Essen als Gesamterlebnis

Von der Ernährung außer Haus. Ein historischer Abriss von der Antike bis heute.

Essen als Gesamterlebnis

Text: Sonja Stummerer & Martin Hablesreiter

Mit rund 660.000 offiziell eingetragenen Gastronomiebetrieben besitzt Österreich ein breites Spektrum an gepflegter Gastlichkeit. Allein in Wien beleben etwa 200 Neueröffnungen jährlich die Branche. Das reichhaltige Angebot schließt Schäferpicknicks im Altwiener Bergbauernhof ebenso wenig aus wie Austernschlürfen im orientalischen Dampfbad oder einen Besuch im 1447 gegründeten Griechenbeisl, der ältesten Wirtsstätte (Ausschank) der Stadt. In jenen Tagen war man allerdings weit davon entfernt, sich als Restaurant zu bezeichnen, geschweige denn ein solches zu sein.

Zwischen römischen Thermopolia und Frankfurter Küche

Das Konzept, warme Mahlzeiten in eigens dafür gestalteten Räumlichkeiten zu servieren, existierte schon im römischen Reich. Allein im Stadtgebiet von Pompeji wurden bei Ausgrabungen etwa 160 Kneipen und Garküchen, sogenannte Thermopolia, gefunden. Fremdgekochtes zu essen, bedeutete keineswegs Luxus, Geselligkeit und Zeitvertreib, sondern diente der alltäglichen Ernährung. Von der Antike bis ins Mittelalter kaufte man warme Mahlzeiten in Garküchen oder an Straßenständen, denn private Küchen waren Mangelware. Unsere Einbauküche wurde erst 1926 von der Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky erfunden. Zurück nach Rom: Die erstandenen Speisen wurden auf Tischen vor den Thermopolia oder im Stehen verzehrt oder eingepackt und mitgenommen. Gut vorstellbar, dass die alten Römer ihr Mittagessen ebenso auf den Stufen vor dem Senat verspeisten, wie es Broker heutzutage vor der Wall Street in New York oder in der Londoner City tun. Viele Gaststätten hatten auch mehr oder weniger ansprechende Speiseräume, doch weder in kulinarischer noch in atmosphärischer Hinsicht genossen sie einen besonders guten Ruf. Repräsentativ speiste man zuhause. Für weibliche Gäste waren die Lokalitäten ohnehin tabu.

Von englischen Trinkstuben und französischen Suppenlokalen

Nach dem Zerfall des weströmischen Reiches starb die Idee, gekochtes Essen gegen Geld zu servieren – vorläufig – aus. Erst im Laufe des 16. Jahrhunderts kamen die Wirte englischer Trinkstuben auf die Idee, Essbares auch zum Verzehr in Innenräumen anzubieten. Vermutlich haben Reisende danach verlangt. In London offerierten die Besitzer von Alehouses, Tavernen und diversen Inns ihren Gästen von nun an nicht mehr nur alkoholische Getränke, sondern auch einige dazu passende Gerichte. Die Angelegenheit war eher rustikal, man saß gemeinsam an großen Holztischen. Gegessen wurde, was auf den Tisch kam.

Es sollte noch einige Generationen lang dauern, ehe Noblesse und Gastronomie endlich zusammenfanden. Die Geschichte des Restaurants ist umstritten. Die beliebteste Legende besagt, dass 1765 – natürlich in Paris – eine Lokalität namens Boulanger ihre Pforten geöffnet hat. Es wird gern als erstes Restaurant der Welt dargestellt und soll eine Suppenküche gewesen sein, die in erster Linie der Gesundheit ihrer Gäste dienen wollte.

Serviert wurden angeblich Obst, Molkereiprodukte und nahrhafte Bouillons. Letztere verliehen der gerade neu entstandenen Institution schließlich auch ihren Namen, denn die stärkenden Suppen, die die körperlichen Kräfte restaurieren sollten, trugen den Beinamen restaurant. Tatsächlich existieren keine Beweise über die Existenz dieses Gastronomiebetriebs. Nachgewiesen ist eine Pariser Lokalgründung von Mathurin Roze de Chantoiseau 1766. Demzufolge könnte er der erste Restaurateur gewesen sein.

Anschreiben in stylishen Upper-Class-Restaurants

Die Idee machte Schule, die neuartigen Speiselokale sprossen an allen Ecken aus dem Boden und kredenzten schon bald nicht mehr nur warme Brühen. Schon um 1800 sollen an die 600 Restaurants in Paris existiert haben. Die jungen Betriebe unterschieden sich von den althergebrachten Wirtsstuben vor allem durch die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Speisen auswählen zu können, sowie durch ihre architektonische Gestaltung. Den einzelnen Gästen wurden individuelle Tische zugestanden, die Speisesäle mit Kunstgegenständen und aufwendigen Dekorationen geschmückt. Das Auge isst ja bekanntlich mit, und so zierten alsbald riesige Spiegel die Räumlichkeiten, die dadurch heller und großzügiger wirkten. Die Gastronomie hatte den Sprung von der einfachen Ausspeisung zum kulinarischen Gesamterlebnis vollzogen. Zwischen den einzelnen Etablissements entstand ein regelrechter Wettkampf hinsichtlich Prunk und Ausstaffierung. Als 1780 auch Frauen Zutritt zu den neuen Restaurants erhielten, entwickelten diese sich rasch zu einem beliebten Treffpunkt für allerlei Liebschaften, was die Dekorationslust nur noch weiter anspornte. Nicht ganz zufällig fällt der erste Entwicklungsschub des Restaurants in die Zeit der Französischen Revolution, als durch die Auflösung des Adels viele Dienstboten, darunter auch Köche, ihre höfische Anstellung verloren und nach alternativen Berufsmodellen Ausschau hielten.

Für lange Zeit blieb das Vergnügen eines Restaurantbesuchs der betuchten Oberschicht vorbehalten. In gediegener Atmosphäre auswärts zu speisen, war ein Vergnügen der oberen Zehntausend, ein Umstand, an dem auch die kommenden zwei Jahrhunderte wenig änderten. Denn echte Breitenwirkung erzielte die Gastronomie im heutigen Sinn erst viel später einige tausend Kilometer westlich von Paris: nach dem Zweiten Weltkrieg in New York. Nicht zuletzt die gesellschaftliche Vielfalt des big apple resultierte im – bis heute anhaltenden – Trend, Rezepturen aus aller Herren Länder auswärts zu konsumieren. Plötzlich war es möglich und stylish, zwischen koscher, halal, buddhistischer Fastenspeise oder Burgerbude auswählen zu können. Eine Idee des New Yorkers Frank McNamara gab der kulinarischen Szene einen weiteren, kräftigen Impuls. Er erfand 1950 die Kreditkarte, die nicht umsonst bis heute den Namen diners club trägt. Eine professionalisierte Form von anschreiben lassen.

Gesellschaftliches Parkett, Alltagskulissen und Gesamterlebnis

Immer effizientere Kühl- und Transportsysteme am Nahrungsmittelsektor sowie die steigende Nachfrage nach internationalen Rohstoffen taten ihr Übriges zur Belebung der Branche. Essen zu gehen wurde nun auch für die Mittelschicht erschwinglich und in Folge zu einer beliebten Freizeitbeschäftigung. Ob zum romantischen Date in Little Italy, wie einst Susi und Strolchi, oder zum Sehen und Gesehenwerden in Robert De Niros Nobu in TriBeCa: Wie einst die Restaurants in Paris mutierten nun auch jene in New York zum gesellschaftlichen Parkett und zu Orten persönlicher Selbstdarstellung. Inneneinrichtung und Dekor spielten dabei eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie das Essen selbst. Zahlreiche Filmemacher entdeckten die Repräsentationsfähigkeit von Restaurants, die nun immer öfter als Kulissen dienten. In Broadway Danny Rose etwa setzte Woody Allen seinem Lieblingsrestaurant Carnegie Delicatessen ein filmisches Denkmal, und auch die Damen von Sex and the City trafen einander mit Vorliebe im Designerlokal.

Das Konzept des Restaurants als Alltagskulisse beziehungsweise als Gesamterlebnis wurde aber nicht von New Yorker Designern perfektioniert, sondern von den angeblichen Feinden der Gastronomie: Die Idee des einheitlichen Designs von Speisenauswahl, Logo, Servicepersonal, Möbeln, Musik, Ambiente und Architektur wurde von Fastfood-Restaurants in den USA angestoßen. 1920 eröffnete in den Vereinigten Staaten das White Castle, das erste Lokal, das mit seiner speziellen Gestaltung warb. 1926 folgte dann der White Tower vom selben Unternehmer, ehe 1940 die erste Filiale von McDonalds eröffnete. Mit den sogenannten Family-Restaurants, die ein Mann namens Ray Kroc für den heutigen Fastfood-Riesen erfand, entstand ein völlig neuer, hierarchieloser Typus von Speiselokal. Er beinhaltete die erste Schauküche der Welt und war auch sonst eine Symbiose aus kulinarischem Angebot‚ Ambiente und Zeitgeist. Der abgerundete smoothe-Burger passte exakt zu Dinerästhetik und Cadillac.

Als der englische Koch Heston Blumenthal viel später auf den Londoner Designer Brent Richards traf, hatte er ein winziges Restaurant in Brey und viele Ideen für neue Zubereitungsmethoden. Gemeinsam erarbeiteten Blumenthal und Richards ein kulinarisches Gesamtkonzept, aufbauend auf der magischen Welt von Alice im Wunderland. Heston Blumenthal wurde als Magier hingestellt. Einrichtung, Besteck, Geschirr und natürlich die Gerichte selbst wurden allesamt hinterfragt, neu interpretiert und einem märchenhaften Relaunch unterzogen. Man wollte ein Gesamtkunstwerk schaffen und wähnte sich dabei in guter Gesellschaft, wollten doch allerorts Kochstars wie die Gebrüder Rocca, Michel Bras oder Joel Robuchon ihre kulinarischen Neuentwicklungen in passendem Ambiente serviert wissen. Selbst Alain Ducasse ließ sein altehrwürdiges Pariser

Restaurant Plaza Athénée kürzlich neu designen. Das ist auch gut so, denn nichts ist irritierender als zeitgemäße leichte Küche, die von Dirndlträgerinnen in bauernstubenartigen Restauranträumlichkeiten serviert wird.