Ein echtes Wirtshaus, was ist das?

Wir suchen das Tiroler Wirtshaus, abseits von Alpinbarockhütten und Erlebnislokalitäten. Ein Balanceakt zwischen Tourismus und Selbstbestimmung.

Ein echtes Wirtshaus, was ist das?

Text von Angelika Deutsch Fotos: Thomas Apolt, beigestellt
Das Wirtshaus ist ein Ort, wo das Herz schlägt.
So formuliert es Otto Bayer, Wirt in Niederndorf, der zwar heute ein Restaurant sein Eigen nennt, das aber aus einem Wirtshaus herausgewachsen ist. Es ist das Herz des Wirts, das darin schlägt, der seine Leidenschaft einbringt, auch seinen Eigensinn, ja gerade auf den kommt es an, besonders in Tirol, angesichts einer über Jahrzehnte gelaufenen Fehlentwicklung, wo sich die Gastronomie so sehr dem touristischen Gast angedient hat, dass nicht selten sogar von "Prostitution" die Rede ist.
Das Wirtshaus ist aber auch der Ort, wo das Herz des Gastes schlägt: ein Ort der Begegnung, Umschlagplatz für Gedanken und Meinungen, ein zweites Wohnzimmer. Die Wirtshäuser, in denen sich die Schichten vermischen, waren die ersten Therapiezentren: Hier konnte geredet werden, was sonst keinen Platz hatte. Für dieses Spiel von Anonymität und Nähe taugen keine großen Säle, dafür braucht es Stuben.
Und das Herz des Wirtshauses schlägt nicht zuletzt in der Küche, mit einer heute sicher etwas veränderten, aber immer noch nachvollziehbaren Verankerung in der Bodenständigkeit, wo wenige Gerichte von Qualität zu einem fairen Preis aus Produkten, deren Herkunft nicht schleierhaft ist, angeboten werden, um sich gegen eine Gastrowelt aus Convenience-Vereinnahmung und Pseudo-Ethnoküchen abzugrenzen.
Die Tiroler Wirtshausmutation
Das Wirtshaus als Haus, in dem es einen Wirt gibt, und als Platz, an dem bodenständig gekocht wird (Christoph Wagner) – diese sehr klare Definition ist angesichts der Tiroler Realität nur schwer zu halten. Das Tiroler Wirtshaus scheint vielmehr eine von Touristen unterwanderte und korrumpierte Erlebnislokalität mit höchstens konservatorischem Wert zu sein. Das Bild, das einige Wirte entwerfen, ist keines, das der Tirolwerbung gefallen dürfte: Die Mutationen, die sich aus dem ab den Siebzigerjahren massiv einbrechenden Tourismus ergaben, haben die gastronomische Landschaft nachhaltig verändert. Eine unstolze Haltung, aus wenig Selbstvertrauen genährt, erfüllte in geradezu vorauseilendem Gehorsam die Forderungen vor allem des deutschen Gastes willfährig; aus einfachen Stuben entstanden im Streben nach Masse Alpinbarockhütten in Dimensionen, die nicht mehr finanzierbar sind, das Kernstück aber ging verloren.
Bei all der aus Tourismusbegeisterung erwachsenen Expansionswut wurde schlichtweg auf den einheimischen Gast vergessen. Die alljährlich im November auftretende Lost-City-Stimmung in den Tourismusgebieten ist eine deutliche Sprache. Der Einheimische aber vergisst ein solches Übersehen nicht; im Gefühl, weniger wert zu sein als der Tourist, und angesichts eines explodierenden Preisgefüges, wo normales Essengehen kaum noch leistbar ist, wurde die Abwanderung zu anderen Genussplätzen, allen voran Pizzeria und Chinese, allzu leicht gemacht.
Das Zillertal-Experiment
Genau hier setzt Johannes Hell, junger Wirt in Uderns im Zillertal, an. Als er nach einigen Jahren im Münchner "Tantris" den elterlichen "Metzgerwirt" übernahm, stand fest, dass es in erster Linie ein Lokal für die Einheimischen bleiben müsse, ein Wirtshäusl und keine High-End-Geschichte, die nicht verstanden werden würde. Er wollte den Stammtisch bewahren und all jene, die sich von der heimischen Gastronomie abgewandt hatten, wieder zum Essengehen bringen. Das ist ihm nicht zuletzt auch mit dem behutsamen Umbau des elterlichen Betriebes gelungen, der sich an tradierten Gasthausnormen orientierte. Die Bar im großzügigen Eingangsbereich ist Schnittstelle in diesem Konzept, da trifft zwangsläufig alles aufeinander. Die aus dem Metzgerstüberl nebenan – ja, auch darin liegt eine Wirtshaustradition, mit der hauseigenen Metzgerei, die belassen wurde und für die besten Blutwürste sowie optimale Schweinefleischqualität sorgt – und jene, die auf ihren Tisch in den eleganteren Stuben (vergleichbar mit dem Extrazimmer früher) warten. Stammgäste sind sie irgendwie alle: die Arbeiter und Bauern gleichermaßen wie die Mittagesser aus umliegenden Firmen und die aus dem Tal oder der weiteren Region kommenden Herrschaften; die Region reicht hier schon mal bis München, aber stülpt sich nicht selbstherrlich über das bodenverhaftete Gefüge, wie man’s etwa aus Kitzbühel kennt.
Und auch den feschen Kellnerinnen ist man gleichermaßen zugetan; das zarte Mädel beim Ausschank (immerhin eine mit profunder "Tantris"-Ausbildung!) bekommt vom alten Senner ein Schutzengerl geschenkt; der sonore Herr, einer der Zillertaler "Zuagroasten", befindet: "Die Augen essen auch mit." – Sind nicht auch früher die Burschen gerade in jenem Wirtshaus gesessen, wo die schönste Kellnerin zu finden war?
Das Mittagsmenü, hierzulande Abo-Essen genannt, ist ein Abonnement auf Qualität zum markant niedrigen Preis und darf einmal Spinatknödel mit Salat, einmal geschmortes Hendlhaxl sein. Die Speisekarte balanciert recht gekonnt zwischen einer nur moderat angepassten Bodenständigkeit – die Fleischpflanzerl mit Püree sind halt aus Kalbfleisch und besonders flaumig – und dem Abwechslungsbedarf der Stammgäste, wo kreativere Varianten und auch Meeresfische kein Widerspruch sein sollen, schließlich leben wir im Heute, und allzu eingeengt will sich der engagierte Wirt auch nicht wissen. Wann immer er kann, springt er einen Augenblick aus der Küche, um unter den Gästen zu sein, und beendet vor allem das Abendgeschäft bei einem Bier an der Bar, wo er den wichtigen Ortsgesprächen ein offenes Ohr schenkt.
Das andere Stadtwirtshaus
Muss ein Tiroler Wirtshaus getäfelte Stuben haben, seine Küche aus Schlutzkrapfen und Schweinsbraten bestehen? Nicht, wenn es nach Walter Lukas geht, einem Wirt, der sich mit Neudefinitionen auskennt. Von seinem "Lichtblick" im siebten Stock des Innsbrucker Rathauses aus blickt man durch große Glasscheiben direkt auf die Nordkette oder die Sprungschanze am Bergisel, abends auf das Lichterglitzern der Stadt zu Füßen. Für ihn liegt das Wesen des Wirtshauses nicht im traditionslastigen Ambiente, sondern vielmehr in der Art und Weise, wie man als Wirt dasteht, wie man mit seinen Gästen umgeht, was man ihnen an Qualität zu bieten imstande ist; Offenheit und ein G’spür für Menschen seien unabdingbare Voraussetzungen. Auch ein umdefiniertes Wirtshaus muss Stammtischqualität haben, die Gäste sollen einen Ort vorfinden, an dem sie durchatmen und sich vertrauensvoll in die Hände des Wirts begeben können. Als eine Art Küchenyogameister sieht sich Walter Lukas, der mit Emotion und Leidenschaft an seine Arbeit geht: Abends im Geschäft zu sein, selbst nach einem stressgefüllten Tag, das sei für ihn wie Freizeit – da könne er sich dann ganz seinen Gästen widmen. Und nichts sei schöner als das Gefühl, jemanden im Laufe eines Abends "umgedreht" zu haben.
In der Stadt sei die Situation etwas anders als in Saisongebieten; hier ist der Topf der Wirtshausküche groß genug, da findet vieles Platz, Althergebrachtes wie Neues. Und bei diesem Neuen greift das "Lichtblick" zu: mit einem Küchenchef, der eine eigene Art hat, an Produkte heranzugehen. Mittags, für das schnelle, unkomplizierte Menü bleibt er nah am Vertrauten, es geht um Geschwindigkeit, Qualität und Preis – das wissen viele Stammgäste zu schätzen. Gespielt wird am Abend, da gibt’s dann heimische Produkte in modernem Gewand. Das ist die Wahlfreiheit, die sich der Wirt und sein Küchenchef in Übereinstimmung genommen haben. Eine zweigeteilte Küche und Karte, wie sie so oft vorzufinden sind, hätten keine Ehrlichkeit. Doch auch die zählt im Wirtshaus. Freilich ist auch der Standort hoch über den Dächern der Stadt ein nicht zu vernachlässigender Pluspunkt: Hier scheint das "Qi" besonders zu stimmen.
Der Wirtshaus-Hybrid
Irgendwann einmal war es das Wirtshaus neben der Kirche, wuchs dann mit den Jahren mit und präsentiert sich heute als stattliches Allround-Gebilde: Der "Aldranser Hof", in ziemlich idyllischer Lage auf einem Hochplateau nahe Innsbruck gelegen, steht für jene Traditionshäuser, die immer versucht haben, sich den Erfordernissen der Zeit anzupassen, ohne aber gänzlich ihre Identität zu verlieren. Je ländlicher allerdings die Umgebung, umso leichter sei es, ein Haus traditionell zu führen, sagt Klaus Schwemberger, der nun in der Familienfolge für das Gleichgewicht zwischen Hotel, Restaurant und Wirtshaus sorgt. In den schwer geschnitzten Stuben lebt auch hier der Stammtisch, gleich mehrere davon: Die Radlfahrer kommen am Mittwoch, andere täglich oder wöchentlich. Aber der Stammtisch ist eine Generationsgeschichte – und auch eine Sache der Persönlichkeit. Uraldranser und dazugewachsene Zuagroaste an einem Tisch, da lasse sich die Vermischung und Zusammenführung mit jenen, die Anschluss an die Dorfgemeinschaft suchten, gut beobachten; der Tiroler sei ja von vornherein verschlossen und lasse eine Öffnung nur schwer zu.
Die Regelmäßigkeit des Stammgastes ist ein wesentliches Standbein des Hauses: Mittags kommen gern ältere Herrschaften, die nicht mehr kochen mögen, abends die jüngeren Paare, am Wochenende die Familien und die Städter, die einen Ausflug machen, es gibt die Hausgäste und am Sonntag, nach der Kirche, natürlich die "richtigen" Wirtshausgeher. Mittwoch ist Blattltag, Donnerstag Knödeltag. Und auch die Preise dürfen nicht abdriften, man bemüht sich um eine Verständniskalkulation. Die Küchenlinie wandert sowieso immer mehr in Richtung Tradition, das wird vor allem ab dem Sommer mit einer neuen Küchenmannschaft spürbar sein. Und da kann man dann vom ganz traditionellen Gastgarten aus das herrliche Nordkettenpanorama genießen.
Wohin mit dem Wirtshaus?
Die Initiative "Verein Tiroler Wirtshauskultur" arbeitet seit 1992 am Gegengewicht zum unaufhaltsamen Trend der Ethnoküche, der bis ins fernste Tal vordrang und jahrhundertealte Familienbetriebe in ihrer Existenz bedrohte. In diesem "Bekenntnis zur Tiroler Gastlichkeit" gibt es genaue Richtlinien für die Mitgliedsbetriebe und entsprechende Marketingmaßnahmen, um ein neues und breiteres Bewusstsein für die Wertigkeit heimischer Gastronomie und das kulinarische Selbstverständnis Tirols zu schaffen. Ein wichtiger Ansatz, gerade auch im Verbund mit Produkten aus Tirol und in Bezug auf die Authentizität eines Ambientes – allerdings auch stark verwoben mit der touristischen Marke Tirol. Der Tourismus aber sei, so Otto Bayer, eine Übergangsphase, man müsse sich bereits Gedanken über die Zeit danach machen, vor allem in Landstrichen wie der Inntalfurche, die mehr als Gewerbe- und Verkehrsgebiet ihre Berechtigung hat, wo aber auch eine Gastronomie leben muss. Es geht vor allem um die Nachfolgefrage: Angesichts des Negativbeispiels der Eltern ist die Motivation, Wirt zu werden, nicht mehr besonders groß.
Und so sind sich die Wirte einig: Es muss wieder um den heimischen Gast gehen. Hannes Ebster vom Landgasthof "Zur Linde" in Stumm verweist auf immerhin 20 Jahre Aufbauarbeit, um die Gäste der Region ans Haus zu binden. Die Erhaltung der Tradition und die Konzentration auf den Ganzjahresgast sind für ihn vorrangig; Halbherzigkeiten wie zweimal jährlich Wochen der Tiroler Kost und sonst das Zurücklehnen in austauschbare Allerweltsküche seien ähnlich wie der herrschende Architekturtrend: alte Stuben in neue Türme transferiert.
Als expliziter Dienstleister versteht sich Günter Eberl vom "Schwan" in Wattens, der seit nunmehr 14 Jahren vorzeigt, wie ein Tiroler Wirtshaus heute funktionieren kann. An den Tischen in seinem Landhaus mit uriger Schank und reizvollen Stüberln im Oberstock sitzen Maurer wie Manager gleichermaßen und genießen eine zwar nicht mehr ganz so deftige, aber doch unverkennbare neue Tiroler Küche. Die Leute gehen schon noch essen, meint er, aber sie schauen auch genau, deshalb muss der Preis stimmen, nicht nur beim Essen, sondern auch bei Kaffee, Bier und Wein. Das hat mit Fairness und Anstand zu tun.
Vor allem aber bedarf es der das Wirtshaus tragenden Persönlichkeit: Denn ob ein Wirt, eine Wirtin da ist oder nicht, das schwingt mit im Empfinden der Gäste. Weshalb auch eine Gaststätte als Gesellschaft mit Geschäftsführer zwar nach allen Regeln der Tradition geführt werden mag und dennoch nie zu einem Wirtshaus werden oder ein solches bleiben kann. Und so bleibt nur zu hoffen, dass die Berufung zum Wirt keine Generationsfrage bleibt: Denn ein sinnvoll geführtes Wirtshaus kann Erfolg haben, auch und gerade in Tirol.