Erstbesteigung

Impressionen vom alpinen Küchengipfel auf Schloss Schauenstein, bei dem wieder einmal ein gemeinsamer Nenner für eine moderne regionale Küche im deutschsprachigen Mitteleuropa gesucht wurde.

Text von Alexander Rabl

Später Nachmittag, und das Schloss Schauenstein wirkt wie ein gut situierter Herr in den besten Jahren, der sich nach einem ausgiebigen Mittagessen zu einem kleinen Schläfchen zurückgezogen hat. Andreas Caminada findet ein paar seltene Minuten Zeit zur Reflexion. „Neuerdings war ich bei Joan Roca. Ich fragte ihn, was wohl nach der nordischen Küche und nach Südamerika kommen wird: „Die Wahrheit ist: Keiner von uns weiß es.“ Vielleicht ist Caminada aber schon mittendrin im nächsten Trend, der da heißen soll: Küche der Alpen. In der Schauenstein-Küche arbeiten Sven Wassmer und Rebecca Clopath, Hansjörg Ladurner und Fabian Fuchs, einige der besten Köche, die mit ihrer teilweise radikalen Alpenküche gerade auf sich aufmerksam machen. Es ist der erste Alpengipfel zwischen Österreich, Südtirol und der Schweiz. Ort der Handlung: die kleinste Stadt der Welt, Fürstenau in Graubünden, wo Caminadas Schloss Schauenstein steht, das an Wochenenden bis auf ein Jahr und darüber hinaus ausgebucht ist.

Gastgeber Andreas Caminada, für den Stillstand ein Begriff ist, der in seinem ­Vokabular nicht vorkommt, und der gerade in der Nachbarschaft eine eigene Bäckerei sowie weitere Verkostungsräume und Zimmer für Gäste plant, hat seine eigene Definition für das, was er kocht: „Eine alpine Küche, aber mit hohem ästhetischen Anspruch.“ Später wird er aus Saibling und Sanddorn, Rotkohl und Senf oder Schinken und Dörrbirne genialische kleine Happen servieren, die das Thema Säure und Fermentation auf höchst unterhaltsame und subtile Weise variieren. In der Mikroklimazone Graubünden wachsen nicht nur hervorragende Weiß- und Rotweine, sondern auch Artischocken und andere Gemüse. Da hat man es als alpiner Koch natürlich leicht, wenn man einen Biogemüselieferanten hat wie Marcel Foffa, der Caminada nicht nur mit Artischocken beliefert. Wer nicht über einen Schatz an Gärtnern verfügt wie Heinz Reitbauer in Wien oder sein eigener Gärtner ist wie Richard Rauch, tut sich im alpinen Raum vor allem beim Gemüse recht schwer.

Kooperation der Besten
Norbert Niederkofler, der seine Küche im Rosa Alpina vor etwas mehr als einem halben Jahrzehnt radikal umstellte, musste die Bauern in Südtirol mit sanfter Gewalt und Abnahmegarantien erst zur Qualität er­ziehen. Mittlerweile wird er von einem Bozner Gärtner mit 1-a-Gemüse beliefert. Niederkofler betreibt seit Jahren das Projekt „Cook the Mountain“, eine lockere Aneinanderreihung von Veranstaltungen, wo die ­Köche der italienischen Alpen sich ein hochkarätiges Stelldichein liefern. Da wird auch einmal zu Fuß auf eine Alm marschiert, bei der es dann Risotto mit Latschenkiefern und im frischen Quellwasser gekühlten Schaumwein von der Topkellerei Ferrari aus dem Trento gibt. In Österreich wiederum tut sich der Koch.Campus hervor, ein Zusammenschluss einiger Spitzenkräfte rund um Thomas Dorfer, Andreas Döllerer, Heinz Reitbauer, Thorsten Probost, Josef Floh und Richard Rauch. Die miteinander in Freundschaft verbundenen Köche reisen auch schon mal nach London oder Portugal, um ihre alpine Küche zu präsentieren. Jetzt aber lautet die Devise: Bündelung der Kräfte, gemeinsamer Auftritt, ein erster Versuch. Dominik Flammer, Journalist, Autor und Beutejäger in den ­entlegendsten Tälern, Seen und Gipfeln der Schweizer Alpen, hatte die Idee. Die Alpen kennen keine Grenzen, reichen von Frankreich bis nach Österreich, warum also sollte es kein Grenzen überschreitendes Mitei­nander der Besten am Herd geben, um Inspiration und Promotion der Güte des kulinarischen Erbes der Alpen zu pflegen.

Geschichte essen Flammer bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: Koch sucht Bauer, Bauer sucht Koch. Von den Beutezügen der vergangenen Monate hat er Dörrbirnen, getrocknete Cervela, Sanddorn und Süßwassersardinen. Ein begnadeter Geschichtenerzähler ist er auch. Über die Schweizer Soldaten weiß er zu erzählen, dass sie in ­früherer Zeit als die härtesten in Europa galten. Die Schweiz, die kein Salz hatte, gab Soldaten für das wertvolle Gewürz. Und diese Soldaten waren am Schlachtfeld dermaßen furchtlos und überaus brutal, so Flammer, dass das Bauchfett von getöteten Schweizer Soldaten in Mailand in einer Apotheke als Potenzmittel verkauft wurde. Für Flammer wohnt der alpinen Küche längst großes Potenzial inne, und wer an ihrer internationalen Bedeutung zweifelt, kann ihn ganz schön in – freundliche – Rage bringen. Geschichten sind für das Wachsen einer Kochkultur zu überregionaler Bedeutung wesentlich. Die Köchin Rebecca Clopath serviert Rahm mit Wiesenkräutern, fermentierte Frühlingszwiebel, Eidotter und Einkornsauerteigbrot.

It’s the Landwirtschaft, stupid
Der Rahm, der mit dem gleichnamigen Produkt im Supermarkt rein gar nichts gemein hat, ist herrlich fett, teilweise krisselig und von satter, hellgelber Farbe. Er schmeckt gleich noch einmal so gut, wenn man erfährt, dass der Rahm von der Milch der Damen Stella, Fantosa, Enza und Noella stammt, das sind die Namen der Kühe, die auf dem winzigen Hof ihres Vaters wohnen, wo Rebecca Clopath einen großen Teil der Zutaten für ihre Küche bezieht. Salz mit Wiesenkümmel veredelt den Rahm, den es auch im Hofladen zu kaufen gibt. Rebecca Clopaths Vorspeise ist ein Statement dafür, dass gute Küche nicht kompliziert sein muss, wenn die Qualität der Zutaten hervorragend ist. Die immer engere Verschränkung zwischen Bauern, Produzenten und Köchen nimmt in der alpinen Küche (und nicht nur dort, die Franzosen machen es vor) an Bedeutung zu. Das bestimmte Produkte, in kleinen Mengen erzeugt und nur bestimmten Restaurants beziehungsweise Küchenchefs zugänglich, ist das eine Möglichkeit, sich Re­nom­mee und Exklusivität zu verschaffen? Heinz Reitbauer vom Steirereck im Wiener Stadtpark sieht das ganz anders.

Wertschätzung muss verdient sein

„Ich bin kein Freund von Egoismus“, sagt Reitbauer. „Natürlich gibt es viele derartige Kooperationen. Das ist okay, und ich überlasse einem Kollegen gerne ein außergewöhnliches Produkt.“ Heinz Reitbauer wird am kommenden Tag einen Sterz aus Buchweizen servieren, gemacht mit dem Fett ausgesuchter Nieren, die einige Tage vor dem Braten gebeizt wurden. „Die Qualität von Fett“, so Reitbauer, „ist in Österreich sicher noch steigerbar.“ Und fügt hinzu: „Es gibt ein Kalbfleischproblem in Österreich.“ Aber Reitbauer verfügt über ein exklusives Produkt, es sind die Kälber vom Pogusch. Reitbauer ist ein Streiter für ein neues Selbstverständnis in der Landwirtschaft, das er gerne mit einer Wertschätzung für Produkte, ob Fische, Fleisch oder Gemüse, paaren würde, wenn sie diese auch verdienen. „Wir haben etwas Einzigartiges, und das ist die Kleinteiligkeit unserer Landwirtschaft. Kaum ein anderes Land besitzt diese. Allerdings braucht es in der Landwirtschaft einen Bruch, einen Neuanfang.“ Reitbauer weiß, wie wichtig die Pflege von Kulturlandschaften ist. Denn sie prägen nicht nur das Essen der Menschen, sondern den gesamten Lebensstil. Heinz Reitbauer liebt es, die Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, die zu wenig davon bekommen. „Nehmen wir das Thema Fisch. Früher galten doch Forellen als minderwertiges Produkt. Heute ist jeder stolz, wenn er ein solches Produkt in Topqualität bekommen kann und damit arbeiten darf. Die nächste Generation an Köchen hat diese Wertschätzung noch mehr drauf. Wenn es nicht mehr überall Meeresfisch gibt, werden die Leute ihm nachreisen an die Meeresküsten. Und wenn sie dann wieder zu Hause sind, den Geschmack ausgezeichneter Süßwasserfische schätzen.“

Wer wagt, kocht
Sven Wassmer, der in Vals kocht, gilt als neuer Shootingstar unter den Schweizer Köchen. Er serviert einen Brot-Porridge, dazu Bündner Gerste und Trockenfleisch von einer zehn Jahre alten Kuh. Wurde dieses Gericht extra für den heutigen Abend komponiert? Wassmer sagt: „Das Gericht steht bei uns am Menü, ich finde es ja wichtig, diese Sachen den Leuten auch nahezubringen. Sonst hat das Nachdenken darüber keinen Sinn.“ Später wird Wassmer ein Dessert aus Bergkartoffeln, Valser Joghurt, Valser Sahne und getrockneter Birne servieren, eine Neudeutung der Cucina Povera der Alpen, wie sie einmal für breite Teile der Bevölkerung alltäglich war. Wassmers Radikalität erinnert in Teilen an die Küche Andreas Döllerers aus Golling, der sich die Cuisine Alpine schon vor Jahren als Wort-Bild-Marke eintragen ließ und konsequent damit arbeitet. Döllerer, Gründungsmitglied des Koch.Campus, musste die Teilnahme am Alpengipfel krankheitshalber absagen. Er wird im Juni mit einem seiner wichtigsten Partner, dem Bauern Michael Wilhelm, auf einer Berghütte in ­Sölden den nächsten Koch.Campus organisieren. Wilhelm züchtet Yaks und liefert auch alte Milchkühe nach Golling, aus deren delikatem Fleisch Döllerer in seinem Restaurant eine bezwingend gute Vorspeise zaubert.

Was heißt das jetzt für uns?
Es müssen zum Abschluss ein paar Fragen gestattet sein. War es das oder kommt da noch etwas? Flammer: „Wir planen einiges. Ich habe gerade mit den Köchen der französischen Schweiz gesprochen und führe Gespräche mit Bayern.“ Thomas Dorfer vom Landhaus Bacher, Gründungsmitglied des Koch.Campus: „Wir wissen, dass es im Kollektiv leichter ist, etwas für die Küche der Alpen zu erreichen. Es geht nicht um einzelne Persönlichkeiten, die dann im Rampenlicht stehen. Es geht um die Idee. Wenn die Schweizer oder auch die Franzosen dabei sind, freut mich das.“ Heinz Reitbauer: „Die Idee der Gemeinsamkeit ist ja hier bei uns entstanden. Jetzt heißt es auch aufpassen, dass wir ein wenig das Heft in der Hand behalten.“
Die Frage, ob Österreich, das ja nicht nur aus Bergen besteht, sich kulinarisch überhaupt über den Weg der Alpen vermarkten lässt, wurde zu wenig oft gestellt. „Für Restaurants wie das Steirereck oder den Taubenkobel“, so Reitbauer, „passt der Begriff der alpinen Küche natürlich weniger als für die Restaurants von Andreas Döllerer oder Thorsten Probost. Wir haben einen gemeinsamen Kulturraum, aber wir im Osten haben mit unseren östlichen Nachbarn viel mehr gemeinsam als mit vielen anderen.“ Auch Richard Rauch vom Steirawirt sieht sich nicht gerade im Zentrum der alpinen Küche. Er hat längst seinen eigenen Charakter am Teller definiert. Reitbauer, der als Happen zum Aperitif einen russischen Schtschi serviert, abschließend: „Mir geht es nicht darum, auf einen Zug aufzuspringen, ob der jetzt alpin, nordisch oder sonst wie heißt. Mir geht es um die Auseinandersetzung mit Essen an sich und darum, dass auch die breite Basis von etwas profitiert und nicht bloß 25 gute Restaurants.“ Das allerdings ist eine Geschichte, die wir ein anderes Mal erzählen.

Die Teilnehmer am Alpengipfel und ihre beispielhaften Gerichte

Andreas Caminada, Schloss Schauenstein, Fürstenau
Rotkohl – Senf, Schinken – Dörrbirne – Kürbis – Cicorino Rosso, Saibling – Sanddorn, Pizzocherie, Lammbauch – Sanddorn – Spinatwurzel

Fabian Fuchs, Equi Table, Zürich
Zander – Zwiebel – Oca – Radieschen, Rindsrippe – Bergkartoffel – Spinat – Bärlauch – Shiitake (Pulver)

Rebecca Clopath
Einkornsauerteigbrot – Sauerrahm – Wildkräuter – Frühlingszwiebel, Geiss-Pastinake- Wacholder-Preiselbeeren

Hansjörg Ladurner
, Scalottas, Lenzerheide
Bündnerfleisch – Bergkartoffelbrioche, Arvenschaum – Apfel

Sven Wassmer, Silver, Vals
Svens Brot-Porridge – Bündner Gerste – Silver Trockenfleisch, Bergkartoffel – Valser Joghurt – Valser Sahne – getrocknete Birne

Norbert Niederkofler, Rosa Alpina, St. Kassian
Tatar von der Renke

Heinz Reitbauer, Steirereck, Wien
„Sterz“ Heiden – Nierenfett – Steinklee

Thomas Dorfer, Landhaus Bacher, Mauern
Welsleber – Plent’n – schwarze Ribisel – Vogelmiere, Molke – Rindermark

Richard Rauch, Steirawirt, Trautmannsdorf
Amurkarpfen – Käferbohnen – Wasabino – Bucheckern

Chris Oberhammer, Tilia, Dobbiaco
Pustertaler Dinkel mit Spanferkel, Leberpaté und schwarzem Holunder

www.kochcampus.at