Erwarten Sie noch jemanden?

Für manche undenkbar, für andere der Himmel auf Erden: alleine essen gehen. Und zwar nicht nur Pizza to go, sondern Sterne-Menüs. Ein Plädoyer für die nur so zu erreichende Konzentration aufs Wesentliche, das Essen, und das Verständnis der Gastronomie dafür.

Text von Eva Biringer

Es gibt sogar ein Wort für die Angst davor: Solomangarephobia. Menschen, die freiwillig alleine essen gehen? Da kann doch was nicht stimmen. Zumindest, wenn mit Essengehen nicht jene Delis gemeint sind, in denen die apathisch ins MacBook starrenden Gäste inzwischen die Überzahl bilden, sondern vorzugsweise abends aufzusuchende Restaurants, die weder Pizzabude sind noch Würstelstand.

Wer in die Suchmaschine „alleine essen“ eingibt, bekommt als Vorschläge entweder „bestellen“, „peinlich“ oder „macht fett“ angezeigt. Dazu passt jene Szene in Monty Pythons in der das am Ende des Menüs gereichte Minzblatt den adipösen Mr. Creosote zum Platzen bringt. Selbst schuld, wenn man die ganze Karte bestellt, oder? Wobei, die Alleinesser kennen das: Weil sie sich nicht entscheiden und mit niemandem teilen können, bestellen sie oftmals zu viel. Und werden noch dazu mit herablassendem Service gestraft.

Immerhin hat Mr. Creosote einen Einzeltisch bekommen. Viele landen nämlich ungefragt am sogenannten Community Table. Es handelt sich um einen ovalen Tisch oder eine lang gezogene Tafel, an der verschiedene Konstellationen (Corona-Neudeutsch: Haushalte) wild durcheinanderplatziert werden. Da das Funktionskleidungspärchen, das viel vom letzten Paraglidingkurs zu erzählen hat, dort Papas runder Geburtstag und mittendrin das arme Schwein, das sich traut, ohne Begleitung zu kommen. Es stimmt schon, dass sich aus dieser Geworfenheit manchmal interessante Gespräche entwickeln, wie damals im Forsthaus Strelitz mit der Redakteurin eines Psychologiemagazins, oft allerdings nervt es einfach nur. Im mehr einer ­Vernissage mit Gratisgetränken als einem Restaurant ähnelnden Workshop Kitchen  +  Bar in Palm Springs beispielsweise, wo der Nachbarellbogen praktisch im eigenen Green Goddess Salad hing. In erster Linie ist der Community Table natürlich aus ökonomischen Gründen entstanden: mehr Mensch auf kleinerem Raum und flexible Seatings. Abgesehen davon, dient er manchen allerdings als Vorwand eines auferzwungenen Gemeinschaftsgefühls, nach dem Motto: „Zusammen isst man weniger allein.“ Dann doch lieber der gute alte Katzentisch. Oder eine Lösung wie im Opernhaus in Sidney, das ­einen getrennten Bereich nur für ­Alleinspeisende freihält.

Oder den Platz am Counter. Offene Küchen sind so beliebt wie nie, und mit ihnen hat der Chef’s Table Einzug gehalten. Die Wurzeln dieser architektonischen Lösung, die sich enorm auf die Stimmung in der Küche auswirkt – pfannenwerfende Chefs sind damit Geschichte – liegen in ­Japan. Drei Essstäbchenlängen entfernt sitzend, schaut man dem Sushimeister bei seinem Handwerk zu, ehrfürchtig schweigend. Gespräche verbieten sich aus Respektgründen. Ein weiteres ­Beispiel sind einzeln aufzusuchende Ramen-Bars, deren Besuch nur ein Ziel kennt, die rasant schlürfende Nahrungsaufnahme. Von Japan aus hat sich dieses Counter-Prinzip über die ganze Welt verbreitet, vom Chef’s Table at Brooklyn Fare über das Noma und das Atelier Joël Robuchon bis hin zum Rote Wand Chef’s Table. Natürlich kann es dem Alleinesser auch da passieren, dass sein Sitznachbar ungefragt erklärt, wie er das daheim mit dem wachsweichen Ei hinkriegt, aber ein solches Gespräch zu umschiffen ist viel einfacher als an einem Community Table.

Trend hin oder her: Die Mehrheit der Restaurants platziert Gäste nach wie vor an getrennten Tischen. Viele Buchungssysteme sperren sich allerdings gegenüber Einzelpersonen. Man umgeht sie wie jener Bekannte, der für zwei reserviert und dann flott eine E-Mail hinterherschickt, mit der Bitte, allein kommen zu dürfen. Man muss dazusagen, dass ­dieser Bekannte in der Regel das große Menü bestellt, dazu ein, zwei Flaschen Wein (nein, keine sechs wie Mr. Creosote), Aperitif, Kaffee und Schnaps, das volle Programm plus adäquatem Trinkgeld. Drei Mal, klagte der Bekannte bei einem Pudelspaziergang, sei er innerhalb kürzester Zeit von Restaurants abgelehnt worden. Ein Mal ohne Grund, ein anderes Mal aus jenem der „Betriebswirtschaftlichkeit“ und zuletzt von Seiten eines Drei-Sterne-Restaurants in Form einer flapsig ­formulierten Mail, die mit dem Satz endete: „Wir hoffen, Sie bald in unserem Restaurant begrüßen zu dürfen: idealerweise zu zweit.“

Teilweise liegt das sicherlich am aktuellen Ausnahmezustand. Gastronominnen und Gastronomen sind auf jeden Cent angewiesen, und natürlich bringt ein Vierertisch mehr als ein einzelner. Andererseits erübrigt sich so das komplizierte Haushaltstetris, und der eine oder andere würde vermutlich mit besserem Gefühl essen gehen oder überhaupt essen gehen. In Zeiten einer Pandemie muss man sich schon fragen: Gehört die Zukunft den Alleinessenden?

Dagegen spricht, dass ihnen auch schon vor Corona eine skeptische bis diskriminierende Haltung entgegengebracht wurde. Zitat aus dem Leserbrief der Feinschmecker-Leserin Petra B.: „Allein essen gehen, ja, das mache ich, seitdem meine Lieblingsmenschen auf dem Friedhof liegen. Aber der Einzelgast ist oft nicht gern gesehen: Der lange im Voraus gebuchte Chef’s Table wird kurzfristig vom Restaurant abgesagt. Rasante Menüfolge (,Bin ich auf der Flucht?‘) ist eher Standard als die Ausnahme.“ Auf der Flucht wäre man gerne, wenn Servicemitarbeiter glauben, sich zum Small Talk erbarmen zu müssen, der in der Mann-Frau-Kon­stellation nicht selten im Mansplaining endet. Oder aber man gerät an Robert Redford. Echt wahr: Der Hollywoodschauspieler lädt allein essende Personen manchmal an seinen Familientisch ein, weil er deren Anblick „herzzerreißend“ findet.

Es ist davon auszugehen, dass man als Hollywoodstar von manchen Lebensrealitäten einfach keine Ahnung hat. Warum steht eine allein essende Frau sofort im Verdacht, a) Testerin zu sein oder b) vom Gesundheitsamt oder c) auf der Suche nach einem Flirt? Wenigstens sind wir ein Stück weiter als in den 1950er-Jahren, als man dem Sozialpsychologen Hans-Peter Erb zufolge bei einer Frau, die allein ins Restaurant geht, automatisch an eine Prostituierte dachte. Komisch ist es heute trotzdem noch. Kein Wunder, dass mehr Männer (72 Prozent) als Frauen (57 Prozent) angeben, „regelmäßig oder zumindest selten allein eine Gaststätte aufzusuchen“, wie eine Umfrage des Buchungsportals Open Table ergab. Von dort stammt auch die Beobachtung, dass die Reservierungen für eine Person zwischen 2014 und 2018 um 321 Prozent gestiegen sind. Kein Wunder, schließlich steigt auch die Zahl der Single-Haushalte. Wer meistens allein isst, schätzt dabei eben auch mal die Gesellschaft anderer.

Dabei sind die Gründe fürs Alleinessen so vielfältig wie die Brotauswahl im Steirereck (wo man übrigens als Einzelperson aufs Herzlichste verwöhnt wird). Jemand möchte sich auf Geschäfts-reise mit einem opulenten Menü belohnen. Einer hat niemanden im Freundeskreis, dem ein Besuch im Drei-Sterne-Lokal mehrere hundert Euro wert ist. Wieder eine andere will das kulinarische ­Erlebnis ohne banale Alltagsgespräche genießen oder, wie es die Wienerin formuliert, ohne „die neueste Speib-Story von Julias Dreijährigem oder die Beziehungsprobleme von Anna“. Unnötig zu erwähnen, dass Essen ohne Gesellschaft die Konzentration auf völlig andere Art fördert. Ach ja, man muss dann auch nicht das Dessert teilen. Das Klischee vom Tester ist übrigens Quatsch: Meistens kommen gerade die mit einer Begleitperson. Der verstorbene Wolfram Siebeck mit seiner Ehefrau Barbara etwa (auch weil er, laut Lahrer Zeitung, seinem Urteil nach Getränkekonsum nicht mehr alleine trauen wollte) oder der ebenfalls stets in Begleitung seiner Frau herumkrittelnde FAZ-Kritiker Jürgen Dollase. Dessen Grundregel übrigens lautet: „Beim Akt des Essens schweigen wir. Da ist die Konzentration zu hundert Prozent auf die Gabel gerichtet. Wer beim Essen schnattert, der kann auch Pappe essen.“

Und wer allein isst, kann Papier lesen. Neben Essen und Schlafen ist Lesen eine der schönsten Tätigkeiten der Welt, warum nicht beides verbinden? Manche Restaurants sind genau darauf eingestellt. Im Berliner Nobelhart & Schmutzig stehen Werke über Techno, Rassismus, Naturwein und Tante ­Linas Kriegskochbuch – Rezepte einer ungewöhnlichen Frau, in schlechten Zeiten zu überleben. Eine Bibliothek gibt es auch in Stuttgarts heimeligstem Sternerestaurant.

Fragen wir noch mal bei Petra B. nach: „Nur in der Wielandshöhe fühlte ich mich wohl: Ich bekam etwas zu lesen (kulinarische Themen, sehr passend), und Vincent Klink antwortete auf mein diesbezügliches Lob, es gäbe für ihn nichts Besseres, als allein mit guter Lektüre zu essen.“ Von wegen Solomangarephobia: Der Maultaschengott hat verstanden, dass ein himmelweiter Unterschied besteht zwischen den Smartphonedaddlern und jenen, die genau ,daraus Genuss ziehen: dem von anregender Lektüre begleiteten Alleinessen. Dafür müsste ein Begriff erfunden werden.