Die süße Challenge

Wer eine echte Herausforderung bei Tisch sucht, besucht das Berliner Restaurant Coda. Dort besteht die komplette Menüfolge aus Desserts.

Foto von Claudia Goedke
Text von Christian Grünwald

Alles im Coda wirkt wie die süße Bildungsoffensive für fortgeschrittene Esser mit dem Drang zum Neuen und Einzigartigen. René Frank hat den außergewöhnlichen Mut eines Pioniers. Er selbst sagt: „Coda ist eine Vision, kein Konzept.“ Im von außen völlig unscheinbar wirkenden Restaurant im Bezirk Neukölln besteht das komplette Menü aus enorm aufwendig gemachten Dessertkreationen. Raffinierter Zucker, weißes Mehl, Obers und Butter haben hier Hausverbot. Trotzdem ist das Resultat zumeist süß, nur selten auch sauer oder ein wenig salzig. In jedem Fall äußerst beeindruckend. Ein Teil der Faszination besteht natürlich in der angewandten Technik.

Patisserie als detailverliebte Spezialdisziplin. Das hat schon reichlich Kritikerlob gebracht. The World’s 50 Best Restaurants ehrten René Frank 2022 als „The World’s Best Pastry Chef“, der Guide Michelin gab zwei Sterne. Was René Frank serviert, ist kein Kindergeburtstag mit Schokospitz und Gummibären. Obwohl: Ein Gemüsegummi aus Gelber Rübe steht am ­Beginn des 8-Gang-Menüs im Coda. Unter Einbeziehung aller Supplements darf man letztlich mit 16 spannenden Kreationen rechnen.

Das Magnum-artig aussehende Eis am Stiel hat bereits ikonenhafte Popularität. Der Kern besteht aus einer Pekannuss-Vanille-Topinambur-Mischung, umhüllt wird großzügig mit Osietra-Kaviar. Wie die Süße im Kern mit der salzig-fischöligen Hülle im Mund ­zusammenschmilzt, ist durchaus denkwürdig und in jedem Fall instagrammable. Sehr schmuck und in der Optik tendenziell stets wie eben ein als Dessert gestyltes Gericht kommen die Kreationen in kleinen Portionsgrößen zu Tisch. Der Vergleich zu den sehr kunstfertigen Gerichteparaden in den Menüs spanischer Avantgardeköche drängt sich auf.

Für die Süße sorgt oft der natür­liche Gehalt an Zucker und Stärke. Etwa bei Melanzani mit Pekannuss, Apfelbal­sam-essig und Süßholz-Salz. Oder auch beim Petersilienwurzelpüree mit schwarzem Knoblauch und Pistazien. Die konzeptionelle Fixierung auf ein Dessertmenü macht die Süße der einzelnen Kreationen logisch und nachvollziehbar. Als Gesamtmenü mit 16 Durchgängen ist das für den Gast aber auch ziemlich anstrengend und für Gaumen und Organismus gehörig belastend. Die Bauchspeicheldrüse fragt da schon mal nach, wie es dem Eigentümer da oben so geht. Avantgarde ist eben anstrengend.

Man empfängt alles Würzige im klassischen Sinn wie einen rettenden Strohhalm für eine zwischenzeitliche Kalibrierung des Geschmacksinns. Etwa bei der käsigen Raclette-Waffel mit Kimchi und Joghurt, eine auch bezüglich Textur sehr schlüssige Sache. Der salzigste Moment stellt sich bei Grissini aus Schweinegrammeln und Sauerkraut ein. Manchmal darf es auch heftiges Umami-Gewürz statt Zucker sein, wenn bei einem dekonstruierten Baskischen Käsekuchen sehr reifer Cironé-Käse (das ist der mit den Milben) mit Kaffee und Sellerie eine völlig neue Ausrichtung erfährt. Zusätzliche sensorische Ka­priolen bringt die äußerst elaborierte Getränkebegleitung mit sich. Das Spektrum reicht dabei von selbst hergestellten Gemüsesaftcocktails über Tee bis zu Sherry, Port, Mirin, Shochu oder auch Wermut-Uhudler.

Seit 2016 tüftelt René Frank an den Coda-Kreationen, die auch laufend weiter perfektioniert werden. Die Küche unter der Leitung der gebürtigen Österreicherin Julia Leitner überlässt kein Detail dem Zufall. Man hat den Ehrgeiz, jede Zutat möglichst selbst zu definieren und einen eigenen Stil zu geben. Sogar Schokolade wird hier selbst hergestellt.

Vielleicht liegt das eine oder andere Verständnisproblem im Begriff Dessert, den jede Ess­kultur anders interpretiert. René Frank denkt Patisserie im Stil französischer oder auch japanischer Handwerkskunst. Mit z. B. süßer Küche im Stil einer österreichischen Klassik hat das überhaupt nichts gemein.

Das Coda ist sicher einzigartig bezüglich Menü und Ausrichtung der einzelnen Gerichte. Ein enorm mutiges Projekt, das viele neugierige Gäste anlockt, das aber eventuell an seine Grenzen gerät, wenn einmal der Reiz des unverwechselbar Neuen in die Jahre gekommen ist. Zumindest aber ein Mal sollte man der süßen Versuchung nachgeben und das Coda besuchen.

coda-berlin.com

René Frank & Küchen-Co-Chefin Julia Leitner
© Claudia Goedke
© Claudia Goedke