorgen, wenn der große Ansturm kommt. WENN er kommt.

Die Angst des Tormanns beim Elfmeter. Ganz ruhig bleiben. Nur dann ist man bereit. Nur dann geht der Ball in die Hände des Torwarts. Handke hat es beschrieben, branchenübergreifend wie weniges aus der Literatur. Birgit wischt die Fläche unter dem Salamander ab. Warum? Hat sie nichts Besseres zu tun als mir vor der Nase herumzufummeln? Bevor ich die Handke­schen Erkenntnisse vergessen kann, ist sie schon wieder an der Abwasch. Meine offenbar tatsächlich vorhandene latente Aggression sollte sich ein besseres Ventil suchen. Aber Schnitzel werden bei uns à la minute geklopft. Die erste Bestellung. Buchinger annonciert. Kein Problem. Jetzt weiß ich, wo ich mit den Händen hin soll und wie der angestaute Dampf abgelassen wird, ich spüre, wie gut der Stress tut, wenn er in Bewegung übergeht. Sauteuse auf den Herd, Pfanne auf den Herd, Wok auf den Herd. Blick zu Jenny, die die panierten Schwarzbrote im Fett versenkt, die Erdäpfelscheiben auf den Grill legt. Alles gut. Es geht los. – Alles gut??? Warum hat er Reh auf Rehragout bestellt? Wir haben kein Rehragout mehr. Ich bin mir sicher, ich habe es gestrichen! Ich lese hektisch. Jetzt wechseln wir quasi täglich die Karte und dann so was. Ich finde die Zeile nicht.

Durchatmen. Die Suppe kocht ohne dich, die Erdäpfelwürfel im Wok brauchen keinen Zuspruch. Die Leber muss ohnehin anbraten. Da: Reh auf Rehragout mit Serviettenknöderl und pikanten Preiselbeeren. Ich hab es vergessen zu streichen. Oder hat Buchinger … Der ist nicht da. Ist mit dem großen Salat abgedampft. Verdammt. Dabei fehlen noch zwei Vorspeisen. Die wollen sicher gleichzeitig essen! Bei uns sollen sie gleichzeitig essen können! Wir sind ja nicht irgendein Saftladen! Die Leber umdrehen, Softistep drauf. Die klare Spargelsuppe mit Weinviertler Safran kocht. Niemand, der anrichtet. Dann mach ich es, muss sich auch noch ­ausgehen. Birgit hat den Suppenteller aufgestellt. Klare Spargelsuppe mit … Super! Ich hab die Safranfäden vergessen, kein Wunder, wenn das schon so blöd anfängt!!! Suppe zurück auf den Herd, Safranfäden rein. Die Leber ist fertig, ein Schuss Geheimmittel drüber, unseren karibischen Rum mit genau der richtigen Süße, viel besser als Cognac. Eine Stichflamme. Ich liebe es! Auch wenn die anderen erschrecken. Ich nicht, ich bin die Heldin des Feuers! – für einen Moment. Dann wird mit Rotweinjus abgelöscht. Ein Schwung und die Pfanne steht unter dem Salamander. Wofür überlange Arme alles gut sind. Ich stelle Birgit die Suppe hin. Soll sie anrichten. „Arbeit ist teilbar“, sagt der Buchinger immer. – Wo verdammt ist er? Ich sehe hinaus zum Service-Platz. Ich kann die Tabletts mit den Amuse gar nicht schnell genug zählen, so viele sind es. Offenbar sind in den letzten Minuten die meisten der Gäste eingefallen. Haben wohl oben am Wolkersdorfer Berg zusammengewartet, und dann mit Vollgas alle gleichzeitig zu uns.

Wir haben nur zwei im Service. Karel und Maria. Beide super, aber es gibt Grenzen. Ich klingle: Spargelsuppe und Leber auf 18! Maria nimmt die beiden Teller quasi im Flug. Rehragout. Wie ist der Blödsinn draufgeblieben? Soll ich zum Tisch und erklären? Rehragout basteln? Reh gibt es im Hold-o-Mat. Wurzelgemüse hat Jenny vorgeschnitten. Jus und Velouté sind da. Adrenalin sowieso. Alles geht! Und dann die zehn „Running Weinviertel“. Und dann vier Viergang-Überraschungsmenüs, eines ohne Innereien und ein anderes ohne jeden Zwiebel. Und der Bondrucker rattert weiter. Und weiter. Und die Fische, die im letzten Moment in den Gemüsewok müssen. – Ich packe es nicht! Jenny ist doch sonst die Ruhe in Person! Jetzt ist ihr der Galloway-Burger hinuntergeklatscht! Dank unseres lieben Chefs ist er nur aus Fleisch gemacht, keine Bindung, anderswo würde er von der Anrichte hochspringen, bei uns hat er sich blitzartig in einen undefinierbaren Rinderhaufen dematerialisiert! Und Buchinger, der wieder vorne steht. „Veganer? Vegetarier?“, rufe ich. – „Was?“ – „Bei den Running.“ – „Steht nichts dabei.“ – „Warst du nicht dort?“ – „Wo soll ich sonst noch hin? Checkst du nicht, was draußen los ist?“ – „Das Rehragout ist eigentlich aus!“ – „Die haben eine alte Karte auf den Tisch gegeben! Ich habs ihnen schon gesagt, sie nehmen das Reh ohne.“ – „Ich hab das Ragout aber!“ – „Also was jetzt???“ Und bitte niemand, gar niemand soll mir in solchen Minuten etwas über die Grundregeln der Kommunikation sagen. Oder das, was Buchinger sonst so gerne predigt: Nämlich dass ich mich nicht aufregen soll, weil wir einfach bloß Schnitzel backen. Auch wenn ich die rosa Entenbrust mit den gefüllten Morcheln garniere. Es gibt Wichtigeres auf der Welt. Es gibt echte Angst und echte Gründe, Angst zu haben. Aber jetzt ist jetzt. Unser Spiel.