Die Deklanation der Geschmacksnerven

Andreas Caminada gilt als der beste Koch der Schweiz. Dass Schloss Schauenstein nicht gerade ums Eck liegt, konnte unseren Autor nicht vom Besuch abhalten.

Text von Alexander Rabl Foto: beigestellt

I.
Das habe ihn schon sehr gefreut, freut sich Andreas Caminada, ohne dass sich die Stimme verändert, Schweizer Understatement in Ton und Gestik. Er meint nicht den dritten Michelin-Stern, sondern die Eingebung, Gänseleber mit Mais zu kombinieren. „Auf die Idee bin ich stolz.“ Naheliegend und genau deshalb und trotzdem sei er es gewesen, dem es eingefallen sei, die Stopfleber und den Mais, der aus einer Leber erst eine Stopfleber macht, auf einem Teller zu kombinieren. Eine geniale Idee, muss man zugeben, und wie alles auf Schloss Schauenstein, so perfekt exekutiert, dass der Gast den Atem anhält. Ein Sorbet aus Mais bildet das Zentrum des Tellers, daneben zwei Scheiben rohe Gänseleber von schierer Über-Qualität, ein aus Mais gebratenes knuspriges Rund, darauf geraspelte Gänseleber, etwas geriebener Mais und als funktionierender Kontrast eine rund ausgestochene Creme auf Basis von Ziegenfrischkäse. Alle Techniken der zeitgemäßen Küche auf einem Teller. Langeweile? Kommt hier bei keinem Bissen auf.

II
„Ich liebe die Deklination. Hat mich immer schon fasziniert“, wird Andreas Caminada auf der Terrasse später sagen, beim gemeinsamen Kaffee, bevor er wieder in die Küche einrücken muss, das Abendessen vorbereiten. Eine große Runde an Essern wird für den Abend nämlich angesagt sein, das Übliche. Er liebt die Deklination, widmet sich mit der Präzision eines Uhrmachers der verschiedenartigen Ausführung eines Themas, wobei die Ästhetik seiner Teller an die Bilder erinnert, die in der Zürcher Kronenhalle an der Wand hängen. Avantgarde ohne Zweifel. Gänseleber gleich noch einmal. Ein kleines Stück, kenntnisreich gebratene Eins-a-Qualität, darauf eine Scheibe Marille und schwarzer Périgord-Trüffel, eine Andeutung einer Trüffelsauce. Ein Eis aus Gänseleber, sanfter Schmelz, perfekte Temperatur, jahreszeitgemäß mit Marillen verziert der Teller, welche wiederum in verschiedenen Ausführungen auftreten. Joghurt sowohl cremig als auch in pulverisierter Form als kühler, frischer Kontrast, eine Mousse von der Leber sowie eine winzige Terrine. Alles in Teelöffelportionen und ohne eine Spur von dem, was uns in der Hochgastronomie so oft begegnet, das Gefühl des déjà-vu oder besser: déjà-mangé. Er liebt die Deklination, sagt Caminada, dieser Gang erinnert an die Durchführungen eines Klavierkonzertes von Bach. Das Vergnügen am Selbstähnlichen, mathematisch durchkomponiert. Jetzt der letzte Schluck von der köstlichen Scheurebe aus Graubünden, von Markus Stäger aus Maienfeld. Und eine kleine Pause.

III
Wir sind mitten im Menü, bei dem es der Küche gelingt, populäre Zutaten der Spitzengastronomie sowie ihre Zubereitung auf einem Niveau zu konfigurieren, das alles andere als alltäglich ist. Nicht alltäglich auf der Ebene, auf der dieses Essen ohnehin eingestuft hat, wer hie und da in den Hochglanzveröffentlichungen blättert, in denen der Cuisinier Caminada seit Jahren Stammgast ist. Zweimal Koch des Jahres im Schweizer Gault Millau mit 19,5 Punkten und drei Sterne im Schweizer Michelin. „Als ich angefangen habe, waren wir gerade drei Leute. Dann kamen die ersten Hauben und Sterne und ich sagte: Hey, jetzt musst du dran bleiben, du brauchst mehr Mitarbeiter.“ Angst vor der finanziellen Bürde eines wachsenden Stabs? „Man überlegt sich das schon. Die Lohnkosten in der Schweiz sind nicht ohne. Aber hey, es musste sein.“ Die damalige Partnerin Caminadas, mit der er den Grundstein des Erfolges in Fürstenau legte, in dem damals etwas heruntergekommenen, aber charmanten Schlösschen, sie hat das Tempo nicht mithalten wollen.

IV
Gefühlte zehn Gänge oder Snacks, wie es in der Hochküche von heute heißt, vor der Gänseleber schenkte der phantastische Maitre den Champagne Delamotte ein. Es sollte der einzige Wein zum Menü bleiben, der nicht aus der Gegend kommt. Eine Weinfolge, bestückt mit Verschiedenem ausschließlich Graubündner Provenienz. Hier hat sich jemand etwas überlegt. Die Weine sind durch die Bank bemerkenswert. Manche, etwa der Weißburgunder Bündner Herrschaft von Peter Wegelin aus Malans oder der Viognier vom Möhr in Maienfeld sind sehr gut, andere einfach fein.

V
Langsam groovt sich der Gast bei den ersten Häppchen ein. Nimmt vom Kopfsalat-Gazpacho, beißt vom Rote Rübe-Cornet, überprüft die Kombination von gebeiztem Saibling, Radieschen und Kohlrabi auf ihre geschmackliche Tauglichkeit, freut sich über den Schinken, welcher gemeinsam mit verschiedenen Mousses und Gemüsesamen angerichtet wird, staunt schon jetzt über die Vielfalt am Teller und die technische Versiertheit, die hinter jedem Detail hervorblitzt.

VI
Dann folgt eine Reihe von Amuse Bouches, beginnend mit einer Makrele, mariniert und gebraten („Ich liebe die Deklination“), mit einer Gurke in Form eines Röllchens und Relish sowie etwas Luft. Schon hat der Gast sein Tempo der Güte des Gebotenen angepasst, verlangsamt also, nur nicht zu hastig essen, jedes Detail verdient seine Würdigung. Es folgen wie bei einem Feuerwerk präzise gesetzte, bunte Geschmacksexplosionen, klein bisweilen, aber von großer Wirkung. Eine Tomaten-Gazpacho mit Sorbet, Gurke wieder, einem Concassèe von der Tomate, einem Schaum und einem, nur einem Croûton von etwa eineinhalb Zentimeter Seitenlänge, aber wie warm und ölig es schmeckt! Die kleine Pfütze von der kühlen Gemüsesuppe – jetzt löffelt es sich auf einmal wieder ganz schnell, ohne Zwischenstopp. Denn diese Erfrischung rettet dem Gast das Leben, der im Schloss ohne Klimaanlage im Jahrhundertsommer 2013 mit kühlem Wasser, noch kühleren Weinen gegen das Gefühl des Hitzetodes ankämpft.
VII
Natürlich muss es rote Rübe sein. Sie hat seit einigen Jahren die Teller Europas in einer bisher noch selten erlebten Hegemonie im Griff. Andreas Caminada („Ich liebe die Deklination“) legt die Rübe ein, macht Röllchen und Crémen aus ihr, fügt gegrillte Wassermelone dazu, ein Granité noch und ein Teelöffelchen Hüttenkäse. Was sagt der Gast zu dieser Rübe? Gut sagt der Gast. Beim nächsten Gang legt er aber dann wieder die Ohren an oder die Geschmacksknospen, sofern die so beschaffen sind, dass man sie anlegen kann. Forelle kommt, in einer Ahnung von Garung, aber eigentlich roh, eine dünne Scheibe von der längs geschnittenen Urkarotte schlängelt sich über den Teller, die knusprige Haut der Forelle lehnt an der wolkenweißen Mousse von der geräucherten Forelle, daneben ein leicht gelierter Miniatursee aus – Apfel? Karotte? Genial! Wir schließen mit einer apart hingestreckten Scheibe von der Rinderzunge mit Apfel, aber auch mit Kren und Kapern in aparten Kleinstportionen, daneben ein Tatar vom Rind. Die ersten Runden gehen an Caminada.

VIII
Der achte Gang ist der erste Gang. An der zunehmenden Größe der Teller und ihrer Belegung erkennt der Gast die Ernsthaftigkeit, mit welcher er und die Küche ins eigentliche Menü einsteigen. Doch ernsthaft ist nichts an diesem Teller, auf dem die Sonne der Amalfitana schimmert. In Form einer Langoustine, einmal als Tatar (müssen wir erwähnen, dass es erster Güteklasse ist?), dann leicht gebraten mit Zitronen und Mie de Pain, wobei es die bezwingende Güte der Amalfi-Zitrone ist in ihren Durchführungen, einmal als Gel, dann als Crème – ein Klecks mit Geschmack von Frische und Süße, leichte Anklänge einer Zitronentarte. Ewig in dieser Art essen dürfen, das wünscht man sich in diesem Moment, wenn man sich überhaupt etwas wünschen muss. Danach Gänseleber mit Mais.

IX
Andreas Caminada lernte gemeinsam mit Thomas Dorfer, den wir unseren Lesern nicht vorstellen müssen, bei Klaus Peter Lumpp im Bareiss in Baiersbronn. Man ist einander immer noch verbunden. Harte lehrreiche Schule. Dann ging er nach Zürich und bald war ihm klar, dass es das eigene Ding war, zu dem er geschaffen war. „Hey, da muss es doch noch etwas anderes geben“, war Caminadas Conclusio zum Thema Angestelltenverhältnis. Er verwendet das „Hey“ sehr oft im Gespräch, aber ein „Hey“ des Selbstanfeuerns, ein Aufruf zum Noch-besser-Werden. Caminada hat sowenig Protzertum an sich, ein bescheidener Mann in dunkler, bequem sitzender Jacke und Hose, der aussieht, als hätten sie einen Feschak für eine Fernsehserie über einen Küchenchef gecastet. Bruce Wayne am Herd. Wie gut, dass es im beschaulichen Fürstenau gerade ein paar Häuser und Gassen gibt, aber keine Verbrecher zu jagen, vielleicht ein paar Feldhasen und Rehe. So kann Bruce Wayne die Nacht durchschlafen, und ist am nächsten Tag fit für den Verteidigungskampf des Rufes als derzeit bester Koch der Schweiz.

X
Nach der Gänseleber gibt es Heilbutt. Er wirkt unspektakulär nach den beiden effektvollen Leber-Tellern, und das ist vielleicht auch seine Rolle. Ein bisschen Beschaulichkeit kehrt ein. Man nimmt von der herrlichen Sauce, nach der großen französischen Schule. Ach, die Lehrjahre im Bareiss! Artischocke gibt es eingelegt und als Püree, Erbse dazu, etwas Frühlingslauch. Es ist schwierig, die Spannung in einem Menü dieser Dimension zu halten. Der Gast räumt leichte Erschöpfung ein, einige Wochen später noch erinnert er sich an den Gang, an die Frische und Säure der Sauce und das Ungewöhnliche der Paspierre-Algen. Jetzt und heute das ganze Gericht noch einmal. Mit einer ganzen Flasche vom herrlichen Viognier vom Möhr aus Maienfeld!

XI
Die Anfahrt nach Fürstenau war ereignis- und kurvenreich. Man wählte den Weg von St. Moritz über den Julierpass. Busse und Lastwägen legten sich dem Gast in den Weg, der es nicht wagte, sich durch unüberlegtes Überholen am Ende um das Mittagessen und vielleicht sonst noch einiges zu bringen. Die Anreise nach Fürstenau ist wunderbar, wenn man das Ziel vor Augen hat, das Schloss mit seinem zauberhaften Garten, unendlich vielen Rosen, inmitten eines betagten Schweizer Dorfes. Mittelgebirge rundum, ein Idyll, das, wie Caminada versichert, extrem verkehrsgünstig liegt. Von Zürich aus sind es, gleich wie von Vorarlberg oder dem Engadin, etwa eineinhalb Stunden pro Strecke. Um die Vorräte an Schnäpsen in den wunderschön dekorierten Räumen des Schlosses, vielleicht in Gesellschaft einer Zigarre, auskosten zu können, empfiehlt sich die Übernachtung. Einziges Problem: die Reservierungszeiten liegen angeblich bei einem halben Jahr. An der Spitze gibt es in der Gastronomie keine Auslastungsprobleme und in der Schweiz schon gar nicht. Freitagmittag bei Juli-Hitze und das Schauenstein ist bis auf einen einzigen Tisch ausgebucht.

XII
Nicht nur der Wein, sondern auch das Lamm kommt aus Bünden. Es ist gebraten und ohne Zweifel delikat, aber durch die präzise Entfernung von allen Fetträndern ist ihm auch einiges an sommerkräuterhafter Wildheit abhanden gekommen. Gemeinsam mit den intensiven Aromen der Tomate in Varianten und der Sellerie, exzellent ausgeführt, ergibt das einen würdigen Hauptdarsteller des Menüs, ein Fleischgericht, in dem das Fleisch nicht das Wichtigste ist, dem die optische Pracht und geschmackliche Fülle der kleinen und größeren Paradeiser locker die Show stiehlt.

XIII
Längst zählt Andreas Caminada zu den Stars der Küchenelite von heute. Darf man ihn als Vorbild einer Generation bezeichnen? Immerhin wagte er mit dem Einzug in das dazumals eher renovierungsbedürftige Schloss Schauenstein einen Schritt aus der Komfortzone als Koch eines Zürcher Feinschmeckerrestaurants. Es war nicht von vorneherein klar, dass sich dieser Schritt und die folgenden Märsche über Pässe und durch Täler finanzieller Unsicherheitsphasen für ihn bezahlt machen würden. Mittlerweile gibt Caminada sein eigenes Magazin heraus. Die Zahl der Bezieher ist erwartungsgemäß nicht klein. Das Res-taurant wird weltweit mit Lob überhäuft. Schön ist es auch noch. Nichts belästigt den Blick, jedes Detail wurde mit Kenntnis und Liebe ausgesucht und platziert. Kunst an den Wänden, aber nicht als Selbstzweck. Altes Gemäuer neben schlankem, zeitgemäßem Mobiliar. Es tut gut, wenn sich der zivilisierte Geschmack nicht nur am Teller zeigt.

XIV
Kirsche und Schokolade unter den Desserts. Es waren ungefähr fünf, darunter die Frische der rosa Grapefruit, die man Gästen in Hochrestaurants eigentlich schon längst von Arztseite her verschreiben müsste, so gut sind sie. Dann in einem Sud aus Sherry und Kirsche, mit Kakaobohnen und einem himmlischen Schokoladeneis das Schokoladensoufflé, ein König der Patisserie auf seinem Thron aus Streuseln, Pralinen, Crumbles, Cremen und Blättern. Eine kleine Armee an süßen Köstlichkeiten folgten dieser Irrsinnigkeit von Frische, Frucht und herber Süße. Es marschierten Marshmallows auf, es erschienen Äpfel mit Minze, Macarons gaben ihre Aromen aus Heidelbeere, Joghurt und Verveine preis. Himbeeren waren da, Nougat auch, Fruchtgelees eh. Ein, zwei starke Espressos und ein Hinweis auf die Schweizer Zigarrenkultur, beileibe nicht das einzige dort, an dem sich Österreichs Gastronomie ein Beispiel nehmen könnte. Hey, dachte sich der Gast, während er in der frischen Kühle des Julierpasses durchatmete und von den Fruchtgelees naschte, welche ihm die bezaubernde Rezeptionistin auf Schloss Schauenstein als Wegzehrung mitgegeben hatte. —

Adresse

Schloss Schauenstein
Schlossgasse 71
CH-7414 Fürstenau
Tel.: +41/81/632 10 80
www.schauenstein.ch