Fast alles geht

Notizen von der Madrid Fusión 2015, der wohl interessantesten kulinarischen Ideenschau Europas. Der neuen fröhlichen Kombinationslust ist nichts mehr heilig. Schokolade mit Kaviar war gestern. Roter Burgunder, gewürzt mit Salz und Chili, ist die aktuelle Aroma-Verheißung. Die Winzer grämt’s, dem aufgeschlossenen Gast schmeckt’s womöglich.

Text von Christian Grünwald

Auf der Madrid Fusión treffen sich alljährlich Küchenchefs, die in der modernen High-Level-Cuisine an vorderster Front mitspielen wollen und etwas zu sagen haben. Wobei die Ansage nicht in theoretischen Diskussionsrunden, sondern in aufwendigen Präsentationen auf einer riesigen Bühne getroffen wird. Dass ein dreitägiger Event wie dieser in Madrid stattfindet, ist logisch, wenn man sich die Entwicklung der Spitzengastronomie in den letzten Jahrzehnten vergegenwärtigt. Nirgendwo sonst als in Spanien wurde kulinarisch mit soviel Innovationskraft agiert. Ferran Adrià löste mit seiner Arbeit eine Revolution aus, ohne die die neue skandinavische Küche als eine Art Gegenentwurf erst gar nicht denkbar gewesen wäre. Bei der Madrid Fusión seine Ideen zu präsentieren, ist nicht nur für die vielen spanischen Spitzenköche ein erklärtes Karriereziel. Eine ähnlich aufgeschlossene Audienz erhält man sonst nur noch bei den von Port Culinaire betreuten Chefsache/Chefs(r)evolution-Events in Köln und Zwolle.

Für David Muñoz verhält sich der Getränkesektor in der Spitzengastronomie seit Jahren bemerkenswert statisch. Während beim Zubereiten und Servieren von Speisen in Restaurants wie seinem „DiverXo“ in Madrid permanent neue Wege gesucht werden, geht man in der Sternegastronomie selten über kühne Foodpairing-Kombinationen hinaus. Da serviert man Natural Cider zu karamellisiertem Popcorn und Mozzarella, Mais-Panna-Cotta wird von Oloroso-Sherry begleitet. Und warum nicht gereiften Champagner zur Garnele servieren und einen Single Malt zu Seeigel?

Der für manche Ohren ketzerische Ansatz von Muñoz: „Wein wird ausschließlich als fertiges Produkt angesehen. Aber ist er das wirklich? In der Küche vermählen wir dauernd verschiedene Dinge miteinander, warum also nicht auch bei den zu Essen servierten Getränken.“ So passt also nun der DiverXo-Sommelier die Getränke nuancenreich an die Speisen an, stellt im Grunde revolutionär neue Cocktails her. Der Cider erhält mehr Körper mit ganz wenig Sake und wird von einem Hauch Calvados gekrönt. Trockener deutscher Riesling bekommt durch eine Prise Maldonsalz eine attraktive Mineralität, die perfekt zu einer Minitortilla mit Sardelle passt. Der Riesling wird aber auch zum neutralisierenden Getränk zwischen den Gängen als „Riesling sour“ mit etwas Tangerine und einem Hauch Jalapeno-Chili. Ein Tokajer erhält mit etwas Zimt, Koriander und Orangenschale einen orientalischen Touch, wie er heute gut in jede global angesagte Speisenfolge passt.
Vor dem geistigen Auge sieht man schon zornige Winzer, die angesichts der Freveltaten die Lieferung der Weine verweigern und die Reinheit der Kultur beschwören. Aber kann das Bessere tatsächlich der Feind des Guten sein? David Muñoz erzählt von einem neuseeländischen Shiraz, der im warmen Backrohr 6 Stunden lang mit schwarzen Oliven mariniert wird. „Schon der ursprüngliche Wein hat ein deutliches Olivenaroma. Wir verstärken es lediglich. Und der Wein schmeckt grandios zu Fleisch.“

Mitunter erreicht man veränderten Geschmack auch mit profaneren Mitteln, indem der Sommelier dem Gast einfach mit einer Pipette nur ganz wenig einer Spirituose auf die Zunge träufelt. In einer Austernschale servierter Weißwein verändert seinen Charakter ebenso dramatisch wie Wein, der aus einem zuvor mit Salzwasser benetztem Glas getrunken wird. Letzteres bringt übrigens besonders bei Rotwein verblüffende Effekte. Und falls bei einem Roten einmal die fruchtigen Beerentöne gar zu aufdringlich wirken: Mit ganz wenig Traubenkernöl zugesetzt wirkt der Wein gleich wesentlich eleganter.

Muñoz schwärmt von eher spröden roten Burgundern, die im Sinne der angestrebten Optimierung enorm viel Power durch die Zugabe von ein wenig Chili und Salz erhalten: „Der heiße Touch öffnet den Wein, macht ihn zugänglicher.“
Wenn die praktizierte Idee nicht von David Muñoz käme, könnte man sie eventuell als kreative Spinnerei abtun, aber sein „DiverXo“ gilt zurecht als einer der besten kreativen Restaurant-Hot Spots weltweit.

Kombinationen als Wissenschaft

In der neu erblühten Bartenderszene ist Foodpairing mittlerweile eine gängige Sache. Die Kombination von Aromen erfordert analytisches Verständnis und Mut. Foodpairing bedeutet, dass Speisen und Getränke aufgrund übereinstimmender Schlüsselaromen zusammenpassen. Wenn dieses Prinzip bei Cocktails erfolgreich angewandt werden kann, muss es auch in der Küche funktionieren. So kommt es, dass Jasmin und Leber großartig miteinander harmonieren oder auch Schokolade mit Kaviar hervorragend geht. Das fand zumindest Heston Blumenthal schon vor Jahren und bekam keine wirklich befriedigende wissenschaftliche Antwort darauf, ehe er die Gründer von foodpairing.com kennenlernte. Dort wusste man, dass die Hauptaromen von Kaviar mit denen von Schokolade identisch sind und der Kaviar auch durch Austern ersetzt werden kann. Auf der Homepage der in Belgien gegründeten Foodpairer kann man sich mittlerweile individuelle Kombinationen erstellen lassen. Die gegrillte Gänseleber mit Mandeln und Kirschen ist zum Beispiel so im „Fat Duck“ entstanden.

Nichts ist unmöglich und es schmeckt mehr scheinbar Gegensätzliches als es unser kulturelles Grundverständnis aufs Erste zulässt. „Aromadefinition ist wie Gesichtserkennung. Schwierig im Detail zu erklären, aber in Kenntnis der Dinge assoziativ machbar“, meint Bernard Lahousse von www.foodpairing.com.

Andoni Luis Aduriz, mit seinem Restaurant „Mugaritz“ wohl der Radikalste unter den spanischen Kreativen, weiß um die Kunst des Reduzierens am Teller und sieht es als ein Leichtes, Cocktails oder gar puren Drinks die entsprechende Speisenbegleitung an die Seite zu stellen. Er empfiehlt zum klassischen Martini gegrillte Erdbeeren mit Krabbenfleisch: „Die meisten Drinks brauchen einfach Frucht und etwas Süße.“ Und falls Sie es noch nicht wussten: „Wenn Butter erhitzt wird, entsteht das gleiche Molekül, das auch Erdbeeren haben.“ Für Aduriz bedeutet Kreativität „kleine Wunder zu schaffen. Erfinde das Unmögliche. So wie auf dem Wasser gehen, oder auch eine optische Täuschung zu entwerfen.“ Im „Mugaritz“ wird derlei zuhauf serviert: Eine Crema catalana, die in Wahrheit Hummercreme mit Hühnerhaut ist. Oder ein Tuch, das aus Apfelessenz und Blüten hergestellt wird. Aduriz weiß auch, wann kreative Aggregats- und Konsistenzverfremdungen nicht funktionieren: „Man kann das nur mit Speisen beziehungsweise Produkten machen, die schon in unserer Kindheit geschmacklich positiv besetzt waren.“

Cocktails statt Wein
Die schöne neue alkoholisch dominierte Küchenwelt reicht bis nach Finnland. Timo Siitonen und Kasper Salomäki vom „A21-Dining“ in Helsinki haben ihre Cocktaillounge schrittweise zum Restaurant umfunktioniert, und es so immerhin auch auf die Bühne der Madrid Fusión geschafft. Timo, der Mixologist, stellt den Speisen reichlich Hochprozentiges zur Seite. „Letztlich bleibt im Kopf, welche Geschichte du erzählst. Wir beziehen unsere aus den Produkten des recht kurzen finnischen Sommers. Da gibt es reichlich Beeren und Kräuter, die auch für den langen Winter reichen müssen.“ Als natürlichen Mitbewerber um diese Ingredienzen sehen die beiden das Rentier, das in den Weiten des Nordens mehr oder weniger frei herumvagabundiert. „Im Prinzip landet bei uns alles auf dem Teller, was ein Rentier in Lappland isst. Plus dem Rentier selbst.“ Das im A21 empfohlene Überraschungsmenü umfasst enorm viele kleine Gänge, die unterschiedlich aufwendig zubereitet sind. Ein wenig wirkt das wie aufwendiges Fingerfood bei einer Cocktailparty. Nicht wenige Drinks sind, ganz dem skandinavischen Grundthema verpflichtet, mit reichlich Wodka versehen. Wer mag, kann auch alkoholfreie Cocktails als Begleitung ordern.

Kolumbien: Südamerika mit einem Schuss Afrika
Aber ob man sich so ganz ohne Alkohol auch noch soviel Begeisterung für die ungezügelte Kombinationswut der modernen Gastronomie empfindet?
Leonor Espinosa aus Kolumbien kennt die Sache mit den Drinks ausgiebig von daheim. „Bei uns haben alle Rohrzucker-Drinks einen hohen Stellenwert. Sie machen dich fröhlich und bauen dich in jeder Hinsicht auf. Schließlich hat Sex in der Karibik eine enorm wichtige Bedeutung.“ Espinosa sagt das mit matriachalischer Ironie. Sie tritt wie viele Frauen von dort äußerst energisch und selbstbewusst auf. Die Küchenchefin des „Leo Cocina y Cava“ in Bogotá ist halb irisch (darum auch die roten Haare) und mit sehr viel Musik gekoppelt. Cooking with a twist. Ähnlich wie Peru besitzt Kolumbien eine enorme Produktdiversität bei Kräutern, Obst und Gemüse. Die Kultur des Landes und Teile der Kulinarik gehen auf afrikanische Wurzeln zurück. Dementsprechend ist die derzeitige Neudefinition auch eine deutliche gesellschaftspolitische Ansage mit Zitaten, die nicht allen Kräften im Land passen. Wer etwa das aus Koriander, Oregano, Basilikum und Kokosnuss bestehende Grundaroma mit Fischen und Muscheln aus den Mangroven genauer betrachtet, entdeckt ein neues faszinierendes Kolumbien, dessen Küche im Zuge des allgemeinen Südamerikabooms in nächster Zeit noch viel von sich hören lassen wird.

Britpop
Wenn der junge Tom Sellers die Madrid Fusión-Bühne entert, erinnert er in der Erscheinung ein wenig an britische Popstars, ein Nerd zwischen Liam Gallagher und Damon Albarn. Sellers ist 27 Jahre alt, hat sein Londoner Restaurant „Story“ innerhalb von wenigen Monaten zum ersten Michelin-Stern hochgekocht. Seine Biografie liest sich wie ein Karrieremärchen: Mit 16 kochte er in einem Pub, landete schon kurz danach bei Tom Aikens, wo er alles über Spitzengastronomie lernte, ehe er zwei Jahre im „Per Se“ bei Thomas Keller arbeitete. Ein Jahr in René Redzepis „Noma“ diente dann sozusagen noch als Perfektion. Alles Menschen mit starker Identität und das sei auch ganz entscheidend für die eigene Karriere, meint Sellers, der stets für feine Sager gut ist. „Umami hin oder her, dein Gedächtnis ist oft stärker als das, was du aktuell am Teller hast. Und ich bin bei armen Leuten aufgewachsen. Darum will ich irgendwann einmal die beste Kartoffel der Welt kochen.“

Ein cooler britischer junger Mann – locker, goschert, aber auch ernsthaft in der Sache und mit sensiblen Küchenassoziationen zu seinem unmittelbarem Umfeld. Das Restaurant heißt so, weil jedes Gericht eine Geschichte erzählen möchte. Wer im „Story“ Platz nimmt, bekommt zur Begrüßung eine brennende Kerze, einige Geleewürfel und selbstgebackenes Brot. Die Kerze besteht aus Rinderfett. Das Gelee ist eine kräftige Consommé. Radikal und sehr persönlich zugleich. „Die Kerze steht am Restauranttisch wie Butter, ist so etwas wie das Licht meiner Kindheit. Nach dem Wochenendbraten gab’s dann eben den Rest der Woche das Bratfett. Die Kerze verhieß auch Wärme, dazu der satte Geruch des Fetts.“
Tom Sellers ist davon überzeugt, „dass gutes Essen nicht bloß eine Frage der finanziellen Möglichkeiten ist. Du kannst dir ja nicht aussuchen, wo du zur Welt kommst, wie du aufwächst. Aber du kannst aufmerksam durch die Natur gehen, von einem Spaziergang in Wales oder Schottland jede Menge Zutaten für wenig bis gar kein Geld mitbringen. Und bedenke: Was du heute isst, ist morgen ein Teil von dir.“
Ah, und „die beste Kartoffel“ wird derzeit im Ofen gebacken und dann mit reichlich Butter serviert.

Gesundes Fast Food
Das Gefühl, im Restaurantgeschäft womöglich eine positive Kleinigkeit für die Welt mitbewegen zu können, trägt auch Daniel Patterson in sich. Der kalifornische Küchenchef weist auf die Schattenseite des kulinarischen Themas hin. „Viel zu viele Menschen in den USA haben nicht genügend zu essen, haben keinen Zugang zu frischen, gesunden Lebensmitteln. Derlei passiert in Kalifornien, oft nur wenige Kilometer von den reichsten Regionen der westlichen Welt entfernt.“
Es ist eine schlimme Bilanz, im katastrophalen Gegensatz zur Sternegastronomie. Patterson berichtet von Fast Food der übelsten Sorte, von ganzen Bezirken, wo es aber auch nur solche industrialisierten Lebensmittel zu kaufen gibt. „Dieses Essen ist eine Art von Gift.“

Um das zu ändern, braucht es komplett veränderte Ernährungsgewohnheiten. „Das Essen sagt zu diesen Leuten ,wir kümmern uns nicht um dich‘“, sagt Patterson, „das ist der Unterschied zur Romantik, in der dir die Großmutter das Essen zubereitet.“ Das bessere Essen darf allerdings nicht mehr kosten, als jenes vom Fast-Food-Anbieter. Und an diesem Punkt setzt die von Patterson und seinem Kochkollegen Roy Choi gegründete Initiative „Loco’l“ an. Mittels Crowdfunding möchte man eine Kette von gesunden Fast-Food-Lokalen aufziehen, die gutes Essen zu einem Preis von weniger als 5 US-Dollar anbietet. Die ersten beiden Restaurants in Los Angeles und San Francisco haben vor kurzem eröffnet. Patterson hofft, dass es bald 20 sind (www.welocol.com). Es ist wichtig, dass die Madrid Fusión auch für derartige Projekte eine Bühne ist.

Spanien-Fan Robuchon
Jahrhundertkoch Joël Robuchon gab der Madrid Fusión dieses Jahr die Ehre – was in Anbetracht der mittlerweile etablierten spanisch-französischen Gastronomie-Rivalität als tatsächlicher Ehrenbeweis gilt. Was nur wenige wissen:
Robuchon hat in Alicante seine zweite Heimat, lebt einen Teil des Jahres dort. „Für mich sind die Küche und die Produkte hier nach Frankreich das Beste, was man bekommen kann.“ Und vor allem schätzt er den auf der iberischen Halbinsel gepflegten Lebensstil. „In schönen Sommernächten bis in den nächsten Morgen hinein zu sitzen und dabei auch noch zu jeder Zeit gut zu essen und zu trinken – das kenne ich so nur in Spanien.“ Sogar Paella wird von Robuchon hoch geschätzt, allerdings nur wenn sie von Rafael Vida in Valencia kommt. „Der bereitet sie am offenen Barriquefeuer zu.“

Ganz entfernt haben die „Ateliers de Joël Robuchon“ ja auch etwas mit dem Typ einer klassischen spanischen Tapas-Bar zu tun. „Das stimmt, aber bei der Premiere im Jahr 2004 in Tokio haben wir uns allerdings noch mehr an der japanischen Sushi-Bar orientiert. Die Idee bestand vor allem darin, vor den Augen des Gasts zu kochen.“ Heute würde eventuell auch eine Tapas-Bar als Vorbild dienen. „Bei aller Würdigung der Verdienste der aktuellen spanischen Cuisine: Die Zukunft sehe ich in einer modernen Version einer qualitativ hochstehenden Tapas-Bar.“ Was die können muss? „Das Wichtigste ist das Konzept, von überall das Beste zu haben – bei der Zubereitung, bei den Produkten und natürlich auch im Service. Und da ist dann auch noch die Atmosphäre – die ist in einem Restaurant so wichtig wie das Essen.“