El Chef del Mar
Ángel León kocht wie kein anderer Küchenchef das Meer. Daneben kümmert er sich auch noch um die maritimen Ökosysteme in der Bucht von Cádiz.
Die Gäste im Restaurant Aponiente müssen auf das Signature-Produkt des Hauses nicht lange warten. Ein kleiner Löffel mit purem Phytoplankton sorgt sofort für eine erste nachhaltige Umami-Geschmacksbombe am Gaumen, intensiv und prächtig, wie es etwa herkömmliche Algen niemals vermögen.
2009 war Ángel León der erste Küchenchef weltweit, der Plankton in der Küche verwendet hat. Für ihn ist das leuchtend grüne Extrakt die absolute Essenz des Meeres.
Plankton gilt als wahres Superfood, es enthält jede Menge wertvoller Nährstoffe und Omega-3-Fettsäuren. Der Ernteprozess dafür ist aufwendig und geschieht in der Region. Weltweit wird nur bei Fitoplancton Marino in El Puerto essbares Plankton hergestellt. Dafür muss das Plankton aus zig Millionen Liter Meerwasser extrahiert werden. Ángel León war bei der Entwicklung dieses heute patentierten Poduktionsprozesses beteiligt. Die Forschung und die Zusammenarbeit mit Meeresbiologen der regionalen Universität gehören für den Küchenchef so zum Alltag wie der Mise en place-Durchgang vor dem Service. „Wir müssen noch viel Forschungsarbeit leisten, um das Meer besser zu verstehen.“
Das Meer als ein noch zu entdeckender unendlicher Raum. Ein wenig wirkt das alles so, als ob Kapitän Nemo zu einer Rundfahrt in seiner Nautilus einlädt.
Das Forschen hat Ángel León schon als Kind lustvoll-neugierig betrieben. Als sein Vater damals den Fang aus der Bucht von Cádiz heimbrachte, putzte der kleine Ángel die Fische, erkannte durch den Mageninhalt, was sie gefressen hatten, und wusste so, welche Köder am besten an der Angel anzubringen waren.
Auch heute noch fährt Ángel León bei jeder sich bietenden Gelegenheit hinaus aufs Meer, um dort zu beobachten und natürlich auch die Angel ins Wasser zu halten. Er fühlt sich in vielerlei Hinsicht für den richtigen Umgang mit den natürlichen Ressourcen verantwortlich. „In unserer Region gibt es rund 70 verschiedene Fischarten, aber die Leute kennen und essen davon maximal zehn Prozent. Schon deshalb ist die Überfischung mancher Arten vorprogrammiert.“
Ángel León bringt so gut wie jeden Bestandteil eines Fangs auch auf den Teller. Beifang, also ungewollt ins Netz gegangene Fische und Meeresfrüchte, gibt es bei ihm eigentlich nicht. So wie es in der Aponiente-Küche auch kaum Abfall durch die ausschließliche Verwendung von sogenannten Filetstücken gibt. Aus Köpfen und Innereien werden Saucen oder eigenständige Gerichte, selbst Schalen und Schuppen finden hier Verwendung. Bezeichnenderweise nennt León als seinen liebsten Fisch die Meeräsche – einen Fisch, der lange Zeit eher das Image eines unattraktiven Hafenfischs besaß, um nur wenige Euro gehandelt wurde, dabei aber ein absolut veritabler Ersatz für den teuren Wolfsbarsch ist.
Untergebracht ist das Restaurant Aponiente in einer alten Gezeitenmühle in der südspanischen Hafenstadt El Puerto de Santa María, gleich gegenüber der Bucht von Cádiz.
Die außergewöhnliche Meeresküche Ángel Leóns machte das Aponiente 2017 zum ersten Dreisternerestaurant in der Region. Einen Michelin-Stern trägt auch Leóns Restaurant Alevante im Hotel Gran Meliá Sancti Petri in Chiclana, Cádiz.
Es ist eine Küche, die komplett aus Meeresprodukten hergestellt wird. Für so gut wie jede „normale“ Zutat hält das Meer ein entsprechendes Äquivalent bereit. Für seine oft wagemutig wirkenden Experimente kocht León Fischaugen bei 55 °C zu einer universellen Gelatine für Saucen. Statt mit Eiweiß werden Flüssigkeiten mit einer speziellen Algensorte geklärt.
2007, als er sein Restaurant eröffnete, setzte er angebotsmäßig recht provokant auf sogenannte „Pesca de descarte“, also Ausschussware von den Fischern, wie etwa kleine Rotbrassen, Krill, Seebrassen, Muränen. Topfrische Ware, aber damals wie heute nur schwer zu vermarkten und niedrig im Handelswert.
Verstanden haben das anfangs nur die wenigsten Gäste. León hielt wegen der geschmacklichen Qualitäten stur am alternativen Sortiment fest, dazu kamen schon damals auch ökologische Überlegungen.
Krabbendärme, Quallen, Seegurken, Meeresschnecken, aber auch Wurzeln, Früchte und Blätter vom Meeresboden, – hier wird nicht nur Kaviar und Steinbutt serviert. Etwa 20 Gänge umfasst das große Menü, in dem keine Interpretation von Fisch und Meeresfrüchten ausgelassen wird. Nur logisch, dass Ángel León mit dem legendären Kochgenius Ferran Adrià viele Gedanken und Experimente teilte.
Es ist ein geschmackvolles, Staunen machendes Spektakel, wenn die „Wurstplatte“ zum Tisch gebracht wird. Die Wurstsorten sehen verblüffend echt aus. Die Mortadella macht León aus Wolfsbarsch oder auch Adlerfisch, aus Muscheln entsteht Blutwurst, für die mallorquinische Sobrasada wird Makrele von ihm mit Paprika verarbeitet.
Die länglichen Speckstücke kommen zumeist vom Bauchstück eines dry-aged Hundshais, auch Meerbrassen geben dafür einen guten Rohstoff ab. Auf einem Tischgrill leicht angebraten, ergibt sich tatsächlich ein Jausen-erlebnis, das bezüglich Geschmack und Textur jeder klassischen Metzgerei zur Ehre gereicht. Das ist nicht nur ein effektvoller, küchentechnisch sehr gelungener Gag, er soll auch die Schwellenangst der Gäste vor ihnen unbekannten Produkten überwinden helfen.
Die prachtvolle Diversität des Meeres hat seit einigen Jahren auch das Entstehen eines wichtigen Zukunftsprojekts in der Bucht von Cádiz gefördert. Es geht um den Anbau von Seegras. Die von Ángel León angelegten Plantagen wirken wie große Reisfelder, mit dem Unterschied, dass diese im Meer beheimatete Pflanzenart metertief auch unter Wasser sprießen kann. Die Halme des Seegrases enthalten kleine essbare Körner.
Seegras ähnelt einer Landpflanze, hat Wurzeln, Stängel, Rhizome, Blätter, Blüten, Samen – mit dem Unterschied, dass alles unter Wasser geschieht. Vorteilhaft auch, dass die Pflanze ein solides Nährwertprofil, reichlich Ballaststoffe und Omega-3-Fettsäuren aufweist.
Grundsätzlich wächst „Zostera marina“ in vielen Küstenregionen. Allerdings wurde überall so stark in die Vegetation eingegriffen, dass sich die Ökosysteme dramatisch verändert haben. So geriet auch in Vergessenheit, dass man Seegras wie Getreide behandeln, die Körner dreschen, sieben, rösten und mahlen kann.
Zostera wurde schon früher gesammelt und gegessen, neu aber war der Versuch, die Pflanze kultiviert anzubauen. Die ersten Plantagen in der Bucht von Cádiz wurden 2019 errichtet. Gemeinsam mit Forschern von der regionalen Universität suchte man die idealen Parameter für Wasserströmung, Temperatur, Salzgehalt, Tiefe, Sonnenlicht und vieles mehr. Die Übung scheint zu gelingen. Kürzlich freuten sich Ángel León und seine Teammitglieder über die zweite erfolgreiche Ernte, die schon ein paar hundert Kilogramm Zostera-Körner ergab. Sie erinnern optisch an Amarant oder Chia-Samen, schmecken ähnlich wie salzige Quinoa.
Gepresst zu Öl, zu Sake fermentiert oder auch zu glutenfreiem Mehl für Brot und Nudeln verarbeitet, bietet der Seegrasanbau viele Verwendungsfantasien. Die Anbaufläche wird in den nächsten Jahren jedenfalls eine dramatische Erweiterung erfahren.
Die Seegraspflanzungen dienen auch als eine Art grüne Lunge im Meer, absorbieren enorme Mengen an Kohlenstoff. Angesichts der kontinuierlichen Zerstörung von Salzwiesen, Mangroven und Korallenriffen wäre das endlich einmal eine positive Nachricht für die maritimen Ökosysteme. Vor allem auch, weil für den Anbau keine Düngemittel und Pestizide gebraucht werden und die Verwendung von Salzwasser für die Nahrungsmittelproduktion damit eine völlig neue Dimension erfahren könnte.
Aktuell sind es aber noch vergleichsweise herkömmliche Rohstoffe, die die Aponiente-Küche beherrschen. Bei Ángel Leóns Gastspiel im Restaurant Ikarus im Salzburger Hangar-7 war die Küche nicht nur wegen der aufwendigen Zubereitungen, sondern vor allem auch durch die notwendige Beschaffung der einzelnen Zutaten gefordert. Eine Herausforderung, die die Truppe von Martin Klein wie immer souverän meisterte. Selbst Ángel León staunte, dass Produkte wie die winzig kleinen Camarones für die Signature-Tortillita, betörend frische Messermuscheln und ein nach Ikejime-Methode behandelter Steinköhler dermaßen fangfrisch wirkend in Salzburg vorlagen.
Für eines seiner derzeit beliebtesten Hauptgerichte verwendet León Teilstücke aus dem Kopf von Thunfischen, die gesamt mindestens 300 Kilo auf die Waage bringen müssen. Zur besseren Orientierung gibt es, ähnlich wie bei Rindfleisch, Skizzen für die verschiedenen Cuts mit den einzelnen Teilstücken. So speist man dann ein Stück Facera, Contramormo, Morillos, Mormos oder Galete und staunt, wie zart, saftig und geschmacksintensiv diese von reichlich Bindegewebe durchzogen Teile sind. „Uns in Cádiz blieben immer nur die Tuna-Köpfe“, erzählt León, „alles andere wurde sofort an japanische Kunden geliefert.“
Die bei Fischen dieser Größe ebenfalls imposanten Bauchlappen werden von León, so sie nicht gleich roh serviert werden, ähnlich wie Schweinefleisch eingesalzen und im luftig-kühlen Lagerraum einige Monate luftgetrocknet. In dünne Scheiben geschnitten, ergibt sich ein Gaumenkitzel, der irgendwo zwischen Lardo und Jamón Ibérico einzuordnen ist.
Ángel Leóns Küche steht bei aller Konzentration auf Produkte, die mehr oder minder aus einem Fünf-Kilometer-Radius um sein Restaurant in der Bucht von Cádiz stammen, in einem anregenden Spannungsfeld aus traditionellen andalusischen Rezepten, spektakulären High-tech-Zubereitungen und einer klassisch anmutenden französischen Saucen-Auffassung.
Wunderbares Beispiel dafür die prächtigen großen Garnelen, die bei Tisch mit einer Salzlauge übergossen werden, woraufhin sich die Flüssigkeit innerhalb von Sekunden in einen Schaum verwandelt, der sich durch die chemische Reaktion erwärmt und so für die sanfte Garung der Garnelen sorgt. In der Küche wird aus den Köpfen eine intensive Sauce. Gemeinsam mit den glasig gegarten Garnelen und einer mit Vanille aromatisierten Beurre blanc ein denkwürdiges Gericht, das die Magie des Meeres auf den Teller bringt.
Um einen besonders magischen Moment aus Ángel Leóns Erfindungsreichtum zu erfahren, muss man dann aber doch in seinem Restaurant Aponiente sitzen. Wenn beim Abendessen für einen Gang alle Lichter im Lokal erlöschen, wird jedem Gast ein Glas gereicht, dessen Inhalt beim Schwenken intensiv blau zu leuchten beginnt. Es handelt sich dabei um eine Lumineszenz aus Phytoplankton, welches mit Partikeln von Krebsen und Wasser aufgegossen wird. Berührender kann man das Meer eigentlich nicht servieren.