Entdeckungen in Genua

Ein kulinarischer Küstenspaziergang in der ligurischen Hauptstadt Genua.

Text von Alexander Rabl Foto von Mauritius

Life is unfair. Von Siena, Rom, Florenz, Venedig und Mailand sprechen sie alle. Die Genannten stehen auf der weltweiten Begehrtenliste italienischer Städte ganz oben. Von Genua sprechen hingegen nur wenige. Denn Genua ist eine Stadt, deren Werte sich dem Besucher erst Schritt für Schritt – in unserem Fall Bissen für Bissen – erschließen. Die Schönheit der ehemals mächtigen und reichen Hafenstadt sticht nicht eben ins Auge, das tut vielmehr der große Hafen mit seinen Tausenden von Containern und Kränen. So ein Hafen ist halt aber kein schiefer Turm, kein Markusplatz und auch kein Petersdom. Doch wartet nicht nur ein noch nicht von Touristenströmen überflutetes Stück Italien, sondern auch ein Wettbewerb kulinarischer Spezialitäten, die das Geschmacksbild der ligurischen Küste seit vielen Jahren prägen. Und immerhin: Christoph Kolumbus wurde hier geboren, sein Haus ist eher unscheinbar. Wegen des Essens hat er seiner Heimatstadt jedenfalls nicht den Rücken gekehrt. Dafür ist es hier zu gut.

Gleich vorweg: Focaccia di Recco stiehlt allen die Show. Pesto wunderbar, Taggiasca-Oliven köstlich, Acciughe sehr gut. Doch ein im Ofen gebackener Teigfladen, innen hohl und mit Stracchino gefüllt, übertrifft geschmacklich fast alles, was es an der ligurischen Küste sonst noch zu essen gibt. Wärme, knuspriger Teig, Süße, Milch, der Duft des Teigs und des zerlaufenen Käses. So muss Streetfood schmecken. Die Focaccia di Recco ist ein einfaches Gericht, das sich aber durchaus auch ins elegante Restaurant traut.

Bauch einziehen heißt es in den engen Corrieras, den aus der Zeit vor Christus stammenden Gässchen der Genoveser Altstadt. Und auf neuzeitliche Errungenschaften wie Google-Maps verzichten. Die hohe Dichte an dick gemauerten Gebäuden und viel Stein lassen keine Satellitenverbindung zu. Vieles bleibt hier auch bei Sonnenschein im Dunkeln und erinnert etwas an Neapel, allerdings ohne Camorra-Viertel. Hier wechseln ruhige, von bröckelnden Fassaden gesäumte Gassen mit belebten, wo sich eine Focaccia-Bude, ein Metzger, eine Schokoladenboutique und ein Pesto­laden an den anderen reihen. Man biegt dann von der belebten Gasse in eine weniger belebte und wird plötzlich von dunkelhäutigen Damen im besten Alter gefragt, ob sie denn etwas offerieren könnten. Danke, muss nicht sein. Irgendwann steht der Spaziergänger vor einer Trattoria mit dem leicht zu merkenden ­Namen Ugo. Er hat zufällig ein gastronomisches Urgestein entdeckt. Basisnäher als hier geht es nicht.

Der leicht perlende Weißwein kommt in Karaffen. Ein kleines Tagesangebot ergänzt eine Speisekarte, die auf dem Papier gedruckt ist, das auch als Essensunterlage dient. Bissfest gegarte Trofie, die It-Pasta Liguriens, einmal mit Sepiatinte zubereitet, dann mit Pesto, serviert mit Pignoli und frischen gebratenen Acciughe (Sardellen), sind eine sättigende Köstlichkeit. Der Thunfisch kommt quasi aus der Bucht ums Eck. Die Frittura del Golfo enthält die kleinen Fische und Meerestiere, welche die Küche Liguriens alleine eine Reise wert machen: Seezungen und Rotbarben von fünf Zentimeter Länge, Moscardini, Seppie, Tintenfischringe und natürlich Acciughe. Ohne Letztere kommt kaum ein Menü, kaum eine Speisekarte in Genua aus. Die Sardelle ist die physiognomische Antithese zu den großen Fischen, den Steinbutten, Branzinos, Thunfischen und anderen, um deren Existenz sich dank Überfischung Neptun zunehmend größere Sorgen macht. Sardellen gibt es hingegen ausreichend. Und sie schmecken köstlich.

Die Vorläuferin der Restaurant- und Hotelführer war die Lista dei Rolli der noblen Paläste reicher Bankiers, die im 16. Jahrhundert ihr goldenes Zei­talter erleben durften. Sie hatten sich in der Via Garibaldi (früher Via Nova) breit gemacht, so breit wie es im räumlich von der hügeligen Landschaft beengten ­Genua eben ging. Die Palazzi der Genoveser Oberschicht wurden von den Mitarbeitern des Dogen in drei Kategorien eingeteilt, je nach Komfort und Schönheit. Und ja, sie waren schön, die Palazzi, und sind teilweise auch heute noch zu bewundern. Bewohnt allerdings nicht mehr von den Bankiersfamilien, die ihre besten Zeiten schon sehr lange hinter sich haben, sondern von Beamten in Plastikschlapfen oder ungeheuerlich teuren Einrichtungsläden.

Wenn ein besonders wichtiger Gast kam, sagen wir der Papst oder der Doge von Venedig, wurde ein ­Palazzo der ersten, der besten Kategorie ausgelost, wo er untergebracht werden sollte. Denn der Dogenpalast Genuas galt als zu wenig komfortabel. Das Problem der großen Ehre für die auserkorenen Gastgeber war nur: Die Besitzer des Palazzos mussten für die Kosten der Unterbringung des Gastes selbst aufkommen. Manche ärgerten sich dann über die oktroyierten Ausgaben. Gastfreundschaft für Fremde ist auch heute noch eine Neuigkeit für die lokale Gastronomie. Auch wenn der Tourismus seit einigen Jahren an Volumen gewinnt wie die Focaccia im heißen Ofen.

Zwar platzt die wunderschöne Innenstadt vor Besuchern, und es ist seit etwa zehn Jahren das erklärte Ziel der Region, diesen Industriezweig mit allerlei Vermarktungsaktivitäten zu bedienen. Doch die meisten Genua-Besucher sind mit den mächtigen Kreuzfahrtschiffen unterwegs, die noch höher als die Kräne aus dem Genoveser Hafen ragen. Sie konsumieren genau nichts in der Stadt und lassen sich von Fremdenführern durch die Corrieras und die feine Via Garibaldi treiben. Und viele Patrons und Gastronomen wissen noch nicht genau, wie mit der neuen Kategorie von Gästen umgehen, die ihre Sprache nicht sprechen und auch sonst gewöhnungsbedürftig wirken. Im Familienrestaurant Da Rina, einer von Genuas besten Adressen für Fisch und Gamberi, gleich gegenüber der Halle, wo früher der Fischmarkt untergebracht war, reagieren der Patron und seine Leute wenig euphorisiert auf unsere Anwesenheit. Da wurde erstmal die Reservierung verschlampt. Da müssen schon mal zwanzig Minuten vergehen, bis man die erste Flasche Schaumwein bestellen darf. Und sogar wenn es der teuerste auf der Karte ist, ein Vintage-Sprudel von Franciacorta, bleibt der Service zugeknöpft. Aber wir bewahren Fassung, denn der Ruf eilt der Küche voraus. Die marinierten Acciughe sind weltklasse, der lokale Fisch, dem Branzino entfernt verwandt, mit Artischocken, Erdäpfeln und Oliven im eigenen Sud nicht minder gut, während die behutsam gegrillten Scampi und Gamberi rossi aus Santa Marhgerita einfach ein Hochgenuss sind. Santa Margherita ist, was Sie sicher wissen, ein Gral für Freunde der roten Garnele. Aus 700 Metern Tiefe holen die Fischer des unweit von Portofino gelegenen Dorfs täglich die lichtscheuen Gamberi rossi, ihr Preis ist hoch. Am delikatesten schmecken sie naturgemäß roh, ohne irgendwas, wie sie beispielsweise im Il Marin am alten Hafen Genuas serviert werden.

Das ehrgeizige Küchenteam des Il Marin hat ein paar kleine Gemüse und Tupfer von irgendwas auf dem Teller arrangiert, damit der Gast den Eindruck hat, man hätte zumindest auch etwas gearbeitet. Doch diese Garnelen, mit Kopf serviert, brauchen keine Nebendarsteller. Von locker zehn und mehr Zentimetern Länge, duften sie dezent nach Meeresluft, sie schmecken leicht ­metallisch, jodig und nur andeutungsweise süß, haben einen bemerkenswerten Biss und werden maximal mit ein paar Körnern Salz veredelt. Die Qualität der Fische des mit einem wunderbaren Hafenblick gesegneten Lokals ist jedenfalls beträchtlich. Eine Orata kommt vom Grill und mit der ortstypischen Begleitung aus exakt gegarten Erdäpfeln, Oliven und kleinen Tomaten. Der Fisch ist so, wie er eben ist, wenn er vor wenigen Stunden aus dem Meer gefischt wurde, und er ist nicht anders als perfekt. Doch die Küche kann noch mehr. Zwischendurch bereitet sie Sepia zu, wie ein Risotto nero, dazu ein Sorbet aus Basilikum. Davor gibt es in Streifen geschnittene Seppio­line, deren Konsistenz an Lardo erinnert. Die Tortelli, gefüllt mit Pesto, platziert auf einer Creme aus Frischkäse, sind ein wunder­barer Gruß aus dem ligurischen Hinterland, wo der Fisch nicht hinkommt, weil es dahin zu viele kurvige Bergstraßen gibt. Ein Dessert aus Pannacotta, kleinen Orangen und einer Menge Blüten bestätigt den Gast in seinem Gefühl, außerordentlich gut gegessen zu haben. Schöne und phantasievolle Snacks und Kleinigkeiten zum Kaffee, und das alles in extrem entspannter Atmosphäre. Hier isst das junge Genua. Il Marin ist übrigens das Flagship-Restaurant des in einem neu errichteten Gebäude am alten Hafen auf mehreren Etagen eingerichteten Eataly, an dessen Regalen die Gäste vorbei müssen. Sie können sich am Weg zum Abendessen mit Würsten und Schinken, frischem Pesto, aber auch mit Shampoos und Wein eindecken. Das ist durchaus nützlich, wenn auch ästhetisch schwierig.

Wer in Genua wirklich schön speisen will, begibt sich in das einzige mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Restaurant der Stadt. Unter provokant schönen Fresken werden etwa 24 Gäste bedient, mit einer durchwegs auf den Rezepten der Region basierenden Küche, die so elegant wie zeitlos wirkt. Die ganz leicht marinierten Acceghui zum Einstieg sind delikat, ein Teller mit rohen Fischen und Gamberi aus dem ­aktuellen Fang beweist einmal mehr, dass Genua und Umgebung ein Paradies für Fans wirklich guter Meeresfische sind. Darauf schweben beschwingt ein paar Bonitoflocken. Dann Spaghetti mit einer Sauce nach der Art einer Carbonara, begleitet von leicht geräuchertem Tintenfisch anstelle des Specks. Ein Risotto mit kleinen Würsten und Pesto – so soll es sein. Das Stück gebratene Makrele (sie muss mehrere Meter lang gewesen sein) gemeinsam mit Artischocken verschafft den Kaumuskeln ordentlich Betätigung. Zart und wunderbar dann wieder eine feine geeiste Mousse aus Nougat. Haselnüsse sind, aber auch das wissen Sie sicher, ja eines der Signature-Produkte der Landwirte Liguriens. So wie Käse, Taggiasca-Oliven und Basilikum.

Dem legendären Basilikum aus Ligurien (mit DOP-Zertifikat) sowie dem daraus gewonnenen Pesto sind in Genua eigene kleine Geschäfte gewidmet. Es riecht so wunderbar, und – se non è vero è molto ben trovato – dieses Basilikum gedeiht angeblich auf einer Erde, in der die Knochen von Napoleons gefallenen Pferden ruhen, die einen besonders guten Humus bilden. Ein Bummel durch die Stadt, eine Piesta, das ist ein Stück von souffléartig zarter Focaccia, in die ein kleines Atrium gebacken wurde, wo das frische, vor den Augen der Kunden zubereitete Pesto aus Olivenöl, Basilikum, Pignoli, Parmesan, Salz und Knoblauch hineingegossen wird. Ein Bissen, laue Wärme, Salz, süßes Aroma des Basilikums, das Paradies. Wo gibt es jetzt das nächste Glas Wein?

Auffallend ist, dass die Weinkarten der meisten Restaurants sich eher aufs Wesentliche beschränken. Ein wenig aus Ligurien, manchmal auch ein Gavi oder ein Arneis, große und teure Flaschen finden sich selten. Etwas Greco di Tufo ist immer dabei und auffallend viele Südtiroler und Weine aus dem Friaul. Der Vorteil: Man wird hier nicht viel Geld los bei der Weinbestellung. Und: Den köstlichen Franciacorta gibt es fast überall. In den letzten Jahren haben einige kleine Bars aufgemacht, wo es sich gut auf einen Aperitivo treffen lässt. Wie das winzige Taggiou, eine Weinbar, in der es sich auch trefflich dinieren lässt. Sie wird von drei Frauen geführt. Alleine schon das köstliche Brot, das es etwa zu den Salumi gibt, ist den Besuch wert. Am Wochenende sind die kleinen Lokale mit lokalem Publikum vollgestopft. Etwa die winzige Trattoria delle Grazie, wo Liguriens Küche pur auf die Teller kommt, zum Beispiel gefüllte gegrillte und frittierte Acciughe, und das alles zu Preisen, die das junge italienische Publikum nicht beunruhigen. Das junge Genua bereitet sich hier auf einen langen Abend vor, der für gewöhnlich nicht vor zwei oder drei Uhr enden wird. Man weiß, am Sonntag kann man spät aufstehen. Und dann steht der für Italien gewohnte Sonntagsausflug an.

Denn wer das Meer sehen will, besitzt entweder eine Villa in den Hügeln rund um die Stadt, oder er fährt ein paar Kilometer. Eine kleine Busfahrt entfernt liegt der kleine Fischerort Boccadasse. Eine Kooperative von Fischern hat hier eine kleine Osteria, die eigentlich mehr eine Bar mit ein paar eng nebeneinander gesetzten Esstischen ist. Am schönsten gelegen ist das Capo Santo Stefano, ein alteingesessenes Lokal, das man wie durch einen fast versteckten Geheimgang erreicht, bis sich vor dem Auge des Gastes ein Wow-Panorama breitmacht. Hier kommt her, wer sich und den Seinen etwas Besonderes gönnen will. Am Wochenende zu Mittag ist der Saal voll mit Familien aus der Umgebung. Die Küche gibt sich kreativ, doch in diesen Bemühungen sollte sie nicht zu sehr unterstützt werden.

Eine Interpretation eines lokalen Gerichts aus Teigware, Fisch und Artischocken sieht aus wie ein mächtiger Ziegel. Der Magen verhüllt sein Haupt. Die Happen zum Aperitif sind sehr gut, darunter ein kleines Küchlein mit Frischkäse und Acciughe. Ein Tatar vom Fisch des Tages hat Biss und kommt mit frischen Wiesenkräutern und Blumen zu Tisch. Der Ombrino ist sehr fein, der dazu servierte Salat mit kleinen gelben Tomaten zeugt nicht von überbordendem Einfallsreichtum. Schön ein Dessert aus Ricotta mit marinierten Erdbeeren. Zum Aperitif Champagner, dann einige weniger übliche Weine, die dank Coravin haltbar gemacht wurden. Die Sommelière macht ihren Job mit Begeisterung. Noch einmal den eisgekühlten Limoncello aus dem nahen, reichen Portofino bestellt. Va bene!

The Cook
Vico Falamonica, 9, 16011 Genova GE, Tel.: +39/328/914 71 53
www.thecookrestaurant.com
Genuas einziges mit einem Michelin-Stern ausgezeichnetes Restaurant. Speisen unter Fresken. Bestens: marinierte Acciughe und rohe ­Meeresfische mit Bonitoflocken. Zum Hauptgang Taube.

Trattoria Ugo
Via dei Giustiniani, 86r, 16123 Genova GE, Tel.: +39/010/246 93 02
Ligurische Klassiker von der Frittura di Golfo bis zu Trofie mit Pesto. Laut, preiswert, immer voll und gut.

Trattoria delle Grazie
Via delle Grazie, 48, 16128 Genova GE, Tel.: +39/010/869 82 40
Hier trifft sich das junge Genua. Winziges und preiswertes Lokal mit bemerkenswertem Ambiente und einfacher lokaler Küche. Die Varia­tion von Acciughe ist hier Pflichtprogramm.

Capo Santa Chiara
Boccadasse SRL – Via Ippolito D’Aste, 3/11D, 16121 Genova (GE)
www.ristorantecaposantachiara.com
Prächtig gelegen, und vor allem im Sommer, wenn man auf der kleinen Terrasse direkt am Meer Platz ­nehmen kann, den Ausflug wert.

Il Marin
Calata Cattaneo, 15, 16128 Genova Tel.: +39/010/869 87 22,
www.eataly.net
Beste Fischadresse der Stadt, was Qualität einerseits und Zubereitung andererseits betrifft. Dazu der ­phänomenale Blick über den Hafen und viel junges Publikum.

I Tre Merli
Calata Cattaneo, 17, 16128 Genova GE, itremerli.it, Tel.: +39/010/246 44 16
Eine Mischung aus Weinbar und Restaurant, folgerichtig Genuas beste Weinkarte. Zu essen gibt es unter anderem ganz wunderbare Focaccia di Recce, eines der ­Signature Foods der Küste.

Da Rina
Mura delle Grazie, 3R, 16128 Genova, Tel.: +39/010/246 64 75
www.ristorantedarina.it
Traditionelle Fischadresse, tolle ­Ware, gut zubereitet. Familiär ist der Rahmen, doch der Service fremdelt ein bisschen, wenn der Gast nicht ebenfalls aus Genua ist.

Trattoria Sà Pesta
Via dei Giustiniani, 16/R, 16123 Comune di Genova GE, Tel.: +39/010/246 83 36
www.sapesta.it
Beste Adresse für Farinata, die Fladen aus Kichererbsen, und vieles mehr. Sie werden in einem Holzofen gebacken und sind recht bald ausverkauft.