Ein Lob auf die Wildnis

Wenn in den finnischen Wäldern nach einem scheinbar ewigen Winter die ersten „Primeurs“ sprießen, haben Helsinkis Spitzenköche wieder Material für neue Taten.

Text von Christian Grünwald Foto: Anna Salmisalo

Sie sind Helden, die Finnen. Während wir schon den Frühling vor der Tür haben, müssen die da oben im Norden noch einige Zeit auf milderes Klima warten. Schon im Oktober ziehen im Hafen von Helsinki die kalten Nebelbänke aus dem Meer herein, die Eisbrecher stehen bereit. Bis Ende April darf mit unwirtlichen Witterungsbedingungen gerechnet werden. Dabei frohen Mutes zu bleiben, ist Alltagskunst. Dass die Finnen dabei auch noch in sämtlichen Umfragen in der Selbsteinschätzung zu den glücklichsten Menschen zählen, hat möglicherweise auch mit dem neuen Lebensgefühl in Helsinki zu tun. Die Stadt war jahrzehntelang von einer konservativen Bürokratie förmlich erstickt und gelähmt. Junges, urbanes Leben wie etwa im quirligen, gleich großen Kopenhagen ist nun auch ansatzweise im Stadtzentrum der finnischen Metropole anzutreffen – mit dem Unterschied, dass hier noch keine riesigen Touristengruppen ­jede Individualität unterbinden. Und wenn, dann könnte man immer noch auf eine der 300 Inseln flüchten, die Helsinki umringen.

Finnland, das ist ja auch die Nation der angeblich 190.000 Seen. Der neueste und auffälligste See liegt im Hafenbecken von Helsinki. In der von Holzwänden definierten Allas Sea Pool-Anlage samt angeschlossener Bar erfrischt sich sommers wie winters ein aus bärtigen Start-up-Hipstern und Touristen bestehendes Publikum entweder im Ostseemeerwasserpool oder eben an der Bar. Ein cooler Ort, der, darin sind sich alle Finnen einig, vor einigen Jahren noch unmöglich eine behördliche Genehmigung bekommen hätte.

So mancher Schatten aus der Vergangenheit wirkt heute noch nach. Etwa jener der russischen Besatzer, der in vielen Straßenzügen Helsinkis eine herb-morbide Atmosphäre hinterließ. Oder auch der durch Apples iPhone ausgelöste Nokia-Niedergang, der aus der stolzen Mobiltelefon-Nummer-1-Nation in nur wenigen Jahren ein durchschnittliches Telekommunika­tionsunternehmen machte. Die digitale Führerschaft haben die Finnen jetzt übrigens mit Handyspielen wiedererlangt. Angry Birds, das mobile Game über eierklauende Schweine und wütende Vögel aus Finnland, ist mit fast vier Milliarden Downloads so erfolgreich wie kein anderes auf der Welt.

Das von Toni Kostian und Lauri Kähkönen betriebene Grön gilt als eines der besten Restaurants Helsinkis und wird zugleich als Musterbeispiel für die moderne finnische Spitzengastronomie angesehen.

Tatsächlich macht Küchenchef Toni Kostian alles von den jeweils verfügbaren regionalen Produkten ­abhängig. „Produce-driven restaurant“ nennt man das hier. „Die kurzen Saisonen sind eine echte Heraus­forderung. Wir konzentrieren uns auf alle Arten der Konservierung: Waldpilze, Gemüse, Wildkräuter und Beeren. Das ist der einzige Weg, um in den kalten Winter­monaten interessante Zutaten zu haben.“

In Finnland kann die Wintersaison länger als sechs Monate dauern – von Ende Oktober bis in den Mai. Wer so lange Winter hat, lebt den Sommer umso ­intensiver. So oder so kommt bei derartigen Klima­verhältnissen einer erfindungsreichen Vorratshaltung ganz besondere Bedeutung zu. Anderswo mag Fermentieren in der Küche die Kür sein, hier ist es Pflicht.
„Grön“ steht für Grün, und diese Farbe kommt im Grön nicht selten vom Sauerampfer. In nicht wenigen Gerichten kann man das Chlorophyll der Pflanze förmlich schmecken. Toni Kostian hat dabei einen saisonalen Ansatz: „Zu Beginn des Jahres ist der Geschmack weniger sauer als am Ende der Wachstumsperiode, wenn der Säuregehalt schon so hoch ist, dass man meint, es mit einer anderen Pflanze zu tun zu haben.“

Wenn die Grön-Küche Topinambur mit eingelegten Holunderblüten und Sellerie-Bottarga anrichtet, dann weiß man, warum adrette Speisen wie diese dem Guide Michelin einen Stern wert sind. Ein wirklich herausragendes Gericht war das geschmorte Rotkraut, das schichtweise mit geschmortem Lamm, Grillzwiebeln und schwarzer Trüffel angerichtet wurde. Ein sehr individueller, herzhafter wie eleganter Hauptgang. Spätestens dann ist auch die anfängliche Irritation bezüglich des Ambientes verflogen, das einen mit der offenen kleinen Küche, den wenigen Tischen und dem eher durchschnittlichen Interieur mehr an ein Bistro-Szene-Café erinnert.

Formelles hat selbst in der Großstadt keine allzu große Bedeutung. Vielmehr scheint es so, als umarme ganz Helsinki die Natur und genieße ihre Früchte im Sommer an unzähligen Food-Trucks.

Finnen wachsen mit einem tiefen Wissen um die Natur auf. Nicht wenige können bei einem Waldspaziergang die meisten essbaren Pflanzen, Beeren und Pilze erkennen. Sammeln ist eines der Lieblingshobbys vieler Finnen, und durch das sogenannte Jedermannsrecht darf jeder überall sammeln gehen – außer in einigen Verbotsbereichen wie Naturschutzgebieten und Militäranlagen. In der Saison gibt es so viele Heidelbeeren und Eierschwammerl, dass fast kein Koch mehr weiß, was er damit tun soll.

Zu den bekannten Spitzenhotels wie Kämp, Radisson Blu Plaza, Sokos und Grand Marina hat sich im Frühsommer 2018 mit dem St. George eine neue Topadresse in der Innenstadt etabliert. Eindrucksvoll ist neben den äußerst angenehmen Zimmern und Suiten die Kunstsammlung des Hotels mit mehr als 300 Exponaten, die es mit Top-Galerien aufnehmen kann. Das prominenteste Werk stammt vom chinesischen Künstler Ai Weiwei und begrüßt die Gäste im Eingangsbereich: Der schwebende vielköpfige Drache Tianwu ist aus Bambus hergestellt und in weiße Seide gehüllt.

Für das Restaurant Andrea setzen die St. George-Eigner mit türkisch-mediterraner Küche auf ein für Helsinki durchaus exotisches Konzept. Das eigentliche Hauptrestaurant von Küchenchef Mehmet Gürs heißt Mikla und befindet sich in Istanbul am Dach des Marmara Pera Hotels. Gürs gilt als Neuentdecker der anatolischen Küche, er versieht deren Tradition mit zeitgemäßen Elementen, was ihm auch schon entsprechende internationale Beachtung, z. B. mit Platzierungen in der The World’s 50 Best Restaurant-Liste eingebracht hat. Gürs wurde in Finnland als Sohn einer finnisch-schwedischen Mutter und eines türkischen Vaters geboren. Jetzt wandelt er zwischen beiden Welten, die für ihn mehr Gemein­samkeiten bieten als eine tatsächlich gegebene Sprachverwandtschaft ­zwischen dem Finnischen und dem Türkischen – wer die überlangen Wortmonster betrachtet, sieht auf Anhieb Ähnlichkeiten. „Nähdään ­myöhemmin“ ­etwa bedeutet in Finnland „bis später“.

Das Andrea in Helsinki bringt eine bemerkenswerte Interpretation von warmen und kalten türkischen Mezze, bei denen dann marinierter baltischer Hering, Hummus und gegrillte Rinderzunge eine ganz spezielle Menü-Komposition ergeben. Serviert wird mittig mit Sharing-Konzept, gewürzt wird das meiste eher zurückhaltend skandinavisch. Beim ­lokalen Publikum ist das 90-Plätze-Restaurant ein echter Renner.

Das Palace Restaurant thront seit 1952 über dem Hafen von Helsinki. Es bietet von der Dachterrasse im zehnten Stock den besten Ausblick der Stadt auf den darunterliegenden Markt und die ­Anlegestellen, macht jeden Gast sozusagen zum Hafenmeister. Seit der Renovierung und der Neueröffnung Ende 2017 will das Palace schmeckbar die Leuchtturmfunktion für die finnische Haute Cuisine einnehmen. Küchenchef Eero Vottonen ist ein versierter und leidenschaftlicher Koch, der sich bei aller Vernunft auch den kleinen Wahnsinn leistet. Das war zum Beispiel die Teilnahme am Bocuse d’Or 2015. Die rund 3.500 ­nötigen Arbeitsstunden für Training und Wettkampf sowie alle erforderlichen Ressourcen finanzierte er ohne nennenswerten Sponsoren. Vottonen brauchte in dieser Zeit einen großen Teil des Familienerbes auf. Auch wenn der große Sieg nicht sein wollte, er würde das Abenteuer wieder eingehen. Jetzt heißt die Challenge eben Palace-Restaurant.

Er zelebriert eine leichte, sehr elegante und optisch recht attraktive Küchenlinie. Nichts wirkt schwer, die Betonung liegt auf regionalen Zutaten. Freilich ist all das auch nicht revolutionär neu. Die Küche ist jedenfalls tadellos, wie etwa Jakobsmuscheln mit ­etwas Kohl und Hühnerfond, Kohlrabi mit Messermuscheln oder der wie ein T-Bone an der Gräte gegarte Steinbutt mit Trüffeln und Artischockensauce beweisen. Alles genau so, wie eher konservative Gäste und Kritiker es mögen. Gute Aussichten also, nicht nur auf den ­Hafen, sondern auch auf dem Teller.

Was die finnische Natur und Landwirtschaft so hervorbringen, sieht man repräsentativ in der Kauppatori-Markthalle direkt am ­Hafen. Je nach Saison schwankt das regionale Angebot enorm. Frisches Gemüse etwa gibt es nur ungefähr ein halbes Jahr lang am Markt, dann verschwindet wieder alles unter der eisigen Schneedecke. Wenn dann aber Sommer ist, geht das Wachstum rasant vor sich. Kartoffeln etwa wachsen in den Perioden mit 24 Stunden Tageslicht ungemein schnell. Fisch und Meeresfrüchte kommen zumeist aus Norwegen. Nur von dort ist in Skandinavien wirklich Eins-a-Qualität gewährleistet. Das finnische Meer ist bei der Wasserqualität eher problematisch, und auch die Schweden und Dänen haben gegenüber ihren Meeresgebieten einige Vorbehalte.

Bioprodukte sind bei finnischen Küchenchefs zwar geschätzt, besser verfügbar und begehrter ist aber ­alles, was „wild“ ist – was also neben Pilzen, Beeren und Kräutern auch alle möglichen Wildtiere von Fisch bis Bär inkludiert. Mit der Bio-Zertifizierung sieht es da mangels Kontrollmöglichkeiten bezüglich abgegrenzter Region und Futtermittel etc. zwar schlecht aus, die Produkte sind aber äußerst attraktiv. Zum Beispiel gelten Wildvögel als einer der möglichen künftigen Produktschwerpunkte in Finnland.

Die Ente, die Filip Langhoff im Restaurant Ask zubereitet, ist ein prächtiges wildes Exemplar, das Bruststück davon so sorgfältig gegart, dass sich dabei eine Konsistenz einstellt, die an feinste Leber erinnert. Langhoff hat einst noch in Ferran Adriàs El Bulli mitgearbeitet. Übertriebener technischer Einsatz ist im Ask nicht feststellbar, sehr wohl aber perfektes Handwerk auf allerhöchstem Niveau, etwa beim konfierten Enteneidotter mit Waldpilzen und Brennnesseln. Miteigentümerin Linda Stenman-Langhoff sorgt für die passenden, perfekt abgestimmten Weine, oft und gerne von biodynamischen Betrieben und nicht wenige davon auch aus Österreich. Das gemütliche Esszimmer mit 26 Sitzplätzen wird servicemäßig von den beiden selbst bespielt, viele Speisen erklärt der Küchenchef persönlich bei Tisch.

Im Ask ist jeder Salat, jedes Detail ein kleines Meisterwerk, etwa die akribischen Schnittlauch-Verknotungen um jedes Kräuterbündel. Und doch zweifelt man selbst bei einem so hochkarätigen Menü am nicht gerade variantenreichen finnischen Regional-Dogma. Immer und überall sorgen ­Karotten für die Süße, Sauerampfer und Sanddorn für die Säure, dem im Ganzen gegarten Sellerie entkommt man in Helsinki so wenig wie in Österreich der Roten Rübe.

Sasu Laukkonens Ora liegt in einem Viertel, das architektonisch an Wiener Straßenzüge mit Gemeindebauten aus den Fünfzigerjahren erinnert. Die Küche ist ­offen, der Gastraum klein mit vielleicht zwanzig Plätzen. Klein ist auch die Speisenauswahl, mehr als ein Menü wird nicht offeriert. Jede einzelne Speise birgt jedenfalls enormes Ideenpotenzial in sich. Mariniertes Elchfleisch zum Beispiel, das in der Konsistenz an Graved Lachs erinnert, das aufwendig konstruierte Karottengericht mit verblüffenden Kaffeearomen oder das Lamm als Hauptgang, bei dem das Sous-vide-Fleisch letztlich zur Nebensache wird – denn im Mittelpunkt stehen eine ungeahnt elegant-cremige Kohlsauce und eine mit Käse gefüllte Kartoffel.
Der zu Recht vergebene Michelin-Stern lockt wohl auch Gäste an, die angesichts des einfachen Ambientes die Nase rümpfen könnten.

Das Restaurant im Souterrain heißt Inari. In Finnland ist das der Name eines großen, kaum besiedelten Gebiets in Lappland. Im japanischen Shintoismus benennt man mit ­Inari die für das gute Essen und den Wohlstand zuständige Gottheit, was in Japan auch die Fachgebiete Fruchtbarkeit und Reis umfasst. Dass Inari gerne in Gestalt zweier weißer Füchse dargestellt wird, passt dann letztlich ins skandinavische Bild und ist mit dieser Zweideutigkeit durchaus gewollt.

Die Inari-Eigentümer, Küchenchef Kim Mikkola und ­seine amerikanisch-koreanische Frau Evelyn Kim, spielen in ihrer Küche so grandios mit skandinavischen und asia­tischen Akzenten, dass das unauffällig gehaltene Souterrain-Lokal im Stadtteil Punavuori in kürzester Zeit zum angesagtesten Restaurant der Stadt avanciert ist. Da wird zum Auftakt frisch marinierter Weißfisch sehr pur und reduziert in einer grünen, erfrischend säuerlichen Kräutersauce serviert. Angetrocknete Toma­ten, Szechuanpfeffer und Krenobers beleben den müdesten Gaumen. Hühnergelee und verschiedene ­Pilze ergeben eine Gericht, das spannende Textur­varianten vereint und auch reichlich Umami mitbringt. Auf einem anderen Teller ergeben Muskatkürbis und Algen, verbunden mit einer Kürbis-Miso-Sauce samt etwas Kürbiskernöl, eine spannend-bunte Allianz. Man serviert ausschließlich fünf- oder siebengängige Überraschungsmenüs. Fast jeder Gang wird in kleinen Schüsseln oder tiefen Tellern serviert und beinhaltet ein oder mehrere selbst eingelegte Gemüse. Sie wirken allesamt sehr elegant und sind mehr süß als forciert sauer abgeschmeckt.

Kim Mikkola und Evelyn Kim haben fünf Jahre im Noma gearbeitet und waren bei allen Auslandsgastspielen wie Australien und Mexiko dabei. Das Inari haben sie ganz nach ihren persönlichen Vorstellungen mit ihrem eigenen Geld gestaltet: „Für so ein Projekt findet man keine Finanziers, die wollen nur gängigen Mainstream und sichere Rendite.“ Der Aufwand steckt in jedem Detail. Teller, Bowls und Gläser sind speziell gefertigte Auftragsarbeiten. Die Stühle folgen einem Arne-Jacobsen-Entwurf.

Je nach Saison und Marktlage kann ein Menü schon einmal vegetarisch ablaufen. Das Inari lässt sich kaum schubladisieren. „Wir haben schon mit so vielen verschiedenen Produkten gearbeitet, dass die sogenannte Fusion für uns völlig normal ist.“

Ask
www.restaurantask.com
In dem kleinen und gemütlichen Restaurant wird man von Filip Langhoff und seiner Frau sehr persönlich bewirtet. Hochstehende neue finnische Küche, gerne begleitet von Natural Wines aus aller Welt.

Palace
www.palacerestaurant.fi
Eine der ersten Adressen für Fine Dining in luxuriösem Ambiente. Eero Vottonen ­serviert hier alles, was gut und teuer ist. Der Blick auf den Hafen ist die willkom­mene Garnierung.

Ora
www.orarestaurant.fi
Sasu Laukkonens Küche ist ungemein ideenreich in den Zubereitungen. Kein anderer Koch in Helsinki verknüpft so gekonnt internationale Klassik mit finnischem Regionalismus. Das Ambiente ist im Vergleich zur Küche einfach gestrickt.

Grön
www.restaurantgron.com
„Grön“ steht für Grün, und das Speisenangebot hier ist tatsächlich recht gemüselastig. Das Restaurant von Toni Kostian und Lauri Kähkönen gilt als eines der besten, wenn man moderne, zeit­gemäße Finnland-Küche ausprobieren möchte.

Inari
www.ravintolainari.fi
Der neue Liebling bei allen Helsinki-Gourmets. Küchenchef Kim Mikkola und seine amerikanisch-koreanische Frau Evelyn Kim spielen in ihrer Küche sehr gekonnt mit skandinavischen und asiatischen Akzenten.

Andrea
www.andreahelsinki.com
Mehmet Gürs, gebürtiger Finne mit türkischem Background, zeichnet für das türkisch-mediterrane Küchenkonzept des Restaurants im neuen Hotel St. George verantwortlich. Der schräge Spagat zwischen Helsinki und Istanbul gelingt überraschend gut.